Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen08. März 2021
Der Fluch des LobbyismusWarum es ohne Kreative Zerstörung keinen Wohlstand gibt
Was ist der Unterschied zwischen Steve Jobs und Carlos Slim? In beiden Fällen handelt es sich um steinreiche Männer. Der Mexikaner Slim gilt mit einem auf knapp 70 Milliarden Dollar geschätzten Vermögen sogar als der reichste Mann der Welt. Der entscheidende Deal seines Lebens gelang ihm im Jahr 1990 bei der Privatisierung der mexikanischen Telefongesellschaft Teléfonos de Méxiko (Telmex): Geschickt verstand er es, aus dem ehemals staatlichen ein privates Monopol zu machen. Slims Glück war es, dass der Telekommunikationssektor des Landes wenig reguliert war und insbesondere nicht der dortigen Wettbewerbsbehörde unterstand.
Wer Steve Jobs ist, weiß jedes Kind. 1976 gründete er mit Freunden den Computerhersteller Apple. iPhone, iPad oder Mac setzen heute die technischen und ästhetischen Standards für unsere digital mobile Welt. Im Jahr 2011, dem Jahr seines Todes, wurde Jobs Vermögen auf gut acht Milliarden Dollar geschätzt.
Doch worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Milliardären? Längst hat auch Apple eine marktbeherrschende Stellung. Im Unterschied zu Slim bezieht Apple indes seine Macht aus eigener kreativer Leistung: Der Konzern erfüllt Bedürfnisse vieler Menschen, die vor iPhone & Co. noch gar nicht wussten, dass sie dieses Bedürfnis haben. Slims Erfolg beruht dagegen auf erfolgreichem Lobbying, mit dem er die Wettbewerber um das Riesenschnäppchen ausgestochen hat.
Lobbyismus zementiert Monopole
Das ist ein Grund, warum wir Steve Jobs als Unternehmer mehr bewundern als Carlos Slim. Das ist aber auch der Grund, warum Jobs viel mehr Innovatives zur Entwicklung des Kapitalismus beigetragen hat als Carlos Slim. Man kann noch einen Schritt weitergehen: Lobbyismus schadet dem Fortschritt. Ökonomen haben errechnet, dass auf Lobbyismus fußende Firmen weniger produktiv sind und zugleich höhere Gewinnmargen einstreichen als andere Firmen. Sie nehmen Wettbewerbern die Chance auf einen erfolgreichen Markteintritt. Lobbyismus ist ein Instrument, sich politisch abgesicherte Monopolstellungen zu erkaufen. Dass es lediglich um Informationsaustausch zwischen Staat und Wirtschaft gehe, ist Propaganda ohne empirisches Fundament. Kein Wunder, dass allein in den Vereinigten Staaten für Lobbyarbeit jährlich geschätzt drei Milliarden Dollar ausgegeben werden. Dagegen helfen auch keine noch so ausgefeilte Lobbyregister. Lobbyismus sichert nicht nur trägen Unternehmen das Überleben, sondern füttert auch die Privatkassen der Fabrikanten. Fortschritt und Wohlstand haben das Nachsehen.
Die Unterscheidung zwischen schöpferischen und trägen Unternehmen geht auf den österreichischen Ökonomen Josef Schumpeter (1883 bis 1950) zurück. Er prägte die Formel von der »kreativen Zerstörung«. Neues kann nur entstehen, wenn Altes verschwindet. Jeder Startup-Unternehmer will – wenn nicht intentional, so als Konsequenz seiner Erfindung – den Platzhirsch der Branche überflügeln. Jeder Platzhirsch will mit allen Mitteln verhindern, dass Newcomer ihn entmachten. Seit wir mit dem iPhone alles fotografieren, was uns vor das Handy kommt, sehen wir kaum mehr Fotoapparate, brauchen wir keine Filme und gibt es keine Fotogeschäfte mehr. Seit wir online unsere Bahn- oder Flugtickets kaufen, müssen wir nicht mehr an zugigen Bahnhöfen Schlange stehen. Das zerstört Jobs; niemand braucht heute noch Ticketverkäufer oder Schalterbeamten in einer Bankfiliale. Die Commerzbank schließt derzeit eine Zweigstelle nach der anderen: Zerstörung zum Zugucken. Banking findet heute vor dem PC statt.
Schöpferische Zerstörung und Innovation sind die zentralen Treiber von Wachstum und Wohlstand. Der Ökonom Philippe Aghion baut auf diese Grundüberzeugung eine Theorie der Legitimation des Kapitalismus. Aghion, 1956 in Paris geboren, ist ein Wanderer zwischen den Welten, er kennt den angelsächsischen und den europäischen Kapitalismus. Derzeit ist er Professor am Collège de France in Paris und unterrichtet an der London School of Economics (LSE). Zuvor war er Professor für Ökonomie an der renommierten Harvard Universität. Die Summe seines Denkens hat er jetzt (zusammen mit Co-Autoren) in einem lesenwerten Buch niedergelegt. Es trägt den Titel: »Die Macht der kreativen Destruktion«. Im vergangenen Jahr auf Französisch erschienen, kommt es in ein paar Wochen auf Englisch bei Harvard University Press heraus. Wer es leid ist, sich mit Inzidenzwerten und Impfgegnern herumzuschlagen und mal was anderes braucht, dem sei Aghions Buch wärmstens empfohlen. Nicht wenige Kollegen des französischen Gelehrten sind der Meinung, er habe dringend den Nobelpreis verdient.
Kuschelkapitalismus oder gnadenloser Kapitalismus
Was trägt die These der schöpferischen Zerstörung aus? Dass erst vom Jahr 1820 an der Wohlstand der Massen in England und Frankreich sich entwickelte – bis dahin herrschte Stagnation – liegt nicht nur an den technischen Erfindungen der industriellen Revolution, sondern auch an der Gründung entsprechender Institutionen, die Zerstörung zulassen und deren Folgen abfedern: Wettbewerb, die Achtung vor geistigem Eigentum, aber auch die Kompensation der Verlierer durch einen Wohlfahrtstaat. Der Sozialstaat ist so gesehen keine Bremse des kapitalistischen Fortschritts, sondern einer seiner Treiber.
Was Aghion schreibt ist den Freunden des deutschen Neoliberalismus Freiburger Provenienz (»soziale Marktwirtschaft«) vertraut. Hierzulande heißt das, etwas angestaubt, Ordnungsökonomik. Was Aghions Buch Schlagkraft verleiht ist indes, dass er für alle normativen Annahmen empirische Belege beibringt (siehe Lobbyismus). Wenn man etwa die Zahl neuer und verschwundener Unternehmen in einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum addiert und in Beziehung zum Wachstum setzt, so zeigt sich: Je volatiler die kreative Zerstörung, um so größer die Innovationskraft, umso höher das Wachstum.
Der Staat muss vor allem für eine funktionierende Wettbewerbsordnung sorgen. Er soll sich aber auch darum kümmern, dass potenzielle Innovatoren ihr Potential ausspielen können. Bedauerlicherweise ist die Wahrscheinlichkeit, kreativer Erfinder oder Unternehmensgründer zu werden, bei gleichem Intelligenzquotienten viel größer, wenn die Eltern gebildete und reiche Leute sind. Das ist ungerecht und lässt innovative Ideen brach liegen. Daraus folgt der pädagogische Auftrag an die Schulen, noch mehr als bisher für gleiche Chancen zu sorgen – im Sinne der Kinder und des Kapitalismus.
Aghion unterscheidet zwischen dem gnadenlosen Kapitalismus (»cutthroat«) in den Vereinigten Staaten und dem Kuschelkapitalismus (»cuddly«) in Schweden oder Deutschland. Welcher ist besser? Auf den ersten Blick macht die angelsächsische Variante das Rennen: Denn nur hier entsteht über Innovation Wachstum (man denke an das Silicon Valley), das auch dem Rest der Welt in den Kuschelländern zugutekommt. Andererseits haben die Europäer weniger Ungleichheit, resilientere Gesundheitssysteme (in Zeiten von Corona nicht unwichtig) und sind besser gegen makroökonomische Schocks gewappnet (Kurzarbeitergeld zum Beispiel). Aghion träumt von einer Versöhnung beider Kapitalismen: Die Europäer reformieren marktwirtschaftlich (Agenda 2010), die Amerikaner reformieren sozialstaatlich (Obama-Care). So hätte dann auch der Wettbewerb der Kapitalismen am Ende sein Gutes.
Rainer Hank