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  • 17. März 2025
    Der Kündigungsagent

    Genug gearbeitet Foto National Archief

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum man nicht immer authentisch sein braucht

    In Japan gibt es spezielle Agenturen, die Angestellten die Kündigung bei ihrem Arbeitgeber abnehmen. Darüber habe ich kürzlich in der Financial Times gelesen. Japaner gehen nicht zu ihrem Boss und sagen: »Hiermit kündige ich« oder verfassen ein Schreiben an die Personalabteilung, in dem sie mitteilen, zum nächstmöglichen Zeitpunkt das Unternehmen verlassen zu wollen. Sondern sie mandatieren einen Dienstleister, der für sie den gesamten Prozess abwickelt: Ausschließlich die vertretende Agentur kommuniziert mit dem Arbeitgeber, regelt die arbeitsrechtlichen Dinge, den Zeitpunkt des Ausscheidens und klärt, wann das Diensthandy und der Dienstwagen zurückgegeben wird. Das machen die natürlich nicht umsonst. Der Service kostet im günstigen Fall umgerechnet 150 Euro pro Kündigung.

    Nun könnte man sagen: Andere Länder, andere Sitten. Oder man könnte mit der Theorie der Arbeitsteilung argumentieren: Wenn es Headhunter gibt, die einem einen Job vermitteln, darf es auch Spezialisten geben, die einem dabei helfen, den Job wieder loszuwerden. Doch das Verhalten bleibt – aus dem fernen Westen betrachtet – kurios und irrational. Warum geben Leute in Japan Geld für eine Dienstleistung aus, eine Formalie, die sie ohne zusätzliche Kosten selbst übernehmen könnten? In Europa oder USA kommt, soviel ich weiß, niemand auf die Idee, sich einen Kündigungsagenten zu nehmen.

    Tatsächlich ist eine Kündigung eben nicht »kostenlos«. Jedenfalls ist das in Japan so, wo andere kulturelle Normen gelten. Erwartet wird – oder wurde jedenfalls lange Zeit -, dass man möglichst ein Leben lang treu beim selben Arbeitgeber bleibt, diesem dafür dankbar ist und klaglos bis in die Nacht hinein schuftet. Wer kündigt, fühlt sich schuldig. Und fürchtet, er könnte den Konflikt der Trennung allein nicht durchhalten. Sein Boss könnte ihn womöglich überreden, zumindest noch bis zum Ende des laufenden Projekts zu bleiben, um die Kollegen nicht im Stich zu lassen. Oder, schlimmer noch, der Vorgesetzte könnte die Gründe für die Kündigung erfragen – und dann müsste der Untergebene ihm ehrlich ins Gesicht sagen, dass er sich nicht gut behandelt fühlt. So eine Blöße will niemand sich geben, die dem Höhergestellten einen Gesichtsverlust zumutet.

    Die Kosten der Kommunikation

    »Zu kommunizieren hat für Japaner hohe Kosten«, erklärt Daisuke Kanama, ein Ökonomieprofessor, der ein Buch über die »leise kündigende Jugend« Japans geschrieben hat. Im Vergleich mit den Kommunikationskosten der Kündigung sind 150 Euro Delegationsgebühren zur Vermeidung dieser Gewissensqual günstig. Man zahlt für die Vermeidung von Kommunikation und Konfrontation. Und entledigt sich des Risikos, mit moralischen Appellen oder persönlich bedrängender Kritik zur Revision seiner Absicht genötigt zu werden. Im Lichte dieser Gewissensüberlegungen wird die Entstehung eines Marktes von Kündigungsagenturen plötzlich eine rationale Angelegenheit. Auch wenn diese Agenturen sich derzeit noch in einer rechtlichen Grauzone bewegen, wie die Financial Times schreibt.

    Unter der Perspektive rationaler Kosten-Nutzen-Erwägungen scheint mir das Verhalten der Japaner plötzlich gar nicht mehr so fernöstlich kurios zu sein, wie es auf den ersten Blick daherkommt. Im Westen profitieren Unternehmensberatungen wie McKinsey & Co. seit vielen Jahrzehnten vom menschlich verständlichen Wunsch der Vermeidung direkter Kommunikations- und Konfrontationskosten. Ist es nicht einfacher, der Belegschaft und den Gewerkschaften zu sagen, der Berater habe dringend empfohlen, die Zahl der Mitarbeiter um zehn Prozent zu reduzieren, um international konkurrenzfähig zu bleiben? Der Vorstand ist fein raus, nach dem Motto: Da kann man nichts machen.

    Im Preis der Dienstleister ist quasi ein Aufschlag für die Rolle des »Bad Guy« oder wahlweise des »Sündenbocks« enthalten. Unpopuläre Entscheidungen werden externalisiert. In der betriebswirtschaftlichen Literatur ist der Mechanismus längst untersucht. »Moral Licencing« heißt der Prozess, durch den sich Vorstände reinwaschen können, wenn sie externe Berater hinzuziehen. Von den Externen gibt es nicht nur nüchterne Analysen, sondern auch Narrative, die die Rationalisierung als »alternativlos« darstellen.

    Das Problem ist nur, dass »Moral Licencing« kein Zaubermittel ist. Die Mitarbeiter merken die Absicht und reagieren verstimmt. Da geben die Chefs viel Geld aus für das Ziel, Geld zu sparen. Das sieht zumindest vordergründig paradox aus, weil es nicht leicht fällt nachzuweisen, dass sich die für Beratung ausgegebene Summe in künftigen Bilanzen rechnen wird.

    Institutionen entlasten

    Externalisierer leben mit dem moralischen Makel der Verlogenheit, zumindest der absichtsvollen Unaufrichtigkeit. Dahinter verbirgt sich ein philosophischer Grundsatzstreit. Das Pathos der Aufklärung verlangt Ehrlichkeit und Direktheit der Kommunikation. »Sei authentisch!«, so geht der moralische Imperativ. Gegen diese Authentizitätszumutung gibt es eine lange Tradition in der sogenannten philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die mit den Namen Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen verbunden ist. Diese Denker vertreten die Auffassung, der Mensch sei ein »Mängelwesen«, weil ihm die angeborenen Instinkte abgehen, mit denen sich die Tiere durch das Leben bewegen. Doch gerade diese Schwäche haben die Menschen zu einer Stärke umgewidmet. Sie können den Mangel kompensieren, indem sie sich Institutionen zimmern, die das scheinbar instinktreduzierte Unvermögen ausgleichen. Kultur, Technik – und vor allem die Institutionen des Marktes wären so gesehen hilfreiche Krücken, eine Errungenschaft menschlicher Fortschrittsgeschichte.

    Scheler, Plessner, Gehlen gelten als »konservativ«. So habe ich es in den siebziger Jahren an der Universität gelernt. »Progressiv« dagegen waren die Helden der kritischen Theorie Adorno, Horkheimer und deren Nachfolger. Doch was heißt schon konservativ und progressiv? Die Klischees verschwimmen rasch, so kann man es in einem gerade bei Klett-Cotta erschienenen Buch von Thomas Wagner über »Die großen Jahre der Soziologie« nach 1945 nachlesen, in dem Gehlen und Adorno als Protagonisten auftreten. Der Vorwurf der Unaufrichtigkeit allemal billig.

    Zurück nach Japan. Es scheint mir nicht nur mehr als verständlich zu sein, dass die Japaner sich die Gewissensbisse verursachenden Qualen einer Kündigung ersparen wollen und dafür Geld zu zahlen bereit sind. Es ist zudem eine wunderbare Leistung des Marktes, dass für dieses Bedürfnis auch ein Angebot entsteht und Dienstleister diese Arbeit übernehmen. Und am Ende kann man dabei zugucken, wie gesellschaftliche Evolution funktioniert: Die starre Kultur lebenslanger Beschäftigung in einem Unternehmen mit unzumutbar aufopfernden Loyalitätszumutungen wird sich lockern. Ein Gewinn an Freiheit für die Menschen.

    Rainer Hank