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  • 01. Februar 2023
    Bernie Madoff und die Gier

    Bernie Madoff (1938 bis 2021) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Anmerkungen zu einer neuen Netflix-Serie

    Auf Netflix gibt es seit kurzem eine vierstündige Dokumentation – so etwas heißt heute »Miniserie« – über den Fall Bernie Madoff. Sie erinnern sich: Das ist jener Betrüger, der über fünfzehn Jahre gutgläubige Anleger um insgesamt 65 Milliarden Dollar geprellt hat und dafür zu 150 Jahren Haft verurteilt wurde. Davon hat Madoff elf Jahre verbüßt. Dann starb er im Jahr 2021 im Alter von 82. Madoff gilt als der größte Finanzbetrüger in der Geschichte. Rund 300 Anwaltskanzleien mit 45 000 Anwälten waren mit dem Fall befasst.

    Das Netflix-Format nennt sich »True Crime Doku«. »True Crime Dokus«, so lerne ich als Novize, sind zu unterscheiden von »Doku Fiction«, wo die Filmemacher die Leerstellen mit ihrer Fantasie ausmalen. Im True Crime über Madoff kommen Zeitzeugen, Opfer, Whistleblower, Angestellte und mögliche Komplizen zu Wort. Was die Zeugen erzählen, wird in Filmszenen mit Schauspielern nachgestellt, »Reenactment« genannt. Als Zuschauer soll man den Eindruck gewinnen, dem Verbrecher ganz nah zu sein – was in der Wirklichkeit bekanntlich eher selten vorkommt.

    Etwas reißerisch ist der Titel »Das Monster der Wall Street«. Das soll wohl an Martin Scorseses Erfolgsfilm »The Wolf of Wall Street« anknüpfen. Dabei ist »Monster« ziemlich daneben. Alle, die Madoff kannten, erinnern ihn als ganz normalen netten Mann aus der Nachbarschaft. Ihn als »finanziellen Serienkiller« zu bezeichnen, ist weniger schief: Er hat die Existenz vieler Sparer vernichtet, ohne jegliche Empathie für deren Schicksal.

    Wie wird einer zum Betrüger? Niemand kommt als Verbrecher zur Welt. Ist Madoff allein der Schurke, alle anderen sind Opfer? Oder braucht der Schurke Mitwisser, gar Mittäter, um Erfolg zu haben? Die Netflix-Doku legt diesen Verdacht nahe.

    Ein Besuch im Gefängnis

    Das großartige FAZ-Archiv schickt mir eine Reportage zweier Journalisten der Financial Times (FT), die im Jahr 2011, drei Jahre nachdem Madoffs Schwindel aufgeflogen war, die Chance erhielten, den Betrüger im Gefängnis FCI Butner, »mittlere Sicherheitsstufe«, zwei Stunden lang zu interviewen. Alle Fragen an Häftling 617272–054 waren zugelassen. Der diensthabende Wachmann wäre nur eingeschritten, wenn es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre.

    Das Glaubwürdigkeitsproblem aller Betrüger steckt im alten Kinderreim: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Die beiden Reporter gehen von der Möglichkeit aus, Madoff könne zumindest »seine« Wahrheit sagen jetzt, wo er nichts mehr zu verlieren hat.

    Seine Geschichte geht so: Geboren 1938 als Sohn eines jüdischen Mittelschichtpaares in Queens. Der Vater hatte ein Sportgeschäft, das Pleite ging als Madoff ein junger Mann war. Seine spätere Frau Ruth lernt er in der Schule kennen; sie war 17 Jahre alt. Madoff träumte von einer Karriere an Wall Street, fürchtete indes, einer wie er, ohne Bildung und Vermögen, habe keine Chance.

    Es kam anders. Aus einem kleinen Broker-Office in den Räumen seines Schwiegervaters wurde ein erfolgreicher Börsenhandel, der früh Computer einsetzte, was die Branche damals ablehnte. Schon in den sechziger Jahren gewann Madoff vier prominente jüdische Kunden, die sein Schicksal werden sollten: Jeffrey Picower und Stanley Chais, zwei reiche New Yorker Investoren. Norman Levy, ein Immobilienmanager, und Carl Shapiro, ein erfolgreicher Kleiderfabrikant aus Boston. Madoff versprach ihnen legale Wege einer langfristigen Geldanlage mit dem Ziel, die konfiskatorisch hohen Steuern in den 70er und 80er Jahren zu unterlaufen.

    Das ging gut bis zum – heute nahezu vergessenen – großen Börsencrash im Oktober 1987. Die vier Großkunden wurden nervös, wollten ihr Geld zurück, zumal die Steuersätze inzwischen weniger drückten. Da Madoff ihr Geld langfristig angelegt und mit Gegenwetten europäischer Anleger gehedget hatte, war er nicht flüssig. Ob Madoff selbst oder einer seiner vier mächtigen Freunde (»too big to fire«) oder alle zusammen auf die Idee kamen, das Geld neuer Kunden zu nehmen, um damit die Ansprüche der Vierergruppe zu bedienen, bleibt offen. Doch das Ponzi-Scheme (»Schneeballsystem«) war in der Welt, ursprünglich nicht als kriminelle Strategie geplant, sondern zur Überbrückung, bis das langfristige Kapital frei würde.

    Bei Ebbe sieht man, wer nackt ist

    Von jetzt an nahm die kriminelle Energie ihren Lauf. Weil Madoff die hohen Renditeerwartungen seiner neuen Klienten nicht dauerhaft mit seiner legalen Anlagestrategie erfüllen konnte, legte er das Geld gar nicht mehr am Kapitalmarkt an, sondern gaukelte ihnen dies lediglich vor. Solange er mehr Einnahmen hatte als Auszahlungen funktionierte das simple System. Frisches Geld kam lange rein, weil Madoff eine höhere Verzinsung als der Kapitalmarkt bot, zwar nicht exorbitant (10 Prozent), aber stetig und ohne Verlustrisiko.

    So etwas weckt die Gier, auch wenn rein logisch risikofreie Gewinne in einer Marktwirtschaft nicht möglich sind. Die besten Adressen (Deutsche Bank, Credit Suisse, Liliane Bettencourt von L›Oréal) klopften bei Madoff an. Er machte sich rar, willigte am Ende scheinbar widerwillig ein, das Geld zu nehmen. Wenn gerade mal kein Geld zur Auszahlung da war, half Großkunde Picower aus, nicht uneigennützig. Die amerikanische Börsenaufsicht SEC stellte Madoff einen Persilschein aus – angesichts seiner Reputation könne er kein Betrüger sein, hieß es. Reputation kann täuschen!

    Das ging gut bis zur großen Finanzkrise 2008, als alle auf einmal ihr Geld zurückhaben wollten. »Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt ist«, sagte damals Warren Buffet. Madoff ging in die Knie, wurde verhaftet. Einer der beiden Söhne nahm sich das Leben. Ehefrau Ruth grämte sich entsetzlich.

    Die FT-Journalisten verlassen das Gefängnis mit dem Gefühl, nicht zu wissen, wo die Wahrheit endet und die Lügen beginnen. Gewiss scheint mir: Der Übergang vom braven Mann zum Verbrecher geht schleichend. Irgendwann gibt es einen Point of no return. Das Hollywood-Narrativ des wahren Lebens braucht einen einzigen Schurken, dabei spricht vieles dafür, dass es Mittäter gab. Denen fiel es mit Hilfe bester Anwälte leicht, sich als Unschuldslämmer auszugeben. Bis auf Madoffs »Finanzminister« Frank diPascali kam soweit ich sehe niemand hinter Gitter.

    Um Kunden zu gewinnen, die ihm ihr Geld anvertrauten, brauchte Madoff keine Tricks. Das erledigt die Gier von allein – wider alle Logik. Wäre so etwas heute wieder möglich? Na klar. Ich erinnere an Sam Bankman-Fried, den Gründer der inzwischen insolventen Kryptowährungshandelsfirma Alameda Research. Mitte Dezember 2022 wurde er wegen Verdachts auf Betrug und Geldwäsche auf den Bahamas festgenommen. Jetzt wartet er auf seinen Prozess.

    Rainer Hank