Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen29. Mai 2024
Die AfD: It's not the EconomyWas aber sonst erklärt den Erfolg der Populisten?
Warum wählen Menschen dann die die AfD – sogar dann, wenn es ihnen (wirtschaftlich) gut geht? Es ist mir ein Rätsel.
Wir waren mit unserem Chor für ein paar Tage in Oberschwaben. Das ist, grob gesagt, das Land zwischen Ulm und dem Bodensee. In der warmen Frühlingssonne sieht es dort aus wie im Paradies (nur ohne Schlangen). Ausladendes Barock in jeder zweiten Dorf- oder Klosterkirche, Kühe auf der Weide, als posierten sie für die nächste Milka-Werbung. Und vor allem eine stabile Industriestruktur, die den Menschen auskömmliche Arbeits- und Lebenschancen bietet. Das sind die berühmten Hidden Champions, industrielle Weltmarktführer, zumeist im Familienbesitz, die außerhalb der Region kaum einer kennt. Aber natürlich auch Großkonzerne wie der Autozulieferer ZF in Friedrichshafen. Oder Liebherr: Die stellen riesige Baumaschinen her, verkaufen sie global und erwirtschaften mit 54.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 14 Milliarden Euro (2023). Von einer »soliden Auftragslage« berichtet der kürzlich veröffentliche Geschäftsbericht dieses Journalisten gegenüber äußerst verschwiegenen Unternehmens. Eine Exportquote von über 50 Prozent zeigt die internationale Ausrichtung der Region.
Es mag daran liegen, dass ein Teil meiner Familie aus der Region stammt, dass ich die Lage etwas zu rosig sehe. Ganz daneben liege ich nicht. Bis in die neunziger Jahre galt das Land traditionell als tiefschwarz und selbstverständlich katholisch. Wer für die CDU antrat, konnte mit einem Direktmandat rechnen, sei es im Stuttgarter Landtag oder im Bundestag. Dass die Bürgermeister aus der CDU kamen, verstand sich ohnehin von selbst. Seit der Jahrtausendwende haben dann auch die Grünen Boden gewonnen, weil die sich dort – es ist Kretschmann-Land – realo-öko-konservativ geben, besorgt um die Erhaltung unserer Schöpfung. Gottfried Härle, in vierter Generation Inhaber einer Bierbrauerei aus Leutkirch, für die Grünen im Stadtrat, vermarktet erfolgreich Bio-Bier und engagiert sich zugleich für die Integration von Flüchtlingen. Eine Initiative »Bleiberecht durch Arbeit« hat er mitgegründet. Schaffe muss ma scho, wenn man dauerhaft in »the Länd« bleiben will.
Man darf die Idylle am Bodensee ein wenig überzeichnen, um die derzeit tiefe Verunsicherung des politischen Establishments verstehen zu können: in dieser gottbegnadeten Region kommt die AfD zweitweise auf Zustimmungswerte von 20 Prozent und mehr. Die aktuellen Umfragen nach Russland-Spionageaffäre, Verfassungsschutzbeobachtung und »Remigrations«-Radikalismus lassen zwar auf einen Stimmen- und Stimmungsrückgang schließen. Doch es bleibt dabei: Sowohl bei der Europawahl wie auch für die am gleichen 9. Juni stattfindenden Gemeinde- und Kreistagswahlen sorgen sich viele Politiker von Schwarz und Grün. DerEin CDU-Bürgermeister eines kleinen Städtchens von Berkheim zum Beispiel, ein patenter Mann, mit dem ich im Anschluss an eines unserer Konzerte ins Gespräch komme, versteht die Welt nicht. Eigentlich habe sich doch nichts verändert, findet er. Warum wählt jeder Fünfte dann eine Protestpartei? Dass er die Welt nicht mehr versteht, ist das eigentliche Problem, finde ich. Das findet der Bürgermeister selbst auch.
Es könnte alles schlechter werden
Ich gehe auf die Suche nach Erklärungen. Karl-Rudolf Korte, ein bekannter Parteienforscher, verweist mich auf Forschungsergebnisse, wonach gerade in wohlhabenden ländlichen Industrieregionen – also so wie in Oberschwaben – die AfD Zuspruch findet – nicht, weil es den Menschen schlecht geht, sondern weil es ihnen gut geht, sie aber Angst haben, es könnte ihnen schlecht gehen. Einschlägig ist eine Studie des arbeitgebernahen »Instituts der Deutschen Wirtschaft« (iw) vom vergangenen Herbst: In prosperierenden Gegenden sei es nicht der Verlust von Industriearbeitsplätzen, der die Wähler in die Arme der rechtspopulistischen Globalisierungs-Opposition treibe. Stattdessen wirke sich gerade dort, wo die De-Industriealisierung weniger weit fortgeschritten sei als in anderen Regionen, die Sorge um den künftigen Industriestandort aus.
Das könnte sein, immerhin hören gerade die Bewohner aus Gegenden, die direkt oder indirekt von der Automobilindustrie abhängen, dass die Klima-Transformation keinen Stein auf dem anderen stehen lassen werde und die Zukunft des E-Autos eher aus Shenzhen in China als aus Bad Waldsee in Oberschwaben komme.Das AfD-Programm zu den Kommunalwahlen in Ravensburg gibt sich grundsolide und gibt das Versprechen, alles möge so bleiben, wie es ist, sofern die AfD an der Macht sein werde: Keine neuen Windräder, keine Schließung von Krankenhäusern, solide Haushalte, stabile Familien. Man will sich nicht »von oben« (Berlin, Stuttgart) erziehen lassen. »Illegale Migration« kommt im Ravensburger Programm übrigens erst auf Platz 6 möglicher Bedrohungen. »Bezahlkarte statt Bargeld« klingt auch nicht gerade besonders radikalistisch.
»Wirtschaft« ist kein eigener Programmpunkt der AfD in Oberschwaben. Das bestätigt die Auskunft von Thomas Petersen vom Institut für Meinungsforschung in Allensbach. »Das Gerede vom »abgehängten Prekariat« sei immer schon falsch gewesen, schreibt er mir: »AfD-Wähler fühlen sich nicht sozial, sondern kulturell abgehängt.« Das Einkommen habe praktisch keinen Einfluss auf Wahlentscheidungen. Es seien diffuse Ängste, auch vor Migranten, die in die Parteipräferenzen eingingen, die gerade Menschen in einer konservativen Region verunsicherten, meint der Wissenschaftler. Zudem gebe es im Schwäbischen einen »leicht überdurchschnittlichen Hang zu etwas sektiererischen Einstellungen«. Das bezieht sich meiner Ansicht nach aber eher auf die protestantischen Pietisten im württembergischen Unterland und nicht auf Katholiken im Oberland.
Jens Südekum, ein Ökonomieprofessor aus Düsseldorf und mein letzter Gewährsmann für heute, verweist mich auf Forschungen aus den USA, die nahelegen, dass die Menschen inzwischen derart opak in verfeindeten Lagern »hyper-polarisiert« seien, dass ökonomische Faktoren einfach nicht mehr so wichtig seien wie dereinst. Klassischerweise nahm die politische Ökonomie an, dass sich ökonomische Befindlichkeiten direkt in das Verhalten an der Wahlurne übersetzen. Vielleicht greife in Westdeutschland mittlerweile eine den USA vergleichbare Polarisierung um sich, die sich um die Wirtschaftslage wenig schert, fragt Südekum. »It’s the economy, stupid«, der berühmte Spruch Bill Clintons, wonach die wirtschaftliche Situation Wahlen entscheide, wäre dann inzwischen falsifiziert.
Schon hilfreich, aber wirklich befriedigend sind all diese Hypothesen nicht. Das ist tröstlich und beunruhigend zugleich: Weder theoretische noch empirische Forschung weiß viel mehr darüber, was im Land gerade los ist als derein Bürgermeister aus demeiner oberschwäbischen BerkheimKleinstadt.
Rainer Hank