Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen15. Februar 2023
Die Radikalisierungs-SpiraleWarum Menschen ins Extrem verfallen
Vor ein paar Jahren wurde eine Reihe von Bürgern aus zwei verschiedenen amerikanischen Städten für ein Experiment in kleine Gruppen zusammengefasst. Die Gruppen sollten sich mit drei der umstrittensten Fragen der Zeit auseinandersetzen: Klimawandel, positive Diskriminierung und gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Bei den Städten handelte es sich um Boulder – bekannt für seine eher linkslastigen Wähler – und Colorado Springs, wo mehrheitlich konservativ gewählt wird. Die Bürger wurden zunächst aufgefordert, ihre Ansichten jeder für sich anonym aufzuschreiben. Anschließend mussten sie darüber in der Gruppe beratschlagen. Zum Schluss sollte dann jeder Teilnehmer für sich anonym festhalten, was er nach der Beratung über die Themen dachte.
Das Ergebnis: Durch das Gruppengespräch haben sich die Bürger von Boulder nach links bewegt. Die Leute aus Colorado Springs hingen äußerten sich deutlich konservativer. Beide Male rückte man mehr ins Extrem. Vorher gab es zwischen den Befragten der beiden Städte noch eine ganze Menge Übereinstimmungen, nachher war man sich fremder geworden.
Der Mensch ist offenbar nicht gerne anderer Meinung. Er passt sich der Gruppe an, selbst wenn es keine neuen Fakten gab, die eine Änderung seiner Meinung nachvollziehbar gemacht hätten. Die Gruppe harmonisiert nach innen, polarisiert nach außen und radikalisiert ihre Mitglieder – in welche politische Richtung auch immer. Woran das liegt? Menschen hungern nach Bestätigung. Wenn zwei einander Recht geben, fühlen sich beide sicherer. Schließt sich ein Dritter an, wird es noch besser. Man nennt das eine Bestätigungskaskade. »Herdentrieb, Gruppendruck, rigide Loyalitätserwartungen sind in allen Ländern und Gesellschaften gleich«, schreibt der amerikanische Verhaltensökonom Cass C. Sunstein, von dem die Experimente in Boulder und Colorado Springs stammen. Gruppen radikalisieren sich nach außen, harmonisieren nach innen.
Am Ende kann es passieren, dass einige die Gruppe verlassen, weil ihnen die Radikalisierung der Gruppe zu weit geht. Die Gruppe wird dadurch zwar kleiner, aber noch radikaler und geschlossener, weil nur die Allerloyalsten bis zum Schluss bleiben, die sich untereinander bis ins Extrem anfeuern.
Was AfD und Last Generation eint
An Cass Sunstein musst ich denken, als vergangene Woche viel über den zehnten Jahrestag der Gründung der AfD zu lesen war. Hier lassen sich in der »realen« Geschichte die Experimente aus dem Experiment überprüfen. Zugleich bekommt die scheinbar historisch zufällige Geschichte einer neu gegründeten Partei eine innere Logik.
Vor zehn Jahren war Konrad Adam, ein Ex-Kollege aus dem FAZ-Feuilleton, bei uns in der Wirtschaftsredaktion erschienen, um zu berichten, man werde jetzt mit seiner tatkräftigen Mitwirkung eine neue konservativ-liberale Partei gründen, die sich gegen eine weitere Vergemeinschaftung der Währung in der Euro-Zone positionieren wolle. Angesehene, wenngleich nicht unumstrittene Ökonomieprofessoren – Bernd Lucke aus Hamburg, Joachim Starbatty aus Tübingen – machen mit. Das Thema lag in der Luft; man war mitten in der sogenannten Eurokrise.
Das war der Gründungsakt der AfD. Migrations- oder ausländerfeindliche Töne gab es zwar damals schon, doch wurden sie als Minderheitsmeinung marginalisiert. Spätestens in der Flüchtlingskrise 2015 setzte dann ein Radikalisierungsprozesse ins rechte Extrem ein, in deren Verlauf die Gründer schließlich aus der Partei gedrängt wurden. Im Blick auf die jeweiligen neuen Führungsfiguren erscheinen die Vertriebenen stets als die Gemäßigten, die, als sie selbst die Macht errangen, die Radikalen waren: Von Lucke zu Petry, von Petry zu Meuthen, von Meuthen zu Weidel und Chrupalla.
Spiegelbildlich zeigt sich eine vergleichbarer Radikalisierungsspirale auch auf Seiten der Klimaprotestbewegung. Es ging los mit den Schulstreiks der »Fridays for Future«-Schülern, ging weiter mit Extinction Rebellion (Motto: »Hier ist immer was los.«), die sich auf die Tradition des Zivilen Widerstands beruft: Im Moment laufen die Vorbereitungen auf das Frühjahrscamp in Berlin. Dem folgte, abermals radikalisiert, die »Letzte Generation«, deren »Aktivisten« sich auf Autobahnen festkleben oder Kunstwerke mit Kartoffelbrei bewerfen, um auf den angeblich bevorstehenden Weltuntergang hinzuweisen. Die Aktionen der gemäßigten Gruppen nützen sich ab. Freitagsstreiks finden zwar immer noch statt, doch die Öffentlichkeit interessiert das nicht mehr sonderlich. Die Aufmerksamkeitsökonomie verlangt härtere Bandagen.
Rhetorik der Unausweichlichkeit
Rechtsextreme wie klimaradikale Bewegungen neigen zu einem religiösen Dualismus: Wir sind die Auserwählten. Es gibt die Guten, die wissen, dass Überfremdung das Ende der »Bio-Deutschen« bedeutet oder dass unsere Welt in nächster Zeit aufgrund der Erderwärmung untergehen wird. Stets sind die anderen die Verblendeten. Gemäßigte Stimmen im eigenen Lager werden als Apostaten – als Abtrünnige – stigmatisiert und als Verräter mundtot gemacht. Anders als die dumpfdeutschen AfD-Anhänger liebt die Klimabewegung das Spiel mit einer Ästhetik der Plötzlichkeit. Doch auch dieses kann rasch in Gewalt umschlagen, wie sich in Lützerath zeigte.
Muss man es angesichts der Radikalisierungsspirale mit der Angst zu tun bekommen? Ein bisschen schon. Trost spendet ausgerechnet Daniel Cohn-Bendit in einem ZEIT-Interview. Cohn-Bendit (77), der sich als »roter Großvater« ironisiert, argumentiert gegen die »Rhetorik des Unausweichlichen« radikaler Aktionisten, die sich auf Dauer abnützt, aber eben auch den Keim noch weiterer Radikalisierung in sich birgt. Auf die Vernunft von Gruppen würde ich deshalb keinen Pfifferling wetten. Aber auf einzelne starke Naturen, die sich dem Gruppendruck widersetzen und gehört werden. Cohn-Bendits Biografie ist selbst ein Beispiel für eine Emanzipation von der eigenen 68er Radikalität.
Von »Liberalisierung als Lernprozess« hat der Literaturwissenschaftler Kai Sina, eine Formulierung Ulrich Herberts aufgreifend, in einem großen Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger in der Februar-Nummer des »Merkur« gesprochen. In liberale Richtung habe sich die Bundesrepublik glücklicherweise nach 1945 entwickelt. Auch die allmähliche positive Aneignung der liberalen Demokratie Weimars durch einzelne Intellektuelle (Thomas Mann, Ernst Troeltsch) gehört in dieses kleine Lesebuch liberaler Vorbilder, die die Kraft hatten, sich der Radikalisierungsspirale zu entziehen. Immerhin.
Rainer Hank