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  • 13. April 2021
    Ein Lob der Deutschen

    Statistisch lebt sie länger als er. Ist das gerecht? Foto: Karen Warfel/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum wir weniger Probleme mit der Ungleichheit haben als andere

    Wird Corona die Welt gleicher machen? Während in »normalen Zeiten« die Ungleichheit meist zunimmt, nivellieren Katastrophen die Einkommensabstände. Kriege, Revolutionen, Staatspleiten und Pandemien eint, dass die Vermögen der Reichen vernichtet werden und ärmere Schichten hinterher mehr Geld haben, weil – so zynisch es klingt – weniger Menschen da sind, die um Arbeitsplätze konkurrieren.
    Einiges spricht dafür, dass Corona nicht in dieses historische Schema fällt. Aktionäre freuen sich über Kursrekorde, wer keine Aktien besitzt, muss mit Kurzarbeitergeld zufrieden sein. Der Lockdown kommt einer Art von Zwangssparen gleich. Wer sonst Luxusreisen bucht, in Fünfsternehotels absteigt und teure Autos liebt, spart derzeit viel Geld. Die Welt wird nach Corona noch ungleicher sein als heute, zumal ärmere Länder unter Corona stärker leiden. Dieser Tage hat der Internationale Währungsfonds IWF gewarnt, die Kluft zwischen reichen und armen Ländern werde größer werden.

    Die Ungleichheit wird uns somit auch nach der Pandemie beschäftigen. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren im Anschluss an ein Sabbatical am MIT in Boston erzählte, ich wolle ein Buch über Ungleichheit schreiben, begegneten mir fragende Blicke. Heute würde ich Bedauern ernten: Haben wir nicht schon genügend Bücher über Ungleichheit?

    Die Daten sind eindeutig. Nach einer Phase der Einkommensangleichung in der Nachkriegszeit haben sich seit den achtziger Jahren die Reichen von den Armen statistisch immer weiter voneinander entfernt, dramatisch in den Vereinigten Staaten, mehr oder weniger moderat in Kontinentaleuropa. Bezogen im Jahr 1970 ein Prozent der Reichsten der Welt rund acht Prozent des gesamten Einkommens, bekommen sie inzwischen elf Prozent in Westeuropa und zwanzig Prozent in Amerika. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung verfügte 1970 über etwa zwanzig Prozent des Einkommens. Heute sind es nur noch 12,5 Prozent in Amerika und achtzehn Prozent in Europa. Man sieht, wie sich in rund fünfzig Jahren der angelsächsische vom kontinentaleuropäischen Kapitalismus entfernt hat. Zwar hat weltweit die Ungleichheit zwischen den Staaten abgenommen, innerhalb eines Landes hat sie aber zugenommen. Die globale Ungleichheit dreht sich heute (wieder) mehr um Klassengegensätze und weniger um nationale Unterschiede.

    Linke Salzwasserökonomen?

    Wer sich über den Stand des ökonomischen Wissens zur Ungleichheit zuverlässig informieren will, findet dazu gutes Material in einem gerade bei MIT Press erschienenen Sammelband, den die beiden Harvard-Ökonomen Olivier Blanchard und Dani Rodrik herausgegeben haben (»Combating Inequality«). Die Aufsätze gehen auf eine Ökonomen-Konferenz am Peterson Institute for International Economics in Washington vom Herbst 2019 zurück, also noch vor Ausbruch der Pandemie. Aber, wie gesagt, am Trend dürfte sich nichts ändern.

    Fast alle Beiträger des Sammelbandes sind der Meinung, es brauche politische Maßnahmen zur Linderung der Ungleichheit. Niemand warnt mehr davor, Egalisierungspolitik dämpfe das Wachstum. Eher dominiert die Ansicht, Ungleichheit selbst drossele das Bruttoinlandsprodukt, weil das wirtschaftliche Potential der Geringverdienenden nicht zur Entfaltung kommt und die Reichen Monopolrenten für sich kassieren. Die Vermutung, in einem Sammelband amerikanischer »Salzwasserökonomen« von der Ostküste dominierten – im Gegensatz zu »Süßwasserökonomen« der marktwirtschaftlichen Chicago-Schule – mehrheitlich linke Positionen, ist nicht ganz falsch. Indes: Wissenschaftler wie Greg Mankiw, Philippe Aghion, David Autor oder Daron Acemoglu, alle hier vertreten, sind mehr oder minder ideologisch abstinent.

    Ungleichheit gilt gemeinhin als »schlecht«, Gleichheit als »normal«. Der Harvard-Philosoph T.M (»Tim«) Scanlon korrigiert diese häufig achtlos gemachte Unterstellung mit ein paar hilfreichen Differenzierungen. Zunächst: Auf der Prioritätenliste des »Schlechten« ganz oben steht Armut, nicht Ungleichheit. Armut ist ein Skandal, Ungleichheit ist komplizierter – und intellektuell herausfordernder. Die Erfolge der Armutsbekämpfung mit Marktwirtschaft und rechtsstaatlichen Institutionen (besonders in Asien, vor allem in China) sollte niemand klein reden. Scanon macht den interessanten Versuch, problematische Ungleichheit von unproblematischer Ungleichheit zu scheiden. Unproblematisch findet er etwa die Tatsache, dass die Menschen in Skandinavien länger leben als in den Vereinigten Staaten. Die Amerikaner könnten daran ja etwas ändern, indem sie sich besser ernähren und sich mehr bewegen. Dass Frauen länger leben als Männer, lässt Scanon ebenfalls kalt. Sorgen würde er sich, wenn Männer länger lebten als Frauen. Denn das könnte darauf deuten, dass männliche Babys besser ernährt oder besser medizinisch versorgt würden.

    Wann ist Ungleichheit moralische gerechtfertigt?

    Darüber lässt sich im Einzelfall streiten. Der springende Punkt: Ob Ungleichheit gerechtfertigt ist, hängt vom institutionellen Rahmen und dem politischen Kontext ab. Eine Kommune, die bessere Straßen und Abwassersysteme nur für einen Teil seiner Bürger zur Verfügung stellt, hat ein moralisches Problem. Wenn ich aber von meinem Reichtum Oxfam mehr spende als der katholischen Kirche, dann ist das unproblematisch (umgekehrt wäre es philosophisch gesehen ebenfalls okay). Eine Gesellschaft, in der 99 Prozent das Gleiche haben, das letzte eine Prozent aber deutlich ärmer dran ist, findet Scanon dann problematisch, wenn diese Armen von der Mehrheit schlecht behandelt würden und gezwungen, sich ihrer Armut zu schämen. Umgekehrt hat eine Gesellschaft kein moralisches Problem, in der alle gleich sind, ein Prozent aber viel reicher ist, solange die Reichen ihr Geld ehrlich verdient haben und ihr Reichtum ihnen keine besondere Vormacht verleiht. Beide Gesellschaften unterscheiden sich übrigens nicht in Bezug auf das Maß der Ungleichheit (»Gini-Indikator«), werden aber gleichwohl moralisch unterschiedlich beurteilt.

    Deutschland kommt im Sammelband der MIT-Ökonomen überraschend gut weg. Der am University College in London lehrende Ökonom Christian Dustmann lobt die deutsche Exportindustrie und die IG Metall über den grünen Klee. Während die Vereinigten Staaten zwischen 2000 und 2018 aufgrund von Globalisierung und Automatisierung 23 Prozent ihrer Industriearbeitsplätze verloren haben, waren es hierzulande lediglich zehn Prozent. Amerika leidet unter China; die deutschen Arbeitnehmer hingegen profitieren von der chinesischen Nachfrage. Dustmann führt dies auf die betriebliche Öffnung des Tarifsystems zurück und auf die duale Ausbildung unserer Facharbeiter, die praktische Fertigkeiten, theoretisches Wissen und flexible Anpassung an neue Aufgaben erlaubt. Üblicherweise wird die relativ geringe Ungleichheit in Deutschland auf die Umverteilung von oben nach unten mit Steuern und Sozialabgaben zurückgeführt. In dieser Erklärung wäre sie Folge flexibler industrieller Arbeitsbeziehungen, welche der deutschen Wirtschaft größere Resilienz in der Globalisierung beschert. Originell ist diese Deutung allemal. Dustmann hat für seine Arbeiten gerade den mit 50 000 Euro dotierten Carl-Friedrich-von Weizsäcker-Preis der Leopoldina Akademie erhalten.

    Rainer Hank