Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

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  • 02. August 2024
    Computer sagt Nein

    Wer hat die Macht über uns? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Fitness-Apps, Abseits im Fußball und die deutsche Schuldenbremse

    Was haben mein Lieblingslokal, meine Hausärztin, mein Friseur und mein Ferienhotel gemein? Sie verfolgen mich digital. Sobald ich einen Platz zum Mittagessen reserviere, kommt eine Bestätigungsmail. Freundlich ermahnt sie mich, spätestens einen Tag vor dem Termin zu stornieren, sollte ich verhindert sein. Weil man mir das nicht wirklich zutraut, meldet sich das System am Vortag abermals und zwingt mich zu bestätigen, dass ich tatsächlich zur Stelle sein würde. Kaum sitze ich im Gasthause, will man von mir wissen, ob alles okay sei und versucht mich zu Bewertungen auf einer Skala von Eins bis Fünf zu zwingen. Mein Urteil soll ich abgeben, noch bevor ich einen Blick in die Speisekarte werfen konnte.

    Dito verläuft es bei Hausärztin, Hotel und anderen online buchbaren Terminen. Das ist mega- nervig und außerdem paternalistisch. Können die mich nicht mal in Ruhe lassen. Wir können froh sein, dass unsere Freunde bei Privateinladungen sich solcher Buchungs-, Bestätigungs- und Bewertungssysteme noch nicht bedienen.

    Zuweilen kommt es zur offenen Drohung: »Wenn Sie nicht 23 Stunden vor dem Termin absagen, belasten wir automatisch Ihre Kreditkarte mit einem Betrag von 50 Euro!« Gewiss, die Transparenz des Internets hat der Menschheit mehr Konsumentensouveränität beschert. Ich bin nicht auf die Gurus der Gastrokritik angewiesen, sondern erfahre auf der Webseite, ob es normalen Gästen geschmeckt hat. Meine Stimme als Kunde, Gast, Patient zählt. Der Markt ist für die Konsumenten da.

    Doch nichts ist wahr ohne sein Gegenteil. Am schlimmsten an den automatisierten Systemen ist die eingebaute Verantwortungsdispens. Es wäre albern, mich bei der Hausärztin über die nervigen Erinnerungsmails zu beschweren. Mit ziemlicher Sicherheit weiß sie gar nicht, dass ihre Praxis ein solches System nutzt.

    Verloren in der Anonymität

    Jüngst hat mir meine Trainerin im Fitness-Studio ein neues Übungsprogramm fürs Krafttraining eingerichtet. Die Übungen nebst Angaben der Gewichte und der Anzahl der Sätze hat sie in die App des Studios eingetragen. Dummerweise kann ich die App nicht öffnen. Meine Trainerin kann mir auch nicht helfen, dafür sei eine »Fremdfirma« zuständig, deren Support solle ich kontaktieren. Der meldet sich mit Ideen, auf die ich längst auch schon gekommen war: App neu laden, Passwort ändern, eine andere Email eingeben. Der Support ist eben auch nur eine Maschine. Früher hätte man gesagt: Auch nur ein Mensch. Böse sein kann ich keinem Menschen. Meine Ansprechpartnerin im Studio ist genauso hilflos wie ich. Verdammt noch mal, wer hat denn hier die Verantwortung!

    Die Entmenschlichung führt geradewegs in das Nichts der Nichtverantwortlichkeit. Der britische Journalist Dan Davies spricht vom »Verantwortungs-Ausguss« (accountability sink). Wir spülen die Haftung einfach hinunter. Das entlastet. Wer will schon Verantwortung für Fehler oder Versagen übernehmen. In meiner Jugend hatten wir gesagt, das »System« (wahlweise des Kapitalismus, Imperialismus oder sonst ein Ismus) sei schuld. Heute delegieren wir die Verantwortung, ein Handspiel oder Abseits beim Fußball festzustellen, an den Video Assistant Referee (VAR): Automatisierte Regelkonformität gilt als Fortschritt an Gerechtigkeit. Der »echte« Schiedsrichter wird von der Maschine entmachtet und im Gegenzug von der Angst vor einem Fehlurteil befreit.

    Dan Davies hat in seinem Buch »The Unaccountability Maschine« ein besonders gruseliges Beispiel, was regelkonforme Verantwortungsabstinenz anrichtet. Die Geschichte spielt im Jahr 1999 und handelt von 440 lebenden Eichhörnchen. Die waren ohne Papiere auf einem KLM-Flug von Peking nach Athen auf dem Flughafen Schiphol in Holland gestrandet. Dort wusste man mit den niedlichen Tierchen nichts anzufangen: Weder dürfen lebende Tiere eingeführt werden, noch war es erlaubt, sie nach Athen weiterzuschicken. Also kamen sie in einen Shredder, mit dem normalerweise Küken in Hühnerfarmen getötet werden. Die Eichhörnchen zu schlachten sei »die menschlichste Art« der Lösung, gab die Airline zu Protokoll, nachdem es zu Protesten von Tierschützern gekommen war. Vorschrift ist Vorschrift.

    Was hat das mit unserem Thema zu tun? Viel. Das Ende der Geschichte ist grausam, so viel ist sicher. Unsicher ist, wer eigentlich für den Mord an den Tieren verantwortlich ist. Niemand? Das System? Niemand wagte, eine Ausnahme zuzulassen und die Tiere in einen lokalen Tierhandel zu bringen. Er hätte ja Verantwortung übernehmen müssen. Und für seine Entscheidung grade stehen.

    Ja sagen kann helfen

    »Es sind nie die Menschen, es sind immer die Verhältnisse«, spottete der antike Philosoph Seneca. Er sei nicht schuld daran, dass nicht mehr Geld im Haushalt zur Verfügung stehe, sagt Finanzminister Christian Lindner: Es sei die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, die eine höhere Kreditaufnahme verhindere. Es ist der Bankcomputer, der mir einen privaten Kredit verweigert. Tut mir leid, sagt der Kreditexperte der Bank oder der Risikoexperte der Versicherung: »Computer says no«, heißt ein in England verbreitetes Schlagwort.

    Verantwortung zu übernehmen würde bedeuten, von der Regel abweichende Entscheidungen zu treffen und ein Risiko einzugehen. Da ist es allemal bequemer, sich auf die Compliance-Regeln des Hauses zu berufen. »Da kann man nichts machen«. Computer sagt Nein und Künstliche Intelligenz weiß es viel besser als ein einfacher Mensch mit seiner Vergesslichkeit, seinen beschränkten Informationen und seinen Vorlieben oder persönlichen Abneigungen. So hören und lesen wir es doch ständig. Das ist sehr verführerisch.

    Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: In einer komplexer werdenden Welt entlasten uns Computer, wenn sie ihre Entscheidungen nach Regeln transparent und ohne Ansehen der Person treffen. Alles selbst und immer im Einzelfall entscheiden zu müssen, hätte den Geruch von Willkür, würde uns heillos überfordern und auf keinen grünen Zweig bringen. Andererseits führt die Delegation aller Entscheidungen an regelgesteuerte Maschinen zur Abschaffung von Haftung und Verantwortung.

    Individuelle Haftung ist das Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft: Wer den Nutzen hat, muss auch für den Schaden gradestehen. Wird dieses Prinzip suspendiert, sind Krisen und Zusammenbrüche nicht weit. Die Finanzkrise des Jahres 2008 war eine typische Krise der Verantwortungslosigkeit. Keiner wollte es am Ende gewesen sein. Gekniffen waren die Sparer weltweit. »Der Markt wird es richten«, ist eine gefährliche Anonymisierung: Es sind immer Menschen aus Fleisch und Blut, die miteinander Verträge eingehen.
    Alles dem Computer zu überlassen nervt, führt in die Unmündigkeit und mündet in die kollektive Verantwortungslosigkeit. Daraus folgt: Zuweilen Ja sagen, obwohl der Computer Nein sagt. Dazu braucht es Mut.

    Rainer Hank