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  • 25. Juli 2024
    De-Radikalisierung

    Wo ist der beste Standort? Foto Frank Bandle/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was europäische Parteienlandschaft mit zwei Eisverkäufern zu tun hat.

    Beginnen wir mit einem sommerlichen Experiment. Ein Strand von 10 Meter Breite und 100 Meter Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten ihr Eis zu vergleichbarer Qualität und zu vergleichbaren Preisen an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.

    Die beiden Eisverkäufer wären optimal positioniert, wenn sie gleich große Einzugsgebiete hätten und so möglichst jeden Kunden versorgen könnten. So bediente einer die linke, der andere die rechte Seite des Strands jeweils in der Mitte seiner Strandhälfte. Dann haben die Badegäste, faul wie sie sind, jeweils den kürzesten Weg zu einem der beiden.

    Da die beiden Eisverkäufer Kapitalisten und pfiffige Konkurrenten sind, passiert nun aber Folgendes. Der rechte Eisverkäufer denkt sich: »Wenn ich mich ein bisschen mehr in Richtung meines Konkurrenten bewege, dann wird mein Einzugsgebiet größer. Denn dann ist der Weg zu mir für mehr Strandgäste kürzer als vorher und ich verkaufe mehr Eis.« Das entgeht dem Kollegen, der den linken Strandabschnitt bedient, natürlich nicht. Er tut es seinem Wettbewerber gleich und bewegt sich seinerseits nach rechts. Am Ende treffen sich die beiden in der Mitte – was den offenkundigen Nachteil hat, dass die Badegäste, die nah den Felsen recht oder links lagern, jetzt deutlich längere Wege in Kauf nehmen müssen, um an eine Kugel Eis zu kommen.

    Ein Gedankenexperiment

    Das Gedankenexperiment ist berühmt. Es stammt von dem Ökonomen und Mathematiker Harold Hotelling (1895 bis 1973), der es 1929 veröffentlichte. Damals lehrte er an der Stanford Universität in Kalifornien. Später wechselte er an die Columbia Universität nach New York. Hotelling ist heute als Wissenschaftler nicht mehr sehr bekannt. Zu seinen Schüler gehören indessen berühmte Ökonomen, unter ihnen Milton Friedman und Kenneth Arrow.

    In der Wirtschaftstheorie taugen Hotellings Eisverkäufer als Beleg dafür, warum rational handelnde Produzente ihre Produkte so ähnlich wie möglich im Vergleich zu ihren Wettbewerbern gestalten. Das interessiert mich hier nicht. Die Theorie bietet sich aber auch an zur Erklärung des politischen Wettbewerbs zwischen Parteien. Schaut man sich in Europa in diesen unruhigen Zeiten um, wäre es einen Versuch wert, mit Hotelling die De-Radikalisierung ehemals extremer Parteien zu beschreiben.

    Beginnen wir mit Giorgia Meloni in Italien. Sie ist mein Paradebeispiel einer rationalen Eisverkäuferin. Angefangen hat sie als extreme Postfaschistin. Inzwischen hat sie sich in ihren politischen Ansichten derart gemäßigt, dass sie von konservativen Politikerinnen in der ganzen EU hofiert wird, nicht zuletzt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Meloni verurteilt den Krieg Putins mindestens so vehement wie der SPD-Kanzler Olaf Scholz (wenn nicht noch stärker) und spricht mit Abscheu über das terroristische Gemetzel der Hamas in Israel. Hätte man gedacht, sie würde die Grenzen nach Lampedusa schließen und Flüchtlinge im großen Stil abschieben, so sieht man sich auch hier getäuscht: Seit sie im Oktober 2022 die Macht übernommen hat, ist die illegale Migration nach Italien nicht etwa zurückgegangen. Zurückgegangen ist dagegen in der italienischen Öffentlichkeit die Angst vor den Migranten, wie der in Oxford forschende bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in einem Paper nachweist: Die Menschen fühlen sich ernst genommen.

    Melonisierung?

    »Melonisierung«, so lautet der Begriff für den Weg, den die Eisverkäuferin Meloni zurückgelegt hat vom faschistischen Extrem in die Mitte der Gesellschaft. Dass und wie Marine LePen quasi avant la lettre es ihr gleichgetan hat, konnte man in dieser Woche vielfach sehen und lesen. Der Erfolg gibt beiden Politikerinnen recht.

    Blicken wir nach links und also nach Großbritannien, so haben sich auch hier die Eisverkäufer der Labour-Partei in Bewegung gesetzt. Jeremy Corbyn war ein strammer Sozialist. Er stand für klaren Antikapitalismus, für Verstaatlichung wichtiger Industrien, für die Erhöhung der Steuern und für mehr staatliche Ausgaben. Das gefiel den marxistischen Nostalgikern, aber leider nicht den Wählern. Sein Nachfolger Keir Starmer, zusammen mit seiner Chefökonomin Rachel Reeves, hat sich von solchen Träumereien verabschiedet, setzt auf Wachstum und Marktwirtschaft und eine Disziplinierung der Staatsfinanzen. Das ist sein Rezept, um die Linke erstmals seit vierzehn Jahren in Großbritannien wieder an die Macht zu bringen.

    An die Seite stellen ließe sich Starmer, cum grano salis, die deutsche Sarah Wagenknecht. Sie begann als Edelmarxistin und Wiedergeburt Rosa Luxemburgs, bekehrte sich dann, zumindest rhetorisch, zur Freiburger Schule der sozialen Marktwirtschaft und hat seit der Gründung von BSW, dem Bündnis Sarah Wagenknecht, eine ordentliche Portion wohlfahrtsstaatlich großzügigem Nationalismus mit im Angebot für den Wähler. In Thüringen wird sie, nach allem, was uns die Wahlumfragen sagen, ihre Erfolgssträhne fortspinnen.

    Schaut man sich an Europas politischen Stränden um, so ist der Zug von den Rändern in Richtung Mitte nicht zu übersehen. Das widerspricht der gängigen These von der Radikalisierungsspirale und ist so gesehen eine tröstliche Nachricht. Denn es beweist auch: Politiker verhalten sich (mehr oder weniger) rational, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Offenbar funktioniert auch die Demokratie einigermaßen rational. Nun kann man natürlich immer sagen, das seien lauter Wölfinnen im Schafspelz: Irgendwann werde Meloni ihr schwarzes Mussolini-Gewand anziehen und LePen sich als Hardcore-Rechte outen, sobald sie an der Macht ist. Doch bislang gibt es keine Indizien dafür.
    Unübersehbar ist dagegen, dass es in der Mitte eng wird – vor allem für die »Altparteien«, die das Problem haben, dass sie das falsche Eis im Angebot habe – oder anders gesagt keine Antworten auf die Sorgen der Menschen (Migration ist nur eines dieser Themen).

    Gewiss, es gibt es auch Signale, die Hotelling widersprechen. Die polnische PIS-Partei war ursprünglich moderat, Victor Orbans Fidesz kommt aus einer liberalen Tradition. Und auch die deutsche AfD hat sich kontinuierlich radikalisiert, so lange bis die Eisverkäufer mit ihrem Kopf gegen die Felswand stießen. Und dann gibt es noch den ziemlich durchgeknallten Donald Trump in den USA. Aber das ist eine andere Geschichte.

    Schon klar: Wenn sich die Extremen in die Mitte bewegen, gibt es an den Rändern wieder Platz für radikale Wettbewerber.

    Rainer Hank