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  • 21. November 2025
    Das letzte Stück Kuchen

    Wehe einer greift zu! Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wenn alle wissen, was (nicht) alle wissen

    Bei Kaffee und Kuchen in feinen adligen Kreisen soll es vorgekommen sein, dass tatsächlich ein Gast sich das letzte Tortenstück auf der Kuchenplatte reichen ließ und es verzehrte. Ein Fauxpas erster Güte. Der Gast wusste nicht, dass das letzte Stück Kuchen stets übrigbleiben muss, einerlei wie nachdrücklich die Gastgeberin zuzugreifen nötigt. Womöglich, weil andernfalls der Eindruck entstünde, es sei zu wenig da gewesen. Das würde auf den Gastgeber zurückfallen.

    Wissen ist wichtig. Noch wichtiger ist gemeinsames Wissen. Es besteht darin, dass alle wissen, dass alle wissen. Gemeinsames Wissen sagt uns, wie wir uns zu verhalten haben. Wer es nicht teilt, oder sich anders verhält, setzt sich außerhalb der Gemeinschaft.

    Mehr Beispiele gefällig? Bei einer Abendgesellschaft war auf der Einladungskarte »Black Tie Optional« gestanden. Dazu muss man zum einen wissen, dass Black Tie nicht einfach nur wörtlich Schwarze Krawatte bedeutet, sondern Smoking, Weißes Hemd, Schwarze Lackschuhe verlangt. Wie beim adligen Kuchenbuffet soll es auch hier vorgekommen sein, dass ein Gast das Wörtchen »optional« wörtlich genommen hat und im Anzug erschien. Schamesröte muss ihm ins Gesicht gestiegen sein, als er realisierte, der Einzige der Gesellschaft ohne Smoking zu sein.

    Früher, in etwas verklemmteren Zeiten als heute, fragte nach zufriedenstellendem erstem Date der Jüngling seine Partnerin auf dem Nachhauseweg, ob er ihr seine Briefmarkensammlung zeigen dürfe. Da, so wird kolportiert, soll es einmal passiert sein, dass die Partnerin konterte: »Bring sie mir doch einfach runter.« Vermutlich kannte sie den Code und wusste, dass sich hinter der Briefmarkensammlung die Einladung verbirgt, die Nacht zusammen zu verbringen – hatte aber keine Lust darauf, und ironisierte die Frage, indem sie sie wörtlich nahm. Das gemeinsame Wissen nutzen und die Erwartung gleichzeitig ironisch enttäuschen, wäre somit eine höhere Ebene der Kommunikation.

    Der Kaiser ist nackt

    Der Klassiker ist Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. Zwei Betrüger geben sich beim Kaiser als Werber aus und behaupten, Stoffe weben zu können, die für Dumme und Unwürdige unsichtbar seien. In Wirklichkeit gibt es gar keine Kleider – aber niemand wagt, etwas zu sagen, alle fürchten, für dumm gehalten zu werden. Und halten es für möglich, dass die anderen ja wirklich einen prächtig gekleideten Kaiser sehen. Das geht so lange gut, bis ein Kind ruft »Aber er hat ja gar nichts an.« Dann wissen alle, dass alle wissen, dass der Kaiser nackt ist. Und der Spuk ist vorbei.

    Vergleichbar Beispiele in Hülle und Fülle finden sich in dem gerade erschienenen neuen Buch des Harvard-Psychologen Stephen Pinker. Es trägt den schönen Titel »Wenn alle wissen, dass alle wissen« (S. Fischer Verlag). Pinker ist ein akademischer Star. Er ist Kognitionswissenschaftler, hat längst die Grenzen seines Fachs überschritten und sich zum »öffentlichen Intellektuellen« gemausert. In der Kontroverse mit Präsident Trump um linksliberale Korrektheit seiner Universität und den Entzug finanzieller Mittel hat Pinker einerseits Harvard verteidigt, andererseits darauf insistiert, dass es tatsächlich einen linksliberalen Konformitätsdruck gegeben habe, der korrekte Wissenschaftler finanziell belohnte.

    Pinkers Theorie des gemeinsamen Wissens geht so. Es genügt nicht, dass alle dasselbe wissen. Es kommt vielmehr darauf, dass jeder weiß, dass alle es wissen und so weiter in immer weiteren Rekursen. Dieses rekursive Bewusstsein ist eine zentrale Voraussetzung für viele Formen der sozialen Koordination, Kommunikation und kollektiven Handelns. Und lässt sich nicht zuletzt auf die Politik oder die Ökonomie und die Finanzmärkte übertragen.

    Schlagendes politisches Beispiel ist das Debakel Joe Bidens in der Fernsehdebatte mit Donald Trump im Präsidentschaftswahlkampf 2024. Es gab zuvor schon allerorts Zweifel, ob und inwieweit Präsident Biden noch fit genug sei, dass er seine zweite Amtszeit meistern würde. Aber es war kein gemeinsam gesichertes Wissen. Bei der Debatte offenbarte er für alle sichtbar fatale Schwächen (unbeweglich, verhaspelt sich, bringt Fakten durcheinander). Das ist der Moment, in dem das Kind ruft: »Der Kaiser ist nackt.« Danach war Biden als Kandidat nicht mehr zu halten.

    Kaufen, was alle kaufen

    Das beste Finanzbeispiel stammt aus der »General Theory« des großen Ökonomen John Maynard Keynes, erschienen 1936. Damals gab es Wettbewerbe in Zeitungen, bei denen die Leser aus hundert Fotos von Frauen die sechs hübschesten Gesichter auswählen sollten (ginge heute bei keiner Zeitung mehr durch). Gewinner war nicht derjenige, der nach seinen persönlichen Präferenzen urteilte, sondern dessen Wahl dem Durchschnitt aller Einsendungen am nächsten kam. Wer das durchschaute, wusste, er muss jene Gesichter wählen, die mutmaßlich die meisten anderen für schön halten.

    Das lässt sich auf die Geldanlage übertragen: Investoren kaufen nicht unbedingt jene Finanzprodukte, von denen sie persönlich besonders überzeugt sind, sondern die, von denen sie glauben, dass sie die meisten anderen Anlegern überzeugen. Mit der Theorie des »gemeinsamen Wissens« – hier dem Wissen gemeinsamen Handelns von Spekulanten – lassen sich Blasen an den Finanzmärkten erklären. Solange alle kaufen, müssen alle kaufen. Dreht sich der Wind (warum auch immer) und die Ersten verkaufen, dann wollen alle schnell verkaufen – und die Blase platzt, weil alle erwarten, dass alle erwarten, dass alle ihre Häuser, Aktien, Anleihen abstoßen. Franklins D. Roosevelt wusste das mit seinem berühmten Ausspruch: »Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.« Es ist die Angst, dass alle sich zu fürchten beginnen, womit sie genau jene Katastrophe auslösen, die sie verhindern wollten.

    So wenden sich die netten Beispiele über Kuchenesser und Briefmarkensammler am Ende in eine eher bedrohliche Richtung: Gemeinsames Wissen definiert Spielregeln für alle. Spielregeln können gebrochen werden. Die Theorie atomarer Abschreckung geht davon aus, dass jeder atomare Erstschlag mit einem nicht minder vernichtenden Zweitschlag quittiert würde – und man deshalb besser die Finger davon lassen sollte. Aber alle müssen davon überzeugt sein, dass alle davon überzeugt sind. Sollte ein Aggressor von seiner Überlegenheit überzeugt sein oder sich aus anderen, etwa innenpolitischen Gründen zum Atomschlag genötigt sehen, bricht die ganze friedenswahrende Abschreckungstheorie in sich zusammen.

    Nebenbei zeigt sich hier, dass Pinkers Theorie des gemeinsamen Abschreckungswissens nichts anderes ist als eine Anwendung und Generalisierung der ökonomischen Spieltheorie. Wir dachten einmal, wir würden sie dafür nicht mehr brauchen. So haben sich die Zeiten geändert.

    Rainer Hank