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  • 18. Mai 2020
    Die Zentrale hat immer Recht

    »ultra vires«: Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts Foto bundesverfassungsgericht.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Von Landräten, Verfassungsrichtern und Lateinlehrern

    Dass Latein noch einmal in unserem Leben wichtig werden könnte, hätte Herrn Lenz gefreut. Denn natürlich hatten wir unseren Lateinlehrer mit seinen eigenen Sprüchen aufgezogen, damals in den sechziger Jahren am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium, und Beweise gefordert dafür, dass hier fürs Leben (»non scolae sed vitae…«) gelernt werde. Jetzt brachte uns »ultra vires« ziemlich ins Schleudern, ein Ausdruck, der sich unübersetzt bereits im ersten Absatz der Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über das Staatsanleihen-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) findet – und erkennbar ziemlich wichtig ist.

    Der Kalauer, bei »vires« an Corona zu denken, verbietet sich. Aber an »Männer« mussten wir denken: »vir«, der Mann. Doch warum sollte es »gegen die Männer« sein, Anleihen zu kaufen? Das klingt schief. Ein Gespräch mit Freunden mit tatkräftiger Unterstützung ihrer lateinsicheren Tochter brachte schließlich Aufklärung: »ultra vires«, ein Akkusativ-Plural, kommt nicht von »vir«, sondern von »vis«, was »Kraft, Stärke, Gewalt« bedeutet: Die Richter finden also, was die EZB da mache, überschreite die Kräfte und Kompetenzen der europäischen Geldpolitiker.

    Die Luxemburger Richter sind beleidigt

    Das ultra-vires-Argument sollte man tatsächlich verstehen, um zu sehen, welche Zäsur das Urteil der Karlsruher Richter bedeutet. Kompetenzgemäß wäre das Handeln der EZB nämlich nur, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werde, sagen sie. Dass die Geldpolitik negative wirtschaftspolitische Folgen habe – schrumpfende Sparguthaben deutscher Bürger zum Beispiel – hätte in einer solcher Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden müssen und müsse nun nachgeholt werden, andernfalls dürfe die deutsche Bundesbank sich künftig nicht mehr an den Anleihekäufen beteiligen.

    Inzwischen ist deutlich, dass Karlsruhe sich mit Gott und der Welt angelegt hat: Nicht nur mit der EZB, sondern erst recht mit den Richtern des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg und mit ganz Brüssel sowieso, angeführt von unserer Mustereuropäerin Ursula von der Leyen. »How dare you«, wie könnte ihr so frech sein, so schallt es seither aus dem europäischen Wäldern heraus: Die Luxemburger Richter stehen auf dem Standpunkt, nur sie allein hätten das Recht darüber zu befinden, ob eine europäische Institution wie die EZB kompetenzwidrig »ultra vires« handle oder nicht. Und aus Sicht des EuGH ist natürlich alles okay, was die EZB tut. Von der Leyen sekundiert mit dem Argument, wo kämen wir hin, wenn jetzt auch oberste Gerichte in Ungarn, Polen oder sonstwo in Osteuropa frech würden.

    Wieder einmal zeigt sich nicht nur die vermurkste Architektur des Euro, sondern auch der Fluch des europäischen Zentralismus. Der EuGH benimmt sich, als sei er das oberste Gericht eines europäischen Bundestaates, demgegenüber alle nationalen Verfassungsinstanzen der EU-Mitgliedsländer nachgeordnete Behörden und zum Stillschweigen verurteilt wären, nachdem das oberste europäische Gericht geurteilt hat. Wir dulden keine nationalen Extrawürste, so heißt der dahinterstehende Befehl. Karlsruhe hingegen dreht den Spieß um: Das BVG versteht sich als Anwalt des deutschen Volkes. Dieses ist der Souverän, demgegenüber Brüssel lediglich eine abgeleitete Autorität hat. Die EU ist eben kein Bundesstaat wie die Vereinigten Staaten. Mag sein, dass so auch die Populisten in Osteuropa argumentieren. Aber das ist nicht das Problem des BVGs, denn in Deutschland leben wir in einem Rechtsstaat.

    Subsidiarität ist nur noch ein inhaltsloses Wieselwort

    Hier kommt nun noch einmal Herr Lenz, unser Lateinlehrer, ins Spiel. Denn was sich da gerade zwischen Karlsruhe und den europäischen Institutionen abspielt, kann man auch als Kampf um die Subsidiarität interpretieren. Dieser Begriff kommt von »subsidium«, meint »behelfsweise« und bedeutet, dass in einer Gemeinschaft jeder Einzelne für sich selbst verantwortlich ist und andere nur »subsidiär« für ihn einstehen sollen – eben dann, wenn sie sich nicht selbst helfen können. Dies besagt auch, dass Dezentralität Vorrang hat und höhere Ebenen erst gefragt sind, wenn die regionalen oder nationalen Ebenen überfordert sind. Subsidiarität spielt zwar als Begriff in den EU-Verträgen eine große Rolle, ist inzwischen aber zum rhetorischen Wieselwort von Sonntagsreden ziemlich auf den Hund gekommen. Stattdessen hat sich in Europa ein Zentralismus breit gemacht, der meint, es sei am besten, von oben nach unten durchzuregieren. Karlsruhe hat auch diesen Grundsatz der Subsidiarität in Erinnerung gerufen: nationale Parlamente als Anwälte der Bürger eines Landes können nicht einfach von europäischen Institutionen übergangen werden.

    Während der Anti-Zentralismus hierzulande immer dann viel Unterstützung findet, wenn es gegen die Machtanmaßung aus Brüssel geht, ist der deutsche Föderalismus deutlich weniger beliebt, der doch auf demselben Prinzip von Subsidiarität und Non-Zentralismus fußt. Das lässt sich gerade jetzt beobachten an den Maßnahmen zur Corona-Eindämmung, was Sache der Länder und neuerdings der Landkreise ist. Das stößt bei den Leuten schnell auf Missfallen. Dann ist – in unterschiedlicher Metaphorik – von »Flickenteppich« und »Kleinstaaterei« die Rede und davon, dass es keine »Extrawürste« und keinen »Überbietungswettbewerb« geben dürfe. Dahinter steht die Ansicht, dass es in der Not einer starken Zentrale bedürfe, die sagen müsse, wo es lang geht.

    »Die Zentrale weiß alles besser«, hat Kurt Tucholsky 1925 in der »Weltbühne« geschrieben: »Die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek. In der Zentrale klopfen dir die Männer auf die Schulter und sagen: Lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten nicht so beurteilen! Wir in der Zentrale …« Wenn jetzt Landräte in Sonneberg in Südthüringen beurteilen sollen, was zu tun ist, wenn eine Obergrenze von fünfzig Corona-Infizierten überschritten wird, dann wird das ein spannendes Experiment im Kampf gegen unseren habituellen Zentralismus.

    Föderal verfasste Staaten (etwa die Schweiz) stehen wirtschaftlich stets besser da als Zentralstaaten. Einiges spricht dafür, dass Länder, in denen mit der Coronakrise föderal und subsidiär angegangen wird, bessere Ergebnisse haben als zentralistische Staaten (Frankreich). Altersstruktur, Bevölkerungsdichte, Wirtschaftskraft – das alles unterscheidet sich von Stadt zu Stadt, macht aber in der Krise einen gehörigen Unterschied. Die Stärke des Föderalismus heißt: Lernfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, regionale Robustheit. Macht der Landrat einen Fehler, müssen die anderen ihn nicht mitmachen. Macht Berlin einen Fehler, sind alle betroffen. Seien wir froh, dass wir das Heft des Handelns in der Pandemie nicht an Brüssel delegiert haben. Wenn es ernst wird, rettet uns nur der föderal verfasste Nationalstaat.

    Das Urteil von Karlsruhe und die Dezentralisierung der Corona-Bekämpfung haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie korrigieren den Glauben an den Zentralismus und setzen auf nationale und föderale Autonomie. Zentralismus übersteigt unsere Kräfte, er ist »ultra vires«.

    Rainer Hank