Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen05. August 2019
Das Trauma der deutschen EinheitWarum die Marktwirtschaft keine objektiven Werte hat
Bald ist es dreißig Jahre her, ein Zeitraum von mehr als einer Generation: 30 Jahre Mauerfall am 9. November 1989. Es folgte ein knappes Jahr kreativer Ost-Anarchie, bis am 3. Oktober 1990 der erste Tag der deutschen Einheit gefeiert wurde. Welche ein Aufbruch! Ich erinnere mich an eine Recherche-Reise als Wirtschaftsjournalist im kalten Januar 1990 nach Leipzig, Halle und Ost-Berlin (damals noch »Hauptstadt der DDR«), die mir erschien wie die Entdeckung eines unbekannten Kontinents. Den Grenzübertritt in Herleshausen muss man sich vorstellen wie den Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß mitten in einem Film. Hinter der Grenze waren die Häuser überall grau. Ich sollte die für das »Leseland DDR« legendären Verlage des Ostens besuchen. Bei Reclam Leipzig hatten sie gerade den verschlafenen Direktor gefeuert (»friedliche Revolution«) und setzten nun auf einen von den Mitarbeitern verwalteten Betrieb, eine Art jugoslawische Arbeiter-Kommune als Modell für die neue Zeit. Lauter sympathische Träumer waren das, »gärig« könnte man die Stimmung nennen, wäre das Wort nicht durch Alexander Gauland kontaminiert.
Und heute? Katzenjammer, Ignoranz und viele böse Worte. Die Helden von damals streiten wie die Kesselflicker, wem das revolutionäre Vorrecht der welthistorischen Zäsur zusteht – den träumenden Protagonisten der DDR-Opposition oder dem Volk der Realisten, das endlich leben und konsumieren wollte wie die Brüder und Schwestern im westlichen Kapitalismus. Irgendwie sind sich alle einig, dass die Sache der Wiedervereinigung nicht richtig gelungen ist – vor allem nicht in den inzwischen in die Jahre gekommenen »neuen Bundesländern«, die immer mehr einer Art Nationalpark gleichen mit viel blühenden Landschaften und immer weniger, dafür aber immer lauter werdenden Enttäuschten, Abgehängten und Traumatisierten. Die erzählen sich und uns im Westen eine Geschichte der Entwürdigung und Entwertung. Vorige Woche lief auf ZDF-Info ein sehenswerter Film »Sachsen zwischen Mauerfall und Rechtspopulismus«, in dem das derzeit vorherrschende Ost-Narrativ zu Wort kam: Die westlichen Kapitalisten haben nach 1990 den Osten platt gemacht, um ihn als Absatzmarkt für ihre Westprodukte und als verlängerte Werkbank für billige Arbeitskräfte zu missbrauchen. Als Instrument dieser perfiden Politik gilt die brutal alles privatisierende Treuhand-Anstalt, auf die sich AfD, Linke und Teile der SPD (etwa die sächsische Integrations-Ministerin Petra Köpping) seit geraumer Zeit eingeschossen haben. Es sieht gerade so aus, als hätte es vor 1990 zwischen Ostsee und Elbsandsteingebirge blühende Landschaften gegeben, welche aus eigennützigen Gründen vom Westen zerstört wurden – eine Geschichtskonstruktion, die zwingend vom DDR-Sozialismus über den Neoliberalismus (Treuhand) in den AfD-Nationalismus führt.
Ein kurzer Weg von Magedburg nach Wolfsburg
Dass diese Deutung eine Pervertierung der Wahrheit ist, hat die ehemalige Treuhand-Chefin Birgit Breuel vor zwei Wochen im FAS-Interview klargemacht. Die Chemie-Region Bitterfeld-Leuna sei ihr vorgekommen, »wie eine Welt, die vergessen hatte unterzugehen«. Weit und breit nichts von blühenden Landschaften. Wo aber lagen dann die Fehler, dass Helmut Kohls Versprechen von damals vielen heute wie Hohn erscheint? In den neunziger Jahren gab es bei uns eine vorherrschende Deutung, wonach die Währungsunion (eine Ostmark gegen eine D-Mark) und die von Gewerkschaften und Arbeitgebern im Kartell beschleunigt vollzogene Lohnerhöhung ostdeutsche Arbeit und Produkte derart verteuert habe, dass diese am Markt nicht mehr absetzbar gewesen seien. Das Argument ist auch heute nicht falsch, klingt aber doch sehr theoretisch. Was hätte ein solcher Wettbewerbsvorteil gebracht? Der Treck nach Westen wäre nicht aufzuhalten gewesen, der Braindrain noch viel dramatischer ausgefallen. Seit der Flüchtlingskrise kennen wir Push- und Pullfaktoren: Zwischen Magdeburg und Wolfsburg gibt es noch nicht einmal ein Mittelmeer.
Wenn die Mauer erst am 9. Novemer 2019 fiele
Man stelle sich für einen Moment vor, die DDR existiere heute immer noch und die Maueröffnung stehe am 9. November 2019 erst noch bevor. Alle (auch die klügsten Ökonomen) wären vorbereitet und könnten alles besser machen. Ich wage die Vermutung, die Geschichte würde nicht viel anders verlaufen: Schock und Trauma des Systemwechsels wären nicht zu vermeiden, so fatalistisch es klingen mag. Woran das liegt? Es könnte damit zusammenhängen, dass es in einer Marktwirtschaft keine »objektiven« Werte gibt. Das ist schwer zu ertragen, weil es in Revolutionszeiten eine Erfahrung von Entwertung und Entwürdigung nach sich ziehen muss. Plötzlich waren die Fabriken und die in ihnen herstellten DDR-Produkte nichts mehr wert. Niemand, auch niemand in Osteuropa und selbst in den neuen Bundesländern, wollte noch einen Trabant kaufen, den zugeteilt zu bekommen kurz vorher noch ein großer Wert gewesen wäre. An der objektiven Beschaffenheit des Trabant hatte sich vor und nach 1989 nichts geändert. Trotzdem war er wertlos geworden: dabei hatten die Arbeiter ihn immer noch so gewissenhaft gefertigt wie früher. Aber ihre Arbeit wurde plötzlich nicht mehr gebraucht. Solch eine Entwertung vergisst man nie. Womöglich kommt die Wut erst Jahre später.
Man kann sich diese »subjektive« Wertlehre der Marktwirtschaft an einem ganz anderen historischen Beispiel klarmachen: Als am 11. November 1918 genau um elf Uhr zwischen den kriegführenden Parteien des Ersten Weltkriegs ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, waren die modernsten britischen Panzer, die auf Befehl von Rüstungsminister Winston Churchill gerade fertig geworden waren, auf einen Schlag nichts mehr wert. An den Panzern selbst hatte sich nichts geändert – bloß der Preis verfiel. Der aber ist entscheidend, weil einzig er den Wert einer Sache definiert. Er hängt bekanntlich von Angebot und Nachfrage ab. In den neunziger Jahren haben offenkundig noch nicht einmal die Marktwirtschaftler aus dem Westen ihrer subjektiven Werttheorie geglaubt. Anders wäre es nicht erklärbar, dass Detlev Rohwedder, der erste Präsident der Treuhand, den »Wert« der ostdeutschen Wirtschaft anfangs auf 700 Milliarden DM taxierte; am Ende stand da ein Defizit von über 200 Milliarden DM, das vom (west)deutschen Steuerzahler beglichen werden musste. Selbst wenn die Fabriken im Osten weniger verrottet gewesen wären, als sie es faktisch waren: sie wären wertlos geworden, nachdem keiner die Produkte mehr haben wollte.
Karlheinz Paqué, ein Ökonomieprofessor aus Magdeburg, der viel über die deutsche Vereinigung geforscht hat, vermutet, dass uns das Verständnis für die Irrelevanz des Sachkapitals heute, im digitalen Zeitalter, vertrauter geworden sei. »Flixbus« ist nicht erfolgreich, weil der Firma viele grüne Busse gehören. Die standen früher wertlos auf den Fuhrparks der Provinz herum. Der »Wert« von Flixbus beruht auf einer simplen Idee, nämlich einer Plattform, welche die Wünsche der Kunden koordiniert. Vielleicht wüssten wir eines heute besser: Es kommt nicht auf Kapital und Transfers an, es kommt auf Ideen an. Aber wer hätte für diese Erkenntnis weitere 30 Jahre Sozialismus in Kauf nehmen wollen?
Rainer Hank