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‹ alle Artikel anzeigen07. April 2025
Die Ordnung der LiebeWarum nicht alle Menschen zu Brüdern und Schwestern werden können
Dass alle Menschen Brüder werden, ist bekanntlich die große Hoffnung Friedrich Schillers. In einer frühen Fassung der »Ode an die Freude« von 1785 wird die Idee allseitiger Verbrüderung sogar als Hoffnung auf eine klassenlose Gleichheit konkretisiert: »Bettler werden Fürstenbrüder.« Die Zeile durchweht der Geist der französischen Revolution, die von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« träumt: Seid umschlungen Millionen.
Dass alle Menschen Brüder werden, ist ein schöner Gedanke (auch wenn Brüder nicht immer in friedlicher Harmonie miteinander leben). Doch es ist eben auch ein illusorischer Gedanke. Schon Beethoven hatte Zweifel, ob die universale Verbrüderung möglich wäre, wie er im September 1795 in einem Brief an einen Freund schreibt, auf den mich der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer aufmerksam macht: »Wann wird der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird? Das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch Jahrhunderte vorübergehen.«
JD Vance, der vorlaute amerikanische Vizepräsident, wird den Brief Beethovens mutmaßlich nicht kennen. Aber auch er bezweifelt, dass die Utopie einer allseitigen Brüderlichkeit zur konkreten Maxime für die Flüchtlingspolitik werden könne. Seid umschlungen Millionen, davon haben sich die meisten Einwanderungsländer inzwischen verabschiedet. Doch nach welchen Kriterien sollen wir entscheiden, um wen wir uns vorrangig kümmern sollen?
Als Gewährsmann nimmt JD Vance den Kirchenlehrer Augustinus (354 bis 430) in Anspruch, der sich für eine klare Rangordnung der Nächstenliebe ausgesprochen habe. »Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft, und dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land.« Und erst dann könne man sich um den Rest der Welt kümmern. Das, so Vance, sei die augustinische Lehre einer »Ordnung der Liebe« (»ordo amoris«), die eben priorisiere, wer von den Nächsten einem näher und wer ferner sein solle. Der Heilige Augustinus, das muss man wissen, ist für Vance nicht irgendein Heiliger. Ihm verdankt er nach eigener Aussage die Motivation zur Konversion: von einer lockeren Zugehörigkeit zu einer evangelikalen Pfingstkirche zu einem strengen Katholizismus, den er allein deshalb bevorzugt, weil er »alt« ist und die ewigen Werte der Familie, der Moral und Tugendhaftigkeit hochhält. Es wird kein Zufall sein, dass auch Augustinus ein Konvertit war.
Priorisierung bei knappen Ressourcen
Die Idee des Ordo Amoris formuliert das Gebot der Nächstenliebe als ökonomische Theorie: Wenn die Ressourcen begrenzt sind – und Ressourcen sind immer knapp! – muss man priorisieren. Das ist im Gesundheitswesen nicht anders als in der Flüchtlingspolitik. Wir können nicht die ganze Welt retten. Und schon gar nicht gleichzeitig.
Erwartbar fiel der Rest der Welt sogleich über JD Vance her. Nach dem Motto, alles was im Umkreis von Trump gesagt wird, kann nur Blödsinn sein. Doch JD Vance ist nicht blöd. Sieht man allerdings genauer hin, dann plädiert Augustinus zwar für eine Bevorzugung der Nahen in der Liebe. Aber für die enge Ideologie der Familie, wie sie im rechten amerikanischen Katholizismus vertreten wird, kann der Ordo Amoris nur mit Biegen und Kneten in Anspruch genommen werden. Deshalb noch einmal Augustinus wörtlich: »Alle Menschen sind in gleicher Weise zu lieben. Da man aber nicht für jedermann sorgen kann, so muss man vornehmlich für jene sorgen, die einem durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit oder irgendwelcher anderer Umstände gleichsam durch das Schicksal näher verbunden sind.«
Gewiss ist man mit seiner Herkunftsfamilie durch das Schicksal besonders verbunden, was eine besondere Verpflichtung zur Sorge impliziert. Aber eben nicht nur. Andererseits verbietet es sich aus dieser Perspektive, Millionen Hilfsbedürftiger aus der Ferne in unsere Nähe einzuladen (»Pullfaktor«), um sie mit unserer Liebe zu umschlingen. Thomas von Aquin (1225 bis 1274), ein Kirchenlehrer des Mittelalters, hat den Ordo Amoris als Ordo Caritatis präzisiert (den Unterschied zwischen Amor und Caritas vernachlässigen wir hier). Natürlich müssten wir uns als Erstes um jene kümmern, die uns räumlich am nächsten seien. Das aber könne je nach den verschiedenen Erfordernissen der Zeit, des Ortes und der jeweiligen Angelegenheit variieren. »Denn«, so Thomas, »in bestimmten Fällen sollte man beispielsweise einem Fremden in äußerster Not eher helfen als dem eigenen Vater, wenn dieser nicht in einer so dringenden Not ist.«
Auf diese Weise wird auch das Missverständnis korrigiert, der Auftrag, den Nächsten zu lieben, bedeute, alle Menschen zu lieben. Nicht jeder ist mein Nächster, würde Thomas sagen: Aber jeder kann mein Nächster werden. Oder noch einmal anders: Zwar gilt das Liebesgebot universal, was einen aber zugleich nicht von der Aufgabe entbindet, nach Präferenzregeln zu fragen, wer wem gegenüber primär beizustehen habe.
Charity begins at home
Der Ordo Amoris und die katholische Lehre der Subsidiarität weisen eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit der Schule der sozialen Marktwirtschaft, die gerne auch Ordo-Liberalismus genannt wird. Insbesondere Wilhelm Röpke, ein viele Jahre in Genf lehrender protestantischer Wirtschaftswissenschaftler, vertrat die Auffassung, Nächstenliebe müsse zuhause beginnen: »Charity begins at home«. Kümmere Dich zuerst um die Dir Nahestehenden, bevor Du gleich die ganze Welt zu retten Dich anschickst. Oder in einem anderen Bild Röpkes: Wenn wir ein Haus bauen, beginnen wir auch nicht mit dem Dachstuhl, sondern mit den Fundamenten. Mit dieser Richtschnur offenbart der Ordoliberalismus zweifellos seine konservativen Wurzeln, gehört doch das Denken in Ordnungen in die aus christlicher Tradition sich speisende ständisch-konservative Tradition der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, in der die Gründer der Sozialen Marktwirtschaft ihre formative Phase hatten. Es geht ihnen um den Respekt vor der von Gott gesetzten Ordnung im Unterschied zu den von Menschen gemachten Normen. Hier angekommen sind die Unterschiede zwischen JD Vance und Wilhelm Röpke auf einmal gar nicht mehr so groß.
Dafür, diese Nähe offenbart zu haben, müsste man JD Vance eigentlich dankbar sein, den es gewiss schütteln würde, würde man ihn einen Liberalen nennen. Macht man freilich Halt vor dem reaktionären Naturrecht, dann bleibt als positiver Ertrag des Denkens über den »Ordo Amoris« eine Präferenzethik der Nähe, die das fraglos vorhandene schlechte Gewissen entlasten kann, das uns angesichts des vielen Elends in der Welt regelmäßig befällt. Dieses schlechte Gewissen wird aber nur oberflächlich ruhig gestellt durch eine Gesinnungsethik des »Seid umschlungen Millionen«.
Rainer Hank