Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen05. Juli 2021
Bauen wir zwei, drei, viele Venedigs!Es ist eine Lust, wieder zu reisen. Aber es könnte voll werden.
Jetzt waren also auch wir in Venedig. Bei »Gelato Nico«, an der Bootshaltestelle Zattere auf Dorsoduro, ließ sich das allmähliche Erwachen der Lagunenstadt wunderbar beobachten. Zu Anfang der Woche war es selbst am späteren Nachmittag dort noch still, so als ob die Saison noch gar nicht eröffnet wäre, obwohl die Sonne des späten Junis es leicht auf 33 Grad im Schatten schaffte. Gegen das Wochenende hin wurde es dann immer wuseliger. Was wir erst hinterher erfuhren: »Nico«, für Venezianer eine Institution, eilt der Ruf für das beste Eis in der Stadt voraus. Mir fehlt der Überblick, doch ich bürge, dass das Gianduiotto – eine Art Nougateisblock im Becher zusammen mit viel Sahne – wirklich der Hammer ist.
Wir müssen wieder lernen, Menschen zu betrachten. Im Lockdown war das kaum möglich, weil wir alle in unseren Häusern eingesperrt waren. Jetzt kommen die Menschen aus ihren Löchern heraus, zuallererst die Italiener selbst, denen in diesem Jahr noch nicht einmal erlaubt war, ihren Carneval zu feiern. Franzosen sind da, Deutsche sowieso und natürlich die Schweizer. Es fehlen die Briten (wegen Delta), es fehlen die Amerikaner und die Asiaten. Das Bild an Zattere ist europäisch. Fast will es uns scheinen, als hätten sich alle zur Wiedereröffnung der Stadt besonders herausgeputzt. Junge, schöne Menschen, die sich einander von der attraktivsten Seite zeigen: Ein ausgelassenes Vergnügen bunter Menschlichkeit, pure Freude am wiedergeschenkten Leben.
Der Tod in Venedig
Gegenüber von Dorsoduro, auf der anderen Seite des Giudecca-Kanals, blicken wir auf Andrea Palladios Renaissance Redentore-Kirche. Am 4. September 1576 gelobte der Senat von Venedig den Bau einer Kirche zu Ehren des Erlösers (italienisch: Redentore), sobald die Stadt von der Pest frei sein würde, an der etwa ein Viertel der damaligen Bevölkerung, fast 50000 Menschen, gestorben waren. Im Sommer 1577 war die Seuche tatsächlich verschwunden. Seither wird zum Dank am dritten Sonntag im Juli ein Fest mit opulentem Nachtmahl und Feuerwerk gefeiert. Es würde mich wundern, fiele es in diesem Jahr nicht besonders ausgelassen aus.
Überhaupt ist mir klar geworden, wie sehr diese Stadt des Vergnügens, der Musik und der Feste zugleich – quasi ihre Nachtseite – eine Stadt der Pandemien ist. Um eine erste große Seuchenwelle im 14. Jahrhundert einzudämmen, beschloss man, ankommende Schiffe vierzig Tage lang im Hafen zu isolieren. Das war die Erfindung der Quarantäne, der wir bis vor einem Jahr als einer archaisch wirkenden epidemiologischen Maßnahme wenig Beachtung entgegengebracht hätten. Jetzt habe ich Thomas Manns »Tod in Venedig« noch einmal aus dem Bücherschrank geholt. Seit der Schullektüre und der durch Gustav Mahler etwas arg schwülstig geratenen Visconti-Verfilmung von 1971 habe ich die Geschichte nicht mehr beachtet: Dass die Katastrophe durch eine aus Indien eingeschleppte Cholera-Epidemie ausgelöst wird, der auch Gustav von Aschenbach, der Held, zum Opfer fällt, hatte ich nicht mehr so präsent.
Spätestens nach dem Redentore-Fest in zwei Wochen wird von diesen dunklen Dingen niemand mehr etwas wissen wollen. Es wird schon seine Gründe haben, warum die Erinnerung an die Spanische Grippe vor hundert Jahren tief vergraben war und erst jetzt mit Corona wieder hervorgekramt wurde. Kollektives Vergessen ist offensichtlich nicht minder wichtig als kollektives Erinnern.
Lange wird es ohnehin nicht mehr dauern, bis die neue Normalität die alte Normalität Venedigs sein wird: Ihr Name ist Massentourismus. Dazu will natürlich niemand gehören, ich auch nicht. Alle zusammen summieren wir uns auf jährlich 30 Millionen Besucher, wofür die jetzt schon wieder präsenten dicken Kreuzfahrschiffe im Giudecca-Kanal das sichtbare Zeichen sind, die freilich statistisch nur einen geringen Teil der Touristen ausmachen. Dazu kommen die AirBnB-Touristen, die in den Appartments der Venezianer übernachten, welche ihrerseits die Stadt verlassen haben, oder die reichen Bürger aus Mailand, die sich Zweit- oder Drittwohnungen in der »Serenissima« gekauft haben. Der Effekt war vorhersehbar und wird seit Jahren diskutiert: Immer mehr Fremde, immer weniger Einheimische. Die Zahl der »echten« Venezianer in der alten Stadt hat sich binnen vierzig Jahren von 100 000 auf 50 000 halbiert; jedes Jahr werden es 1000 weniger, so dass man ausrechen kann, wann die Touristen die Stadt übernommen haben werden – spätestens im Jahr 2070. Dabei finden nicht wenige, Venedig – »halb Märchen, halb Fremdenfalle« (Thomas Mann) – gleiche heute schon einer Art historischem Disneyland, irgendwie auf natürliche Weise unwirklich und mit einem Haufen ökologischer Probleme, zu denen die dicken Schiffe mehr beitragen als zu den touristischen Schäden. Na ja, mich hat dieser Pessimismus nie richtig überzeugen können.
Bruno Frey hat eine geniale Idee
Seit Jahren wird diskutiert, ob und was die Stadt gegen den »Overtourism« unternehmen könnte. Jetzt droht die Unesco mit ihrer »roten Liste« gefährdeter Weltkulturstätten. Allzu abschreckend sollten die Maßnahmen nicht sein, finden viele Händler gerade jetzt, denn schließlich müssen die Touristen die Umsatzverluste des letzten Jahres wettmachen. Das Schlagwort vom »qualitativen Tourismus« macht die Runde. Gemeint ist wohl: Weniger Fremde, die dafür mehr Geld in der Stadt lassen. Das ließe sich kombinieren mit hohen Eintrittspreisen, was die Stadt dann aber vollends zu einem Kulturmuseum für die Reichen machen würde.
Der Schweizer Ökonom Bruno Frey, einer der Kreativsten seiner Zunft, will nicht die Nachfrage rationieren, sondern das Angebot ausweiten, ein ziemlich frivoler Vorschlag. Die Idee dahinter: Wir bauen ein zweites, neues Venedig, quasi als Kopie nicht allzu weit entfernt von der Lagunenstadt. Statt von Kopie spricht Frey lieber von »neuen Originalen«, die mit digitaler Technik zusätzlich Originalerlebnisse und »augmented reality« bieten könnten. Antonio Vivaldi könnte seine Kompositionen live zum Besten geben, Giacomo Casanova würde auftreten und den Besuchern von seinen Liebesabenteuern berichten. Die Idee ist typisch ökonomisch gedacht, aber nicht so absurd, wie sie sich anhört. Altamira und Lascaux, die bemalten Höhlen der menschlichen Frühgeschichte, dürfen Touristen nur im künstlichen Duplikat betrachten. Originalität sei ein Mythos, meint Bruno Frey: Der Campanile auf dem Markusplatz, 1902 von Erdbeben und Unwetter zum Einsturz gebracht, wurde, was die wenigsten wissen, anschließend völlig neu errichtet – streng nach seinem Vorbild aus dem Jahr 911. Das sei auch nichts anderes als ein »neues Original«, so Frey.
Doch das mit dem Capanile wissen die Fachleute: Wir Laien geben uns der Illusion der Originalität hin. Im »zweiten Venedig« wäre das schwierig. Da müssten wir uns wie in Las Vegas fühlen. Das mag ökologisch, ökonomisch und touristisch eine gute Lösung sein. Aber würde funktionieren? Und was machen wir mit Nico, dem Eiskonditor? Kriegt er einen Doppelgänger im zweiten Venedig? Und das Salzwasser des Kanals, das an meinem letzten Abend nach einem Gewitter über das Ufer schwappte und die Füße in den Sandalen nass machte? Sage niemand, dass seien Details, die für die Disneyländer irrelevant seien.
Rainer Hank