Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen01. November 2022
Das Rollkoffer-RätselVerhindern die Männer die besten Erfindungen?
Warum kam man erst im Jahr 1972 auf die Idee, Räder an Reisekoffer zu montieren – obwohl es das Rad schon seit 5000 Jahren gibt. Die Frage ist faszinierend. Denn inzwischen können wir uns eine Welt ohne unsere Rimowa-Koffer gar nicht mehr vorstellen. Tänzerisch drehen die Dinger sich auf ihren vier Rädern um die eigene Achse; lässig und leicht ziehen wir sie hinter uns her.
Das Rollkoffer-Rätsel lässt mich nicht mehr los seit ich vergangene Woche bei der Verleihung des Wirtschaftsbuchpreises der schwedischen Autorin Katrine Marçal zugehört habe, die dem Trolley ein ganzes Buch gewidmet hat und der Frage, warum sich die naheliegendsten Innovationen manchmal erst Jahrtausende später (oder gar nicht) durchsetzen. Offenbar ging es anderen wie mir: Katrine Marçal wurde vom anwesenden Publikum in einer Spontanwertung auf Platz eins unter den zehn Finalisten ausgezeichnet.
Die Antwort auf die Rollkofferfrage, die die Schwedin anbot, war beim anschließenden Häppchengeplauder heiß umstritten. Einmal mehr sollen nämlich die Männer schuld sein. Ein echter Mann trägt seinen Koffer selbst, wozu hat ihm der liebe Gott ein dickes Muskelpaket geschenkt, sagt Katrine Marçal. Und wenn er ein Kavalier sein wollte, dann trug er natürlich auch das Gepäck seiner Gemahlin. Rollen wären dem Mann weichlich und weibisch vorgekommen. Weil die meisten Erfindungen in der Weltgeschichte von Männern gemacht wurden, kamen die Rollen erst an den Koffer, nachdem die Männer historisch bedeutsamere Erfindungen hinter sich hatten – zum Beispiel einen Kurzausflug auf den Mond. Wir Männer sind also selbst schuld daran, dass wir aus falschem Stolz Jahrhunderte lang sinnlos Koffer wuchten mussten. Das lässt sich generalisieren: Wir lassen uns Bequemlichkeit, Wohlstand, Klimaschutz, Reichtum und vieles andere entgehen, weil wir über Jahrhunderte machistisch und paternalistisch verbogen wurden. Sagt Frau Marçal.
Meine unsystematische Nachfrage bei kundigen Männern lässt am Gender Bias der Innovationsgeschichte kein gutes Haar. »Völliger Quatsch«, meint zum Beispiel Bert Rürup, Ökonomieprofessor und langjähriges Mitglied des Sachverständigenrats. Falsch sei schon die Voraussetzung, dass die Männer ihre reisenden Koffer selbst getragen hätten. Dafür gab es bezahlte Kofferträger und Sackkarren mit Rädern. Da hat Rürup recht. Schon im ersten Kapitel von Thomas Manns Zauberberg, den ich gerade mal wieder lese, erfahren wir, dass es natürlich nicht Hans Castorp ist, sondern der Concierge des Internationalen Sanatoriums »Berghof« – ein Mann im Livree mit Tressenmütze -, der den großen Koffer des neu ankommenden Gastes vom Bahnhof Davos Platz abholen muss, während davon unbelastet Hans Castorp zusammen mit seinem Vetter Joachim Ziemßen direkt mit dem Wagen zum Abendbrot fahren. Erst als die Kofferträger verschwanden, mussten die Leute ihr Gepäck selbst tragen und waren genötigt, auf Erleichterung zu sinnen.
Keiner will mehr Koffer tragen
Aber warum ausgerechnet 1972? Bert Rürups kühne These lautet: Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit war auf dem Höhepunkt, es gab Vollbeschäftigung und die Arbeiter hatten bessere berufliche Alternativen als sich als Kofferträger zu verdingen: als Dienbstboten schuften und schlecht verdienen wollte keiner mehr.
Auch Werner Plumpe, ein Wirtschaftshistoriker in Frankfurt, vermag über die Genderthese nur den Kopf zu schütteln. Innovationen erfolgen nicht aus funktionalen Gründen, sagt er. Also ob die Erfinder sich hinsetzen und darüber nachdenken, was jetzt gebraucht werde. Das sei von der Logik her ausgeschlossen, da man erst weiß, ob etwas funktioniert, wenn es das gibt. Der evolutionäre Weg der Innovation geht vielmehr so: versuchen, ausprobieren, bewähren, scheitern, bewahren, weiterentwickeln. Trial-and-Error eben. Höchstwahrscheinlich sei der Rollkoffer ein Phänomen des Massentourismus, vermutet Plumpe, während der ältere Tourismus mit großen Koffern eher ein Elitenphänomen war.Jetzt wird es grundsätzlich. Wann führen Innovationen zu einem Paradigmen- oder Pfadwechsel, wie die Ökonomen sagen. Tatsächlich hat man jahrelang und naheliegend versucht, das Material des Koffers leichter zu machen (Stoff statt schwerem Leder zum Beispiel) und die Griffe weicher und breiter zu gestalten, damit sie beim Tragen nicht die Hände einschneiden. Folgt man der Machismo-These wäre das ja schon der erste Schritt der Verweichlichung gewesen. Der Einfall mit den Rädern muss einem erst mal kommen. Und manchmal sind es gerade die simplen Dinge, die einem nicht kommen.
Es sind Beharrungskräfte der Gewohnheit, die den Pfadwechsel erschweren. Schon in der ersten Energiekrise 1972 hätten die Menschen merken können, dass die Zukunft der fossilen Energie unsicher ist. Und schon damals konnte man in Kopenhagen ein »Null-Energiehaus« besichtigen, das mit Solar-Paneelen ausgerüstet war und gänzlich unabhängig von Öl, Gas oder Kohle beheizt und beleuchtet wurde. Warum hat man das damals nicht energisch weiterverfolgt? Weil der technische Fortschritt und der (deutsche) Autoingenieur auf Effizienzverbesserung des Verbrenners setzten und dabei unglaubliche Sparfortschritte erzielten. Das hat deutsche und japanische Autos im internationalen Wettbewerb schwer nach vorne gebracht. Zuletzt habe ich es mit einer einzigen Dieseltankfüllung meines Dreier-BMW von Ravenna bis Frankfurt geschafft. Und unglaublich billig war das, damals vor dem Ukraine-Krieg.
E-Autos für Weicheier?
Sie ahnen, was Katrine Marçal dazu sagt, warum es so lange gedauert hat, bis die Elektroautos ernsthaft zur Alternative für den Verbrenner geworden sind, obwohl die Elektrotechnik schon seit 1839 (!) bekannt ist. Auch daran sind selbstredend wir Männer schuld: Denn so ein Diesel oder Benziner röhrt richtig, wenn man aufs Gaspedal drückt. Das mag der Mann (ich habe mir sagen lassen, auch die ein oder andere Frau). Die Batterie im leisen E-Auto halten die Männer dagegen für weibisch und weichlich. Erst kommt die kulturelle Einstellung, dann kommt die Innovation. Also müssen wir die Einstellungen ändern, damit wir die richtigen Erfindungen kriegen. So schräg argumentiert die Gender-Theorie.
Mir leuchtet die materialistische Alternative mehr ein: Erst das Verschwinden der Kofferträger und der Massentourismus verhalfen dem Rollkoffer zum Durchbruch. Und erst wenn E-Autos finanziell erschwinglich werden, ich damit von Ravenna nach Frankfurt fahren kann und überall Ladestationen stehen, werden Frauen und Männer aufs E-Auto umsteigen. Das wird im Übrigen erfolgreicher sein als ein politisches Verbrenner-Verbot. Und wenn die Männer am E-Auto den zünftigen Sound vermissen, kann man den als Extra hinzukaufen.
Rainer Hank