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  • 06. August 2020
    Brüsseler Milliarden

    Klio – die Muse der Geschichtsschreibung und des Storytellings Quelle: Wiktionary

    Dieser Artikel in der FAZ

    Hauptsache, man erzählt schöne Geschichten

    Mit 750 Milliarden Euro will die Europäische Union den sogenannten Wiederaufbau Europas nach der Corona-Pandemie fördern. 390 Milliarden davon werden an notleidende Staaten (vor allem Italien und Spanien) verschenkt, während die EU Kredite aufnehmen und Zinsen bezahlen muss, um das Hilfspaket zu finanzieren.

    »Die Investition der EU rechnet sich«, so tönt es jetzt vielfach. Das Geld sei nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch gut angelegt. Die Argumentation geht ungefähr so: Wenn Italien Geld geschenkt bekommt, wird es davon seine Wirtschaft fit machen. Die Firmen dort bekommen wieder Aufträge und stellen Arbeiter ein. Und was machen die mit dem Geld? Die Firmen kaufen deutsche Maschinen und die Arbeiter kaufen einen Mercedes oder einen unserer Volkswagen. Wer bezahlt, bekommt für sein Geld also eine Gegenleistung, so lautet die Botschaft. Die Gegenleistung bestehe darin, dass in Deutschland Arbeitsplätze gesichert werden, weil die Italiener dank der Aufbauhilfe ihre Märkte offenhalten: Deutschland lebe schließlich vor allem vom Absatz seiner Produkte innerhalb der EU.

    Ein Freund aus der deutschen Hochfinanz, mit dem ich diese Brüsseler Hilfslogik jüngst debattierte, schüttelte verdrießlich den Kopf und meinte, das klinge so, als ob mir die Marktfrau erst das Geld in die Hand drücken müsse, mit dem ich ihr anschließend ihre frischen Pfirsiche kaufen könne – eine irgendwie verkehrte Welt, die auf ein wirtschaftliches Perpetuum Mobile setzt. Nun weiß auch mein Freund, dass die Hilfseuropäer nicht ganz so simpel ticken, wie es das Marktfrau-Beispiel unterstellt. Das magische Zauberwort in all solchen Fällen heißt »Hebel«, was in etwa bedeutet: Das nach Italien und Spanien verschenkte Geld zahlt sich vielfältig und mit einer positiven Rendite für uns aus, ist also eine Art Anschubfinanzierung, mit der am Ende der Saldo für Daimler, seine Arbeiter und den indirekt profitierenden deutschen Steuerstaat positiv ist. Man hört es freilich schon mit, das »Hätte, hätte Fahrradkette«: Die Behauptung, das rechne sich, ist sehr stark konditioniert. Wenn Italien es nicht schafft, seine Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen und seine Unternehmen aus dem Geflecht von Vorschriften – vor allem Arbeitsmarktregulierungen – zu befreien, werden die Milliarden aus Brüssel am Ende verpuffen. Und Deutschland kann seine Geldspende abschreiben.

    Narrative reduzieren Komplexität

    Was bleibt dann am Ende von der Aussage, das »rechnet sich«? Leider nur ein »Narrativ«. Das Wort wird seit geraumer Zeit ein bisschen inflationär gebraucht, weshalb man sagen muss, was damit gemeint sein soll. Narrative erzählen Geschichten, damit wir die Welt, in der wir leben, besser verstehen. In diesem Fall also die Geschichte von Italien, das unterstützt werden müsse, damit wir (und nicht nur Italien) bald wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen. Narrative konstruieren Wirklichkeit – nicht, indem sie etwas komplett frei erfinden, sondern indem vieles ausgelassen wird, was auch zur Wahrheit gehört, zum Beispiel das Risiko, das Geld könnte verpuffen.
    Alles im Leben hat mindestens seine zwei Seiten. Ein Narrativ begnügt sich mit einer Seite. Denn es verfolgt weniger die Absicht, die Wahrheit zu erzählen, als es vielmehr mit Worten oder Sätzen etwas bewirken will. Im Falle der Brüsseler Milliarden geht darum, Akzeptanz bei den Deutschen für das viele Geld zu schaffen, mithin für den finanzpolitischen Paradigmenwechsel Europas von einer Haftungs- zu einer Transferunion. Altruismus – Ursula von der Leyen: »we are all Italian« – genügt offensichtlich nicht zur Legitimation der Hilfsaktion. Unser Narrativ befriedigt darüber hinaus den deutschen Egoismus, wenn es behauptet, das Geld rechne sich »für uns«.
    Henry James, ein amerikanischer Schriftsteller (1843 bis 1916), hat gesagt, dass man jede Geschichte auf fünf Millionen Arten erzählen kann. Das Narrativ wählt eine davon aus, unterschlägt die anderen. Denn, wie gezeigt, es verfolgt eine wirtschaftspolitische Absicht: Die Deutschen sollen beruhigt werden. Blickt man auf die öffentliche Debatte hierzulande seit dem Brüsseler Mammutgipfel am vorvergangenen Wochenende, dann scheint die Rechnung aufzugehen. Die Erregung hielt sich – jenseits der üblichen Verdächtigen – sehr in Grenzen. Das mag auch an der Wirkung eines zweiten, unterstützenden Narrativs liegen: Wer schuldlos in Not gerät, dem zu helfen ist der Barmherzige Samariter verpflichtet. Auch dieses Narrativ unterschlägt etwas: Dass zwar alle Staaten von der Pandemie geschlagen sind, einige von ihnen aber besser gerüstet waren und angemessener zu reagieren vermochten als andere.

    Die Wirtschaftswissenschaft hat sich lange Zeit um Narrative – Formen des wirtschaftspolitischen Erzählens – wenig geschert. Ihr Element sind die mathematischen Modelle. Seit letztere in der Finanzkrise des Jahres 2008 an Renommee verloren haben, haben auch Ökonomen angefangen, in Nachbardisziplinen auszuschwärmen. Sehr erfolgreich ist hier Robert Shiller unterwegs, ein an der Universität Yale lehrender Ökonom, der im Jahr 2013 den Nobelpreis erhielt. Im Dialog mit Psychologen interessiert Shiller sich dafür, warum der Homo Oeconomicus sich häufig irrational verhält, wenn er zum Beispiel glaubt, die Immobilien- oder Aktienpreise müssten immer weiter steigen, obwohl sie aller Erfahrung nach immer wieder gewaltig einbrechen. Jetzt hat Shiller sich den Nachbarn der Literatur- und Geschichtswissenschaft zugewandt. Sein Buch »Narrative Economics« aus dem vergangenen Jahr gibt es seit ein paar Monaten auf Deutsch, leider unter dem missverständlichen Titel »Narrative Wirtschaft«: Es geht aber um narrative Ökonomik, also darum, wie man mit Geschichten über die Wirtschaft Menschen beeinflusst.

    Wettbewerb im Storytelling

    In einer erfrischenden Naivität, die man sich nur vor Ausbruch von Corona leisten konnte, spricht Shiller von »viralen« Prozessen, mit denen solche Narrative andere »anstecken« und einer »Epidemie« gleich sich ausbreiten. Narrative, so Shiller, sind populäre Geschichten, die absichtsvoll eine moralische Lektion im Gepäck haben, welche die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der Menschen nachhaltig prägen sollen.

    Shillers Buch sprudelt vor Beispielen solcher die Realität beeinflussender Narrative. Ein Klassiker ist die sogenannte Laffer-Kurve, welche erzählt, dass Einkommensteuersätze von einer bestimmten Höhe an das Steueraufkommen nicht vermehren, sondern schrumpfen. Darauf hat Ronald Reagan in den achtziger Jahren seine gesamte Steuerpolitik gestützt. Hartnäckig hält sich auch seit bald zweihundert Jahren das Narrativ, Automaten und Roboter würden den Menschen dauerhaft die Arbeit wegnehmen. Noch nicht einmal das nachweisliche empirische Dementi (bis Corona gab es hierzulande annährend Vollbeschäftigung) kann solchen Narrativen etwas anhaben.
    Es würde das Leben ärmer machen und wäre fürchterlich naiv, sich eine Welt ohne Narrative zu wünschen. Aber es wäre schon einiges gewonnen, Narrative kritisch lesen zu lernen. Dabei könnten wir die Fähigkeit ausbilden, Gegennarrative zu konstruieren, die das zur Sprache bringen, was die Narrative unterschlagen. Wettbewerb hilft noch immer: Das bessere Narrativ ist der Feind jeder simplen Erzählung.

    Rainer Hank