Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen04. Dezember 2024
Ein Hoch auf PharmaKann die Abnehmspritze den schlechten Ruf der Branche drehen?
Der Fortschritt kommt mit großen Sprüngen daher. Erst drei Jahre ist es her, dass die Abnehmspritze Semaglutid des dänischen Pharmakonzerns Novo Nordisk seine Zulassung bekam. Inzwischen werden die Erfolge des Medikaments auf der ganzen Welt gefeiert. Novo Nordisk und Elly Lilli, ein amerikanischen Pharmaunternehmen, das mit dem Wirkstoff Tirzepatid ein eigenes Mittel gegen Fettleibigkeit vertreibt, haben seit dem Jahr 2021 ihren Marktwert um rund eine Billion Dollar gesteigert.
Das ist eine gute Nachricht nicht nur für die Aktionäre. Sondern auch für Milliarden Menschen auf der Welt. Das Medikament hilft auch gegen Alzheimer und kann zur Behandlung von Diabetes, Herz-, Kreislauf- und Nierenkrankheiten eingesetzt werden. Ein Wundermittel, das anders als viele Möchtegernwundermittel, in empirischen Tests seine Wirksamkeit erwiesen hat.Zwei Fünftel der Weltbevölkerung gelten als übergewichtig oder fettleibig. In vielen Gesellschaften werden diese Menschen stigmatisiert. Sie werden bei Job-Bewerbungen und Karriereaufstieg diskriminiert, verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten – und schämen sich ihres eigenen Körpers. Es ist ein Elend, dass sich bald erledigt haben könnte. Dank der Forscherleistung vieler Chemiker und Pharmazeuten. Und dank des Risikoeinsatzes von Aktionären, die dafür zurecht fürstlich entlohnt werden. Das Versprechen eines längeren, gesünderen und glücklicheren Lebens kann für die Dicken wahr werden.
Wäre das nicht einmal ein Grund, die Pharmaindustrie hochleben zu lassen? Doch nein. Schon hagelt es Kritik von allen Seiten. Aufgezählt werden die Risiken und Nebenwirkungen der Spritze, die von Magendarmbeschwerden und Kopfschmerzen bis zu Bauchspeicheldrüsenentzündungen reichen können. Hinzu kommt: Die neuen Medikamente sind extrem teuer. Die Behandlung kostet allein für einen Monat mehr als 500 Dollar. Will sagen: Es sind mal wieder nur die Reichen, die sich schön und schlank machen dürfen. Womit wir beim kulturkritischen Argument wären: Die Abnehmspritze werde dazu führen, die Schönheitserwartungen immer weiter zu normieren. Am Ende sehen wir lauter identische Körper mit Weltstandardgewicht in den Büros und auf den Partys. Gruselig. Anstatt die Fettleibigkeit mit Pharma zu bekämpfen, sollte die Gesellschaft lieber die Stigmatisierung dicker Menschen beenden, rufen die Zivilisationskritiker.
Bald kommen die Generika
Alles schön und recht. Aber alles nicht triftig. Es wäre ein Wunder, wenn Wettbewerber von Novo Nordiks und Elly Lilli nicht bald eigene Medikamente zur Gewichtsreduktion auf den Markt bringen würden. Es wäre ein Wunder, wenn nach Ablaufen von Patenten nicht viele günstigeren Pillen oder Spritzen zu haben wären. Die Forderung, die Gesellschaft dürfe die Dicken nicht stigmatisieren, hören wir seit Jahren. Dummerweise hält sich die Gesellschaft nicht an diesen guten Rat. Und die Fettleibigen leiden. Jetzt bekommen sie eine Perspektive.
Wie kann es dann sein, dass in den Befragungen zur Reputation unterschiedlicher Wirtschaftszweige die Pharmaindustrie regelmäßig die letzten Plätze zugewiesen bekommt? Einen gewissen Ansehensgewinn konnte die Branche zwar durch die Erfindung der Covid-Impfstoffe verzeichnen, der freilich durch die inflationsbedingte Teuerung der letzten Jahre gleich wieder dahin schmolz.
Komisch! Den Fortschritt gibt es ja nicht erst seit der Erfindung der Abnehmspritze. Die Erfindung der Anästhesie im späten 19 Jahrhundert befreite die Menschen davon, bei operativen Eingriffen unerträgliche Schmerzen erdulden zu müssen. Die Erforschung von Hygienebedingungen (Händewaschen & mehr) und die Entwicklung urbaner Abwassersysteme haben das Aufkommen tödlicher Seuchen reduziert.
An dieser Erfolgsgeschichte ist die Pharmaindustrie maßgeblich beteiligt. Impfstoffe sorgten dafür, dass Polio und Pocken weitgehend ausgerottet wurden. Insulin, vor hundert Jahren zum ersten Mal aus der Bauchspeicheldrüse von Schlachtvieh gewonnen und Diabetikern gespritzt, rettet inzwischen Millionen Menschen das Leben. Brustkrebs war bis in die sechziger Jahre eine tödliche Krankheit. Inzwischen kann er geheilt werden. Vor dreißig Jahren war eine HIV-Erkrankung ein Todesurteil. Dank BionTech & Co. hat Covid seinen tödlichen Schrecken verloren. Der Freiheits- und Lebensgewinn solcher Medikamente kann kaum überschätzt werden. Die pharmazeutische Innovation trägt nach einer im National Bureau of Economic Research (NBER) veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2017 mit über 70 Prozent zu den Erfindungen der Lebenswissenschaften bei.
Gibt es Erklärungen für das miese Ansehen einer lebensrettenden Branche? Generell, so mein Eindruck, ist der Antikapitalismus nirgends so verbreitet wie im Gesundheitswesen. Dass Pharmafirmen die Maximierung des Gewinnes vor das Gemeinwohl stellen, davon sind viele Menschen überzeugt. Kein Wunder, dass Minister Karl Lauterbach ein Gesetz zur Entökonomisierung der Gesundheit plant.Die Menschen wollen nicht krank sein
Han Steutel, Präsident des »Verbandes forschender Arzneimittelhersteller« hat ein paar tiefer liegende Vermutungen. »Die Menschen wollen nicht krank sein«, sagt er. Die Arznei erinnere sie daran. Epilepsie, eine Krankheit mit gravierenden Nachteilen für die Betroffenen, kann mit Medikamenten unter Kontrolle gehalten werden. Doch lediglich 40 Prozent der an Epilepsie leidenden Patienten sind therapietreu. Ähnlich ist es mit Blutdruck- oder Cholesterinsenkern. Das ist eine von vielen Irrationalitäten, mit denen die Menschen leben. Sie ignorieren die Krankheit und kritisieren die Hersteller der Pillen.
Steutel hat noch eine weitere Vermutung, eher aus dem Bereich der Magie. »Wir wollen keine Chemie und keine Pharmazeutika im Körper haben.« Eigentlich müsse doch etwas – die Krankheit – raus aus dem Körper. Da ist es ein Widerspruch, etwas einnehmen zu müssen. »Es muss was raus, nicht rein.« Und die hohen und intransparenten Preise? »Diese Debatte werden wir nie los«, sagt Steudel: Man klagt über die Preise und verdrängt den Nutzen der Arznei.
Und dann sind da noch die Ärzte. Anders als ihr Ruf, sich ständig auf Kosten der Pharmaindustrie auf Kongressen in Davos oder der Toskana bespaßen zu lassen, erweisen sie sich als besonders scharfe Kritiker der Pharmabranche: Lebensrettende Medikamente würden vom Markt genommen, wenn sich ihre Fertigung nicht mehr rentiere. Das gibt es. Aber die Pharma- und Wirtschaftsgeschichte – siehe oben – sprechen auf lange Sicht eine andere Sprache. Wir verdanken den Pillen insgesamt eine enorme Verbesserung und Verlängerung unseres Lebens.
Ob die Abnehmspritze an diesem paradoxen Befund etwas ändern wird? Schön wäre es. Ich glaube es nicht. Das Kartell der Ärzte, Kulturkritiker, Naturheiler und Arzneiverächter bleibt intakt – allen Erfolgen der Branche zum Trotz.
Rainer Hank