Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen12. Juli 2021
Das kalte Herz der KapitalistenVerdirbt die Ökonomie den Charakter?
Der Homo Oeconomicus hat keinen guten Leumund. Er gilt als egoistisch, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Großzügigkeit und Barmherzigkeit seien ihm fremd, heißt es. Er hat ein kaltes Herz.
Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe hat seiner monumentalen Geschichte des Kapitalismus den Titel »Das kalte Herz« gegeben. Wilhelm Hauffs gleichnamiges Märchen von 1827 wurde nicht erst von der DDR-Germanistik als Parabel auf den aufkommenden Kapitalismus gelesen, auch wenn es noch ganz in einer vorindustriellen Welt von Köhlern, Holzfällern und Flößern spielt. Immer schon war das steinerne Herz ein Sinnbild eines sündigen, gegen Gott verstockten Gemüts. Geld, Ansehen und Macht – im Doppelsinn blendende Aussichten auf eine glänzende Karriere – werden mit Herzenskälte assoziiert, während Nächstenliebe, Mitleid und Barmherzigkeit mit Wärme verbunden werden.
»Capital« meinte lange Zeit schlicht Geld. Dass Geld sich vermehrt und »wuchert«, hat die Menschen irritiert. Wie bei Goethe im zweiten Teil des »Faust« stammt auch bei Wilhelm Hauff das Geld aus einem Pakt mit dem Teufel. Es blendet und verführt durch seinen güldenen Schein, führt letztlich ins Verderben. Herzenskälte konnotiert mit Frigidität und Unfruchtbarkeit. »Mutter, oh weh! Dein hartes Herz«, klagen die Ungeborenen in Hugo von Hofmannsthals »Die Frau ohne Schatten«.
Das Studium der Ökonomie wäre in diesem Sinn eine Sozialisationsagentur frigider Herzenskälte. Altruisten werden zu Egoisten zwangskonvertiert, die alles und jedes einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterziehen. Die Spieltheorie belehrt sie darüber, dass sich Kooperation nicht auszahlt und warum es in vielen Situationen gut sei, lieber seinem opportunistischen Vorteil nachzujagen. Für das Gemeinwohl werde die »unsichtbare Hand« schon von allein sorgen. »Welch ein Irrtum«, höhnen die Kritiker des Kapitalismus und verweisen auf Ungleichheit, Armut, Ungerechtigkeit in der Welt.
John Stuart Mill und das Gesetz der Gravitation
Liberale Ökonomen haben sich gegen solche Zerrbilder gewehrt. In seiner berühmten Rektoratsrede vom 1. Februar 1867 im schottischen St. Andrews kommt der Philosoph John Stuart Mill auf jene Leute zu sprechen, die Studenten vor dem Studium der politischen Ökonomie warnen: Herzlos, gefühllos, konfrontiere es einen mit unerfreulichen Fakten. Mill kontert mit Verweis auf die Physik: Das bei weitem Gefühlloseste, was er kenne, sei das Gesetz der Gravitation. »Es bricht den Besten von uns das Genick, wenn sie auch nur für einen Moment meinen, es ignorieren zu können.« Auch Wind und starke Wellen könnten ziemlich unerfreulich sein, so fährt Mill fort. Aber sollen wir deswegen die Seefahrer anweisen, die Existenz von Wind und Welle zu ignorieren? Wäre es nicht besser, die Naturgesetze zu studieren, um uns gegen die in der Natur lauernden Gefahren zu wappnen? Der Analogieschluss Mills von der Natur- auf die Sozialwissenschaft lautet: »Studiert die Schriften der ökonomischen Klassiker und behaltet davon, was euch wahr dünkt. Das Studium der Ökonomie wird euch keinesfalls zu Egoisten machen, es sei denn, ihr wäret schon vorher verhärtet oder egoistisch gewesen.«
Ob Kapitalismus, Marktwirtschaft und das Studium der Ökonomie das Herz der Menschen verhärtet, lässt die Denker bis heute nicht los. Allerdings reicht dazu inzwischen die literarische oder philosophische Spekulation nicht mehr aus. Der Zeitgeist verlangt zwingend Empirie. Berühmt geworden sind vor ein paar Jahren die Experimente des Bonner Verhaltensökonomen Armin Falk. »Kapitalisten töten Mäuse«, so kann man seine These etwas marktschreierisch zusammenfassen. Das Design: Labormäuse, die sterben sollten, bekamen die Chance zu überleben, wenn die Versuchsteilnehmer in einem Experiment bereit waren, auf Geldgeschenke zu verzichten. Fragt man die Leute direkt, ob Sie zehn Euro bekommen wollen oder das Geld ablehnen, um die Maus zu retten, entscheiden sich zwar 45 Prozent egoistisch für das Geld. Doch die Altruisten behielten die Mehrheit. Ließ man die Versuchsteilnehmer stattdessen in einer Art Börse darüber verhandeln, einen vorgegebenen Geldbetrag von 20 Euro untereinander aufzuteilen oder auf Geld zu verzichten, bevorzugten 75 Prozent eine Geldlösung – und nahmen dafür den Tod vieler Mäuse in Kauf. Daraus folgt für Armin Falk: Der Markt verdirbt den Charakter.
Die Mäuse führen in die Irre
Das Mäuseexperiment erfuhr viel Kritik. Aus meiner Sicht zu Recht. Denn es besagt lediglich, dass es in Gruppen einen Loyalitäts- und Konformitätsdruck gibt. Das wissen wir seit dem berühmten Milgram-Experiment, bei dem Menschen bereit waren, autoritären Anweisungen Folge zu leisten, obwohl die Handlungen ihrem Gewissen zuwider liefen. Das hat erkennbar mit Markt und Kapitalismus nichts zu tun hat. Es liegt nicht am Markt, dass die Moral in Gruppen leidet, sondern am Konformitätsdruck.
Das löst freilich noch nicht die Frage, ob altruistische Menschen durch die Beschäftigung mit Ökonomie egoistisch werden. Der Züricher Ökonom Bruno Frey, der schon in der vergangenen Woche in meiner Kolumne vorkam, hat dazu eine originelle Studie vorgelegt, die auf »reales« Material zurückgreifen kann. An der Universität Zürich müssen die Studenten jedes Semester entscheiden, ob sie an zwei von der Hochschule verwaltete wohltätige Fonds Geld spenden wollen. Das kann man als ein Maß für Altruismus nehmen. Frey diskutiert zwei konkurrierende Hypothesen. Die »Indoktrinationshypothese« besagt, dass die Ökonomie Studenten dazu bringt, eigennütziger zu denken und handeln als zuvor. Die »Vorprägungshypothese« kehrt die Kausalität um: Eigennützige Studenten entscheiden sich dazu, Ökonomie zu studieren.
Das Ergebnis ist doppelt überraschend: Studenten der politischen Ökonomie und Volkswirtschaftslehre (VWL) spenden mehr und nicht weniger für die wohltätigen Fonds, verhalten sich sogar altruistischer als der durchschnittliche Student. Studenten, die Management studieren, sind hingegen deutlich selbstbezogener, was Bruno Frey nicht auf das Studiums selbst zurückführt, sondern die persönlichen Prägungen, mit denen die Management-Studenten an die Hochschule kommen. Dort, wo man mehr ökonomische Theorie lernt, also in der Volkswirtschaftslehre, gibt es mehr Altruismus als in den theorieschwächeren Managementkursen. Gut für Volkswirte, weniger schmeichelhaft für die künftigen Manager.
Eine kürzlich an der Universität Amherst in Massachusetts präsentierte Studie (»Does economics make you selfish«) bestätigt die Ergebnisse von Bruno Frey. Allerdings: Ökonomiestudenten sprechen sich für eine deutlich restriktivere Einwanderungspolitik aus als Kontrollgruppen der Ernährungswissenschaft. Die Ökonomen meinen, Migranten sollen nur kommen dürfen, wenn klar ist, dass sie einen positiven Beitrag für das Gastland leisten werden. Das kann man gefühlskalt nennen, man kann es auch realistisch nennen.
Fazit: Die Beschäftigung mit Ökonomie lässt das Herz der Menschen nicht erkalten, sondern schärft den Realitätssinn für Fragen von Kosten und Nutzen. Der Markt selbst generiert Moral, meinte Adam Smith, der Begründer der liberalen Ökonomie: Betrüger, Hochstapler und Hallodris haben auf Dauer keine Chance, weil im eigenen Interesse niemand mit ihnen Geschäfte machen will.
Rainer Hank