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  • 03. Januar 2024
    Das Odysseus-Prinzip

    Die Verführung der Sirenen Foto Staatsgalerie Stuttgart

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum die Schuldenbremse zeitgemäß ist

    Für einen Minister ist es sehr verführerisch, das Mittel der Staatsschulden zu benutzen, das ihn in den Stand setzt, während seiner Verwaltung den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird daher fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht werden. Es würde kaum geringere Klugheit offenbaren, einem verschwenderischen Sohne bei jedem Bankgeschäft Kredit zu geben, als einen Staatsmann zu ermächtigen, in einer derartigen Weise Wechsel auf die Nachkommen zu geben.

    Man könnte meinen, hier urteile jemand über die Minister der heutigen Ampelregierung, wüsste man nicht, dass die Aussage aus dem Jahr 1741 von dem schottischen Aufklärer David Hume stammt. Die Ampel ist angetreten, den »großen Mann« (sagen wir korrekt: Mann und Frau) zu spielen, die Ausgaben für Soziales, Verteidigung und Klima-Transformation zu erhöhen und die Finanzierung uns Bürgern zu ersparen. Stattdessen macht man Schulden. Hätte es den zum Klimafonds umgewidmeten 60–Milliarden-Coronafonds nicht gegeben, hätte der CO2–Preis an den Tankstellen deutlich stärker und schneller steigen müssen als jetzt. Das hätte den Bürgern gezeigt, dass es nicht nur klimagemäß, sondern auch finanziell geboten ist, das fossil betriebene Auto zu verschrotten, sich ein Fahrrad und E-Auto anzuschaffen und häufiger mit der (unpünktlichen) Bahn zu fahren. Das wiederum hätte, mit Hume zu reden, bei den Bürgern »sofortige Unzufriedenheit« erregt und womöglich der AfD noch mehr Stimmen zugeführt als ohnehin schon.

    Weil Minister viele Anreize haben, die »fiskalische Allmende« zu übernutzen, ließ das deutsche Parlament im Jahr 2001 mit einer Zweidrittelmehrheit die Schuldenbremse in das Grundgesetz schreiben. Diese besagt: In der Regel soll der Staat keine Schulden machen, sondern mit seinen Steuern auskommen. Doch ist die Bremse nicht so starr, wie jetzt viele behaupten: Die Regierung darf im konjunkturellen Abschwung bis zu einem gewissen Grad Defizite hinnehmen, wie sie umgekehrt in einer Hochkonjunktur Überschüsse durch unerwartete Steuereinnahmen erhält. Beide Effekte sind gegenläufig und stabilisieren so die Konjunktur; sie wirken als sogenannte »automatische Stabilisatoren«. Zudem sind jährliche Neukredite in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erlaubt.

    »Damit ich kein Glied zu regen vermöge«

    Die Idee ist uralt. Als ihr Erfinder darf der Dichter Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christus gelten. Im 12. Gesang der Odyssee muss das Schiff des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis hindurch navigieren. Dort befinden sich Sirenen, Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang Schiffer anlocken, um sie zu töten. Weil Odysseus dies weiß und seine Verführbarkeit kennt, weist er seine Besatzung an, ihn zu binden, »damit ich kein Glied zu regen vermöge -, aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.« Vorsichtshalber fügt er hinzu: »Fleh ich euch aber an, und befehle die Seile zu lösen, eilend fesselt mich dann mit mehreren Seilen noch stärker.« So kommt es dann auch: Als Odysseus die betörenden Sirenen hört, erfüllt ihn »heißes Verlangen«. Er befiehlt den Freunden, seine Bande zu lösen – »doch hurtiger ruderten diese.« Das ist die Rettung des Odysseus und seiner Mannschaft.

    Es ist jenes von Homer erfundene Prinzip »freier Selbstbindung«, das sich hinter der Schuldenbremse verbirgt. Es weiß um das »heiße Verlangen« der Politiker, den »großen Mann« zu spielen und lässt dies von der Verfassung unterbinden. Das könnte für Politiker entlastend sein. Denn sie können den Bürgern sagen, eigentlich wollen wir euch weitere Wohltaten zuteilwerden lassen. Aber leider dürfen wir das nicht, weil es in der Verfassung die Schuldenbremse gibt. Die Notwendigkeit fiskalischer Disziplin wird an eine verpflichtende Institution, die Verfassung, delegiert, über deren Einhaltung die Verfassungsrichter wachen. Der Ertrag, den die fiskalische Selbstbindung verspricht, ist positiv: Zwar ist es für Politiker rational, sich einem Rausch der Staatsausgaben hinzugeben. Doch damit laufen sie Gefahr, das Vertrauen bei den Bürgern zu verspielen, was mit der Strafe ausbleibender Wiederwahl geahndet würde. Im Übrigen ist die Schuldenbremse kein Einzelfall. Auch die früher Maastrichtkriterien genannten europäischen Fiskalregeln funktionieren so: Die Staaten des Euro-Raums verpflichten sich, ihr Staatsdefizit nicht über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzublähen.

    Anders als Odysseus halten Politiker die Selbstbindung offenbar nicht aus. Maastricht steht seit langem nur noch auf dem Papier. Die angedrohten Strafen für einen Verstoß werden nicht durchgesetzt. Seit dem Urteil der Verfassungsrichter zur Schuldentrickserei zünden unsere Politiker ein rhetorisches und moralisches Feuerwerk gegen die Schuldenbremse. Sie passe nicht mehr in die Zeit, heißt es. In Wahrheit passt sie Politikern nicht in den Kram. Jetzt soll plötzlich unsere Verfassung schuld daran sein, dass die deutsche Wirtschaft den Bach runter geht, der Sozialstaat erodiert und die Klimaziele verfehlt werden. Besonders eindrucksvoll ist der drohende und beleidigte Ton, dem sich der sonst so sanfte Wirtschaftsminister verschrieben hat. Viele wollen die Schuldenbremse jetzt aushöhlen, »Zukunftsinvestitionen« vom Verschuldungsverbot ausnehmen, worunter trickreich alles subsumiert würde, und die Schuldenbremse faktisch abgeschafft wäre. Willfährige Ökonomen leisten mit verfassungsfeindlichen Bemerkungen Schützenhilfe: Wir hätten »kein ökonomisches Schuldenproblem, sondern ein juristisches Schuldenbremsenproblem«, tönt es. Dabei waren es gute politökonomische Gründe (»fiskalische Allmende«), die zur Einführung der Schuldenbremse führten: Das Wissen, dass der Staat nicht nur Probleme löst, sondern auch Probleme schafft, wovor er sich selbst und uns Bürger schützen muss.

    In György Ligetis Oper »Le grand Macabre«, die man derzeit in einer großartigen Inszenierung in Frankfurt und parallel auch in Wien sehen kann, einem besoffen-apokalyptischen Spektakel, tritt im dritten Bild Fürst Go-Go auf und ermuntert seine Staatsdiener –den »weißen Minister« und den »schwarzen Minister« – doch die Interessen der Nation über ihre Eigeninteressen zu stellen. Der Fürst beruft sich dafür auf die Verfassung. »Verfassung?«, höhnen der »weiße Minister« und der »schwarze Minister«. Und beantworten ihre rhetorische Frage gleich selbst: Nicht mehr als geduldiges »Papier« sei diese Verfassung, singen sie und lachen sich halbtot. Wäre ich ein fiskal-sensibler Opernintendant würde ich den deutschen Politikern eine Sonderaufführung des »Grand Macabre« spendieren. Diese »Zukunftsinvestition« könnte sich rechnen.

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    Rainer Hank