Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen15. Februar 2023
Ein Lob der GroßmütterSie halten den Laden am Laufen
Der spätere Nachtmittag ist die Zeit der Großmütter. Das sagt der Blick aus meinem Fenster. So gegen 16 Uhr kommen die Kinder zurück aus der Kita – an der Hand der Oma. Die Eltern – in unserer Wohngegend sind das Zentralbankerinnen, Anwälte, Industriemanager – sind um diese Zeit noch bei der Arbeit.
Die fast flächendeckende Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen macht die Großeltern keinesfalls überflüssig. Die decken die Randzeiten ab, sind zur Stelle, wenn eines der Enkelkinder krank ist oder beide Eltern auf Dienstreise außer Landes. Ohne Oma und Opa läuft hierzulande gar nichts.
Seit Jahren hören wir, meist mit zivilisationsskeptischem Unterton, die Großfamilie sei tot. Der Allerweltsatz zitiert die Idylle irgendeiner Vorzeit, wo drei oder mehr Generationen unter einem gemeinsamem Dach gelebt haben. Ob es je so war, sei dahingestellt. Meine Großeltern sind in den späten fünfziger Jahren in ein kleineres Häuschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezogen, nachdem einer der Söhne mit seiner Familie den Handwerksbetrieb des Opas samt Elternhaus übernommen hatte.
So ähnlich ist das überraschenderweise heute immer noch. Die Großeltern wohnen in erreichbarer Nähe, können also die Enkeldienste ohne größeren Aufwand übernehmen. Eine meiner vitalen Großmutterfreundinnen, wohnhaft im Rheinland, hat sich jetzt in Berlin in der Nähe ihrer Enkelbuben eine kleine Zweitwohnung genommen. Sie behält ihre Unabhängigkeit, geht der jungen Familie (beide sind Architekten und seit kurzem selbständig) nicht auf die Nerven, ist aber zur Stelle, wenn sie gebraucht wird. Und wenn nicht, geht sie ins Museum.
Vor längerer Zeit habe ich in dieser Kolumne ein Lob der Hausfrau geschrieben. Dafür bin ich von allem emanzipierten Zeitgenossinnen (m/w/d) als stockkonservativer Knochen abgeschrieben worden. Seither habe ich die Finger von Familienthemen gelassen. Doch nun ist es Zeit für ein Lob der Großeltern. Die empirische Datenbasis verdanke ich dem britischen »Economist«, der vor ein paar Wochen das »Zeitalter der Großmutter« (»Granny nannying«) ausgerufen hat und erstaunt feststellte, dass das bislang noch niemandem aufgefallen ist.
Wachsendes Granny-Angebot
Aber erst einmal zu den sozioökonomischen Daten. Die Alterung der Gesellschaft führt quasi auf natürliche Weise dazu, dass das Großelternangebot seit Jahren wächst. Die Lebenserwartung weltweit hat sich seit 1960 von 51 auf 62 Jahre verlängert. Viele Rentner sind topfit. Weltweit gibt es inzwischen 1,5 Milliarden Großeltern, 1960 waren es noch 500 Millionen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist von 17 auf 20 Prozent angewachsen. Schätzungen erwarten, dass die Großelternschaft im Jahr auf 2,1 Milliarden (22 Prozent) anwachsen wird.
Dem Angebot an Großeltern korrespondiert zahlenmäßig ein Rückgang der Nachfrage, es weniger Babys gibt. Im genannten Zeitraum seit 1960 fiel die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Mutter zur Welt bringt, von fünf auf 2,4 (ebenfalls weltweit). Daraus lässt sich eine Großeltern/Baby-Quote errechnen. Das ist die Zahl der Omas und Opas, die auf ein Enkelkind kommt, woraus man zugleich auf eine zunehmende Betreuungs- oder Aufmerksamkeitsintensität für die Enkel schließen kann. Diese Quote – präzise: Großeltern bezogen auf Kinder unter 15 Jahren – stieg seit 1960 von 0,46 auf heute 0,8.
Im internationalen Vergleich sind die Kinder betreuenden Großeltern unterschiedlich verteilt. Während in Belgien über 60 Prozent der Großmütter sagen, sie betreuten regelmäßig ihre Enkel, sind es in Bulgarien knapp 30 Prozent. In Frankreich oder Israel, Ländern mit angeblich flächendeckender staatlicher Kinderbetreuung, muss jede zweite Oma regelmäßig ran. Wer hätte das gedacht!
Angela Merkel hat während der Corona-Pandemie jene Mitbürger gefeiert, »die den Laden am Laufen halten«. Sie nannte die Kassiererinnen an den Supermarktkassen als Beispiel. Generell und ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es die Großmütter sind, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft am Laufen halten. Ohne sie liefe deutlich weniger. Vor allem wären ohne sie deutlich weniger junge Mütter erwerbstätig. Der »Economist« zitiert eine Untersuchung der Washington University, wonach die Berufstätigkeit für verheiratete Frauen mit kleinen Kindern um bis zu zehn Prozentpunkte zunimmt, wenn eine Großmutter im Umkreis von 25 Kilometern lebt. 25 Kilometer sind in den USA bekanntlich noch Nachbarschaft. Vergleichbare Untersuchungen gibt es für Deutschland (noch) nicht. Gesichert scheint aber zu sein, dass die Teilzeit-Großelternbetreuung den Kindern lebenslang guttut. Unklar ist allenfalls, ob die sprichwörtlich weniger strengen Omas und Opas auch dazu beitragen, dass Kinder heute dicker sind als früher.
Und was ist mit den Großvätern?
Und was ist nun mit den Großvätern? Sie lassen sich weniger in die Betreuungspflicht nehmen als die Großmütter. Ob sie sich fein raushalten oder ob die Großmütter ihnen die Enkel vorsorglich lieber nicht anvertrauen, harrt noch der Aufklärung. Gleichmäßig scheint der Enkelbetreuungsjob jedenfalls nicht verteilt zu sein, obwohl mir gesprächsweise auch einige Vorzeige-Opas im Dauereinsatz angepriesen wurden. Ein Fall von Verteilungsungerechtigkeit? Die Omaemanzipation hat noch viel zu tun.
Aber immerhin: Indirekt sind auch die Opas nützlich. Eine Untersuchung des »Max-Planck-Instituts für demographische Forschung« in Rostock hat herausgefunden: Ein Jahr nachdem Großväter in Deutschland in Frührente gehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder, also die Elterngeneration, ein zweites Kind bekommen um 17 Prozentpunkte. So sind also auch die Opas daran beteiligt, dass die Fertilitätsrate hierzulande nicht noch weiter absackt. Der Renteneintritt der Großväter habe sogar größeren Einfluss auf die Familienplanung der Elterngeneration als der Renteneintritt der Großmütter, sagen die Max-Planck-Forscher – freilich bloß deshalb, weil die Großmütter häufig Teilzeit arbeiten und schon vor der fälschlich Ruhestand genannten Lebensphase viel Zeit für die Betreuung der Enkel aufbringen.Wie kommt es, dass über die gesellschaftliche Leistung der Großmütter für den sozialen Zusammenhang im Land öffentlich kaum geredet und geforscht wird? Diese Leistungen gibt es sozusagen frei Haus. Die Großeltern verlangen kein Enkelbetreuungsgeld vom Staat, was die Schuldenquote des Finanzministers schont. Sie beschweren sich generell nicht (oder nur selten). Als ob Familienpolitik, Vereinbarkeitskonzepte oder Arbeitsmarktpartizipation immer nur vom Staat initiiert und bezahlt werden müssten! Die Politik ist hier gerade einmal nicht gefordert. Sie müsste lediglich gelegentlich die Leistung dieser Großeltern loben und preisen.
Rainer Hank