Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen17. Mai 2024
Die Welt von gesternGlobalisierung ist umkehrbar. Leider.
Eine Freundin kam gerade von einer Reise aus Laos und Kambodscha zurück. Der Rückflug sei anstrengend gewesen, berichtet sie. Vor dem Abflug in Bangkok habe man erfahren, dass die Lufthansa den iranischen Luftraum nicht mehr überfliege. Es folgten lange Stunden des Wartens in Neu-Delhi. Die altgedienten Stewardessen der Lufthansa seien schon nervös geworden, meint sie wahrgenommen zu haben. Immerhin, der Pilot habe ausgesehen wie ein seriöser, solider Deutscher. »Und darüber war ich glücklich«, so die Freundin: »Er musste einen Umweg fliegen und nach dreimaligem Umbuchen ging es von Frankfurt weiter nach Wien. Walzerseligkeit.«
Ein Hauch der neuen geopolitischen Weltlage kommt jetzt also sogar bei uns deutschen Fernreisenden an. Die Lieferketten verzögern sich sozusagen auch bei uns Vielfliegern. Man schämt sich fasst der Erwähnung solcher Nickeligkeiten angesichts des realen Leids, das vielen Menschen derzeit in vielen Gegenden der Welt widerfährt. Ganz abgesehen von der generellen klimapolitischen Flugscham.
»Geopolitisch« ist ein Wort, das man jetzt öfters hört. »Geoökonomisch« gehört auch dazu. Als Wirtschaftsredakteur hatte ich es früher nicht in meinem aktiven Wortschatz. Mit dem Wort geoökonomisch wurd ein Zusammenhang hergestellt zwischen den geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und vor allem China auf der einen Seite und den politisch motivierten Eingriffen in die wirtschaftlichen Beziehungen auf der anderen Seite. So definiert die »Hamburg Commercial Bank« die »geoökonomische Fragmentierung« in ihrem jüngsten Wochenkommentar.
Die Illusion der Selbstversorgung
Gerne wird die Vorsilbe De- genommen: De-Globalisierung (wahlweise auch Slowglobalization) oder De-Coupling (Entflechtung der Abhängigkeiten von russischem Gas, chinesischen Ex- und Importen und US-amerikanischer militärischer Sicherheit). Die positiven Leitbegriffe heißen jetzt Near-Shoring (statt Off-Shoring) und Autarkie: Die Illusion der Selbstversorgung mit »regionalen« Produkten ersetzt den Glauben an segensreichen freien Handel auf freien Märkten.
Die neue Wirtschaftssprache definiert eine neue Welt. Schon seit der Weltfinanzkrise von 2008 sind gravierende Krisen sehr viel häufiger als erwartet eingetreten: die globale Finanzmarktkrise, die Euro-Schuldenkrise, die Russland-Krise, der Brexit, der Trump’sche von Biden fortgesetzte Protektionismus, die verschärften geopolitischen Rivalitäten und die Krise der Welthandelsorganisation (WTO). Da kommt einiges zusammen, was Wachstum, Wohlstand und Freiheit kostet.
»Früher hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging hin, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Genehmigungspflichten, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, dass ich früher nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Pass zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. Man stieg ein und aus, ohne zu fragen oder gefragt zu werden.«
Der hier von der Welt vor 1914 erzählt ist der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (»Die Welt von gestern«). »Im Goldenen Zeitalter vor dem Krieg konnte der Bewohner Londons, seinen Morgentee im Bett trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedensten Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, dass man sie alsbald vor seiner Tür ablieferte.« So erinnert es der britische Ökonom John Maynard Keynes in seinem Nachruf auf die Globalisierung »The Economic Consequences of the Peace«. Einverstanden, es waren die Oberschichten des globalen Nordens, die sich ein solches Leben leisten konnten. Bei den Armen, daheim und in den Kolonien ging es weniger komfortabel zu.
Linker und rechter Antiglobalismus
Dass die Globalisierung kein unumkehrbarer Prozess ist und ein Rückschlag in eine verheerende Depression führen könne, hat der in Princeton lehrende Wirtschaftshistoriker Harold James unter dem Titel »Der Rückfall« schon im Jahr 2001 beschrieben. Ich habe das Buch damals mit Interesse an der Weltwirtschaftskrise, aber nicht unter aktueller Perspektive gelesen – trotz erster dramatischer Anzeichen einer Wende, zu denen 9/11 und der Zusammenbruch der damals so genannten New Economy zählten.
Mit ganz anderer Betroffenheit habe ich jetzt eine gerade auf Deutsch erschienene Studie der in Chicago lehrenden Historikerin Tara Zahra gelesen: »Gegen die Welt. Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit (Suhrkamp Verlag)«. Die Autorin beschreibt das antiglobalistische, antiinternationalistische Denken und Handeln in der Zeit zwischen den Kriegen und zeigt, wie ein toxisches Gemisch aus Nationalismus, Protektionismus und Fremdenfeindlichkeit rund um den Globus die Politik und das Denken eroberte. Die Ordnung, die wir für selbstverständlich erachten, kann brüchig sein.Tara Zahra analysiert die Makroperspektive des Antiglobalismus: Offener Handel, Migration und freier Kapitalverkehr, waren die Voraussetzung weltweiter Verflechtung. Das alles brach nach 1914 ab, wurde, durch Mauern (»Schutzzölle«) ersetzt, begründet mit der Notwendigkeit nationaler Verteidigung. Linker Antiglobalismus als Antikapitalismus und rechter Antiglobalismus als Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit (vor allem als Antisemitismus) trafen sich aufs Schlechteste. Mussolini war bekanntlich erst Sozialist, bevor er zum Faschisten wurde.
Das Buch von Tara Zahra lebt aber vor allem von der Mikroperspektive: Mit kaleidoskopischem Blick erzählt sie berührende Einzelschicksale. Zum Beispiel jenes der jüdischen Frauenrechtlerin und Pazifistin Rosika Schwimmer aus Budapest, die nach dem Zerfall des Habsburgerreiches – vor dem Krieg die größte Freihandelszone Europas – vor dem »weißen Terror« Ungarns fliehen musste, in den USA mal als Agentin der Bolschewisten, mal als Spionin der Deutschen oder Teil des Weltjudentums angefeindet wurde, wo ihr deshalb die Staatsangehörigkeit verweigert wurde, am Ende aber fast der Friedensnobelpreis zugesprochen worden wäre.
Der Blick auf »Welt von gestern« führt uns die Gefahren des heute schick gewordenen Antiglobalismus vor Augen, eine Erfahrung, die ihrerseits zu einem neuen Blick auf die Vergangenheit führt. Noch sei nicht aller Tage Abend, befand die Journalistin Dorothy Thomson Anfang 1932: »Solange Schiffe die Meere befahren, Flugzeuge durch die Luft fliegen und Züge verkehren, wird der Einfallsreichtum der Menschen Wege zur Umgehung der Handelshindernisse finden«, schrieb sie und fügte eine Hoffnung hinzu: »Die Menschen besitzen noch nicht genügend Patriotismus, um sich selbst um der Nation willen zum Hunger zu verdammen.« In solcher Hoffnung sollte Dorothy Thomson sich getäuscht haben. Es dauerte bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis der Globalismus wieder Fuß fasste.
Rainer Hank