Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen05. November 2021
Die Macht der Stimmungen und die Stimmungen der MachtWie der Zeitgeist Politik und Wirtschaft beeinflusst
Gibt es eigentlich eine Wechselstimmung im Land? Das kommt darauf an, wen man fragt. Es gibt sie, und zwar auf Rekordniveau, behauptet eine Studie der Bertelsmann Stiftung vom August dieses Jahres. Fünfundfünfzig Prozent der Befragten sagten, es wäre gut, wenn die Bundesregierung in Berlin wechseln würde. Lediglich 16 Prozent optierten für den Status quo. Der Rest war unentschieden.
Ganz anderer Meinung ist der Wahlforscher Karl-Rudolf Korte: »Die Deutschen lieben Stabilität«, sagte er noch kurz vor der Wahl zum Bundestag am 29. September. Sie seien risikoavers und favorisierten das Bekannte. Keine Spur also von Wechselstimmung.
Was stimmt? Ich bin kein Wahlforscher, denke aber, beides könnte stimmen. Das wäre dann eine Erklärung für den unerwarteten Aufstieg von Olaf Scholz. »Deutsche Wähler mögen keine jungen Kennedys, keinen charismatischen Überschwang«, sagt Wahlforscher Korte. Solche Eigenschaften kann man Scholz nun wirklich nicht vorwerfen. Er verspricht einerseits Kontinuität, Verlässlichkeit und Respekt: Immerhin war er die vergangenen vier Jahre Finanzminister, ist nicht besonders aufgefallen, hat aber auch nichts wirklich falsch gemacht (sieht man einmal von Cum-Ex und Wirecard ab). Andererseits gibt er sich jetzt als Vertreter des gesellschaftlichen Fortschritts, der mit Grün und Gelb in einer »Koalition der Gewinner« vieles besser machen würde, was die SPD auch schon in den vergangenen drei großen Koalitionen hätte anders machen können. Auf Scholz können sich sowohl die einigen, die Wechsel wollen, als auch jene, die keine Experimente wollen. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner des Wahljahres 2021.
Wer wissen will, was wirklich eine Wechselstimmung ist, muss ein ganzes Stück zurückgehen in der Geschichte der Bundesrepublik. Zuletzt gab es so etwas im Jahr 1998, einige werden sich erinnern. Damals dominierte der Wunsch, den CDU-Kanzler Helmut Kohl abzuwählen. Statt Union und FDP wählten die Deutschen zwei Oppositionsparteien – Rot und Grün – in die Regierung. So einen Wechsel hat es nie zuvor und nie danach gegeben. Auch heute bilden zwar FDP und Grüne das eigentliche Machtzentrum der Koalitionssondierungen: Doch fest steht eben auch, dass sie sich mit Schwarz oder Rot einen Anker der vergangenen großen Koalitionen zur Stabilisierung suchen müssen.
Der inhaltlich gravierendste polit-ökonomische Stimmungsumschwung der Nachkriegszeit hat sich indessen zwanzig Jahre vor Kohls Abwahl in Großbritannien ereignet als 1979 Magret Thatcher zur Premierministerin gewählt wurde. Das war zugleich der Abschied von der Idee eines staatsgetriebenen, keynesianisch-interventionistischen Wohlfahrtsstaats, hin zur Überzeugung, dass Märkte eine allen nützende Wachstumsdynamik entfalten würden, wenn man sie nur machen ließe. Angebots- statt Nachfragepolitik. Hayek statt Keynes. Laissez faire statt finetuning. So, grob und ungefähr, lauteten die Parolen damals.Die neoliberale Wende
Die Wahl Thatchers war eine epochale Zäsur, bei der es um die Frage ging, wer die »Kommandohügel« (Lenin) in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft besetzt: Der Markt oder der Staat? Vom Jahr 1979 ging damals ein Signal in die Welt, dem sich weder rechte, noch linke, schon gar nicht liberale Parteien entziehen konnten. Nicht nur Ronald Reagan (1981) oder Helmut Kohl (1982), sondern eben auch Tony Blair (1997) und Gerhard Schröder (1998) zeigten sich davon überzeugt, dass der Wohlfahrtsstaat von seinen Verkrustungen befreit, Güter- und Arbeitsmärkte dereguliert und die Politik mit ihren bürgerbeglückenden Fantasien sich bescheiden müsse. Man nennt das heute die neoliberale Wende. Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder war so gesehen zwar personell ein Neuanfang, ideengeschichtlich blieb er ein Enkel Margret Thatchers – was im Übrigen (eine Lieblingsfloskel Schröders) nicht zum Schaden des Landes war, denkt man an die Agenda 2010.
An der neoliberalen Wende des Jahres 1979 zeigt sich die »Macht der Stimmungen«, von der der Soziologe Heinz Bude spricht. Doch was ist eigentlich eine Stimmung, wenn sie so viel Macht hat? Der Begriff stammt ursprünglich aus der Musik, wo es um die Festlegung von Frequenzverhältnissen geht, etwa in Bezug auf einen Referenzton wie den Kammerton »a« mit traditionell 440 Herz. Wenn es glückt, ist die Stimmung gut, wenn nicht, ist sie eher gedämpft. Aus der wohltemperierten Tönung der Musik hat sich der Begriff seit dem 18. Jahrhundert auf die Grundverfassung der Seele und das Verhältnis von Mensch und Welt erweitert. Eine Stimmung eint Menschen, mag die Gesellschaft auch ökonomisch, sozial oder politisch gespalten sein. Insofern übt die Stimmung ein Konformitätsgeschehen aus, das auch problematisch sein kann. Als sich zeigte, dass Armin Laschet hi und da nicht richtig zog, kippte die Stimmung, wie man so sagt – überraschenderweise zugunsten von Olaf Scholz, den vorher keiner auf dem Zettel hatte.
Auch wenn es immer wieder Stimmungsmacher gibt (gar Stimmungskanonen), so bleibt doch verstörend, dass hinter der Macht der Stimmungen kein lenkendes Subjekt steckt. Niemand führt Regie. Die neoliberale Wende hat vorher niemand ausgerufen, sie war plötzlich da, ohne dass man sie gleich so genannt hätte. Ähnlich ging es dann auch mit dem »Ende des Neoliberalismus« (Wolfgang Streeck), das man erst wahrnahm, als es schon hinter einem lag. Stimmungen, gar Wechselstimmungen, kommen zwar nicht aus dem Nichts, aber sie kommen doch irgendwie über uns, vergleichbar einer Euphorie, Nostalgie oder gar Depression.Besser nicht regieren?
Notabene – und damit zurück zur Politik – gibt es immer wieder Ereignisse, welche die herrschende Stimmung konterkarieren. Spektakulär passierte so etwas bei den Jamaika-Verhandlungen nach der Wahl 2017. Damals war die politische Stimmung eindeutig: Nie wieder Große Koalition. Dann gab es wochenlange Sondierungen für eine Jamaika-Koalition, welche die Liberalen am Ende platzen ließen, weil sie der Meinung waren, von Schwarz-Grün über den Tisch gezogen zu werden. »Besser nicht regieren, als schlecht regieren«, dieser Satz Christian Lindners ist seither das Trauma der Liberalen geworden, weil viele Wähler (vor allem viele Wähler, die zum ersten Mal FDP wählten) sich um ihre Stimme betrogen fühlten und den Liberalen vorwarfen, die herrschende Stimmung zu missachten.
Im Nachhinein zeigte sich, dass die Verhandlungen damals gezeichnet waren von Spannungen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien, bei welchen Egoismen und mit Misstrauen unterlegte interne Machtansprüche das Geschehen dominierten. Keiner traute keinem. Das führte dazu, dass es entgegen der verbreiteten Stimmung am Ende wieder zu einer von allen ungeliebten, großen Koalition kam.
FDP und Grüne haben aus dem Unglück von 2017 vor allem eines gelernt: Wer Stimmungen ignoriert, verliert. Vieles spricht dafür, dass sie dieses Mal die Macht der Stimmungen besser zu nutzen verstehen.
Gerkürzte Fassung meiner Einleitung zur Freiburger Tagungen »Stimmungen« am Walter Eucken Institut 8. Oktober 2021
Rainer Hank