Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen16. August 2022
Dr. Lauterbachs InstrumentenkastenSeit der Pandemie leben wir im permanenten Ausnahmezustand
Es sollte ein anregender, harmonischer Abend werden. Jenny und Friedrich, ein Ehepaar mittleren Alters aus Westdeutschland, das seit einem Jahrzehnt mit den beiden Söhnen in Ostdeutschland lebt, haben Rolf und Beate, Arbeitskollegen aus Brandenburg, geborene Ostdeutsche, zum Essen eingeladen. Außerdem hat sich Tine, eine frühe Liebe Friedrichs (Ferien an der Amalfi-Küste) zum Essen eingeladen.
Das kann ja heiter werden: Vom ersten Moment an bringen Rolf und Beate Jenny aus der Fassung und Friedrich in Verlegenheit. Noch immer unverstandene west-östliche Seelenlagen brechen sich Bahn – sarkastisch, angriffslustig – über dreißig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Wechselseitig ist man voneinander enttäuscht. Es wird am Ende nicht nur heiter, sondern auch gruselig.
Der Abend in Fünferrunde ist der Plot einer gerade erschienenen Novelle (»Gewittergäste«) des Schriftstellers Dirk von Petersdorff. Der kommt selbst aus Westdeutschland, lebt seit langem in Jena, ist bislang eher mit Gedichten aufgefallen, schreibt neuerdings aber auch Prosa. Weil Petersdorff im Neben- oder Hauptberuf Literaturwissenschaftler ist, kann man das Büchlein auch als Übungsstück in Literaturtheorie fürs Proseminar lesen: Alles spielt sich an einem Tag und an einem Ort ab wie in einem Drama. Und natürlich gibt es jene »unerhörte Begebenheit«, die seit Goethe für eine Novelle, die etwas auf sich hält, zwingend vorgeschrieben ist und den Wendepunkt der Handlung markiert. Diese unerhörte Begebenheit wird hier selbstverständlich nicht verraten.
»Habeck, Habeck«, ruft der Wellensittich
Die Knappheitsvorschrift der Novelle hat »inhaltlich« den Vorteil, die »unverstandenen west-östlichen Seelenlagen« und gegenseitige Vorwurfsdynamik auf seinen Kern zu schälen: Das im Osten lebende Westlerpaar, dessen Wellensittich »Udo« (wie Udo Lindenberg) Laute kräht, die in den Ohren der Ostler wie »Habeck, Habeck« klingen, gibt sich alle Mühe den Ostdeutschen am Abendbrottisch die Vorteile der Freiheit in Erinnerung zu rufen, die sie so selbstverständlich einstreichen und dass sie froh sein sollten, den diktatorischen Stasi-Staat los zu sein. Den wollen Rolf und Beate auch gar nicht zurück, im Gegenteil: Sie nehmen die Freiheits-Behauptung der Westler beim Wort und sind enttäuscht. »Wir sind sehr empfindlich gegen Bevormundung.« Dass man ihnen – nur zum Beispiel – ihr Dieselauto als Dreckschleuder madig macht, finden sie nicht gut. Sie brauchen es schließlich auf dem Land, um zur Arbeit zu kommen. Dass diese Verbote von Männern aus Berlin kommen, die mit Elektrorollern und Umhängetaschen zur Arbeit fahren, ärgert sie besonders.
Und dann werden die Ostler grundsätzlich: Manchmal fänden sie den aktuellen »Verbots-Staat« schlimmer als die DDR: »Da konntest Du abtauchen oder unauffällig leben, aber dieser Staat hier: fiel feiner, er fasst Dich ganz und gar, die Gedanken, meine ich.« Es fällt das böse Wort der »Demokratur«; na ja, Rolf ist inzwischen nicht mehr ganz nüchtern.
»Verbots-Staat«? Ost-Ressentiment und leichte Beute für AfD-Politiker, klar. Doch damit würde man es sich zu einfach machen, finde ich. Während ich Dirk von Petersdorffs Novelle lese, gibt es in der deutschen Politik eine Debatte über das neue Infektionsschutzgesetz. Der Wechsel von der Fiktion in die Realität gelingt mühelos.Oder anders gesagt: Wem die Freiheit des Bürgers im demokratischen Rechtsstaat ein oberster Wert ist, den muss die aktuelle Debatte um das Infektionsschutzgesetz gehörig verstören. Welches Staatsverständnis steht hinter dieser Politik? Ein zentraler Begriff ist der »Instrumentenkasten«. In diesem Kasten liegen unterschiedliche Instrumente – Abstandsregeln, Ausgangssperren, Maskenpflichten an unterschiedlichen Orten, 3G, 4G, 5Gplus und so weiter -, die je nach Inzidenzlage von wohlmeinenden Politikern angeordnet werden sollen. Der Unterschied zwischen dem Verbots- und Gebotsstaat ist fließend: Die Kehrseits jedes Gebots ist ein Verbot – wenn man, nur zum Beispiel, ein Restaurant nicht ohne Maske betreten darf (es sei denn man sei geimpft und diese Impfung wiederum darf nicht länger als drei Monate zurückliegen). Bisschen absurd klingt alles ohnehin.
Woher kommt dieser »Instrumentenkasten«? An erster Stelle verweist das Lexikon auf den Arzt. In dessen Instrumentenkasten befindet sich »meist fein gearbeitetes, oft kompliziert gebautes Gerät«. Man kann an das Stethoskop des Hausarztes denken oder – besonders »fein gearbeitet« – an die Instrumente des Zahnarztes (der Zahnspiegel oder der Heidemann-Spatel, welch schöner Begriff). Neben dem Arzt käme der Handwerker infrage. Der hat bekanntlich einen Werkzeugkasten.
Der Politiker als Arzt
Wenn Politiker wie Karl Lauterbach (SPD) und Marco Buschmann – FDP, war das nicht die Partei der Freiheit? – sich jetzt darauf geeinigt haben, womit sie den neuen Instrumentenkasten bestücken, dann entlarvt das ihr Selbstverständnis: Der Staat ist der Arzt, der weiß, was für seine Bürger gut ist und entsprechend strengere oder weniger strenge Medizin verabreicht, Gebote (Bettruhe!) oder Verbote (Ausgangssperren) anordnet. Was erlauben Doktor Lauterbach? Großzügig, wie er ist, gewährt er »Ausnahmen« der Maskenpflicht für »frisch Geimpfte«. Danke auch dafür!
Eine quasi natürliche Informationsasymmetrie versteht sich offenbar von selbst: Der Politiker als Arzt mit Instrumentenkasten hat – gestützt auf Experten – ein exklusives Wissen, das dem Patienten (dem Bürger) abgeht. Und wenn die Belastungen (Schmerzen) für die Patienten zu groß werden, bringt der Politiker sogar finanzielle Entlastung – so wie das gerade die Regierung in der Inflations- und Energiekrise im Wochentakt uns verspricht – »uns« also natürlich nur uns »Bedürftigen«, vulgo Armen.
Bezieht sich die Metapher des »Instrumentenkastens« eher auf den Handwerker, entlarvt sich das Selbstverständnis des Politikers vollends als technokratisch: Der Handwerker repariert alles, was im Haushalt klemmt und klappert. Mister Fix-It, wie die Amerikaner sagen.
Zur Legitimation der Rolle der Intervention mit Instrumentenkasten verweist die Politik gerne auf die Krise. Weil Krise so langsam zum Dauerzustand wird, besteht die Gefahr, dass der »Verbots-Staat« zum permanenten Ausnahmezustand wird. »Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen, und wird Despot; das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit nicht nehmen lassen, und wird Rebell«, schreibt Immanuel Kant (»Schriften zur Geschichtsphilosophie«).
Das Freiheitsversprechen des Westens jedenfalls sieht anders aus, da haben Rolf und Beate Recht, die Ostler aus Dirk von Petersdorffs Novelle.Rainer Hank