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  • 17. September 2019
    Bankrott des Christentums

    Warum kommt keiner mehr?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ökonomische Gedanken zum Massenexodus der Gläubigen

    Die Katholische und Evangelische Kirche in Deutschland verlieren massiv Mitglieder. Allein den Katholiken liefen im vergangenen Jahr über 200 000 Gläubige davon. Das ist die zweithöchste Austrittszahl seit Ende des II. Weltkriegs. Weil zudem mehr Katholiken sterben als Neuchristen getauft werden, beziffert sich der Verlust auf insgesamt 310 000 Ex-Gläubige. In der evangelischen Kirche sieht es nicht besser aus: Zwar gibt es weniger Austritte, dafür aber noch weniger Neueintritte als bei den Katholiken: Das führt zu einem Schwund von fast 400 000 Protestanten in nur einem Jahr 2018.

    Wenn es so weitergeht, werden die Mitgliederzahlen beider Kirchen bis zum Jahr 2060 noch einmal um die Hälfte zurückgehen, hat im Frühjahr der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen hochgerechnet. Dafür ist längst nicht nur der demographische Wandel verantwortlich – nach dem Motto: »Kannste nichts machen, wenn die Christgläubigen keine Kinder mehr kriegen.« Doch Zweidrittel des Schwunds haben nichts mit der Demographie zu tun. Da könnte man schon etwas machen, wenn man könnte.

    Alles begann mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil

    Es liegt nahe, die Dramatik der Austritte auf den Missbrauchsskandal zurückzuführen und, womöglich noch gravierender, das Versagen der Kirche bei der Aufarbeitung dieses Skandals. Doch die Wahrheit ist viel schlimmer: Die Abwendung vom Christentum dauert schon viel länger. Nach dem Krieg war die konfessionelle Welt in Deutschland noch in Ordnung: Man war entweder evangelisch (50 Prozent) oder katholisch (45 Prozent), der ungläubige Rest war vernachlässigbar. In konfessionsverschiedenen Orten wussten die Leute voneinander, wer welchem Glauben anhing: Katholiken kauften ihre Wurst beim katholischen Metzger, Protestanten beim evangelischen Fleischer. Auch 1970 stimmte diese konfessionelle Ordnung noch: Katholisch waren 44 Prozent, evangelisch 49 Prozent der Deutschen. Erst danach ging es los: Heute gehört nur noch jeder zweite Deutsche einer der beiden Konfessionen an. Während 1950 jeder zweite Katholik regelmäßig sonntags zur Messe geht, ist es heute nicht einmal mehr jeder Zehnte.

    Was ist passiert? Kirchenmänner und Theologen schwurbeln sich durch (Kardinal Reinhard Marx), verweisen auf die schwindende Gottesbindung und fordern den verbliebenen frommen Rest zum Gebet auf (Kardinal Walter Kasper). Das kann man versuchen. Ökonomen und Soziologen werden ein bisschen konkreter. Von »Massenexodus« spricht der in London lehrende Religionssoziologe Stephen Bullivant in seinem gerade bei Oxford University Press erschienenen Buch über Sezession und Glaubensabfall in der Katholischen Kirche. Der Clou: Ausgerechnet das II. Vatikanische Konzil (1962 bis 1965), welches Aufbruch und neue Kraft für die Kirche bringen sollte, war der Anfang vom Ende. Die Sache hatte auch damals schon viel mit Sex zu tun, kirchlich »Sexualmoral« genannt: In seiner Enzyklika »Humanae vitae« von 1969 verbot Papst Paul VI. den Katholiken jegliche Empfängnisverhütung außer der natürlichen. Doch die Katholikinnen nahmen lieber die damals neue Antibabypille und kehrten ihrer Kirche den Rücken – ein Akt massiver Gehorsamsverweigerung, wie es ihn früher nie gegeben hätte. Parallel dazu verwilderte der Kult: die Protestanten verliebten sich in den linken Moralismus, die Katholiken nahmen die Klampfe zur Hand und verkitschten ihre schöne Liturgie. Soziologe Bullivant spricht von »happy-clappy liturgy«. Das sind immer noch nicht alle Gründe: zur abnehmenden Glaubwürdigkeit des kirchlichen Personals, dem Kopfschütteln über die Haltung der Amtskirche zu Scheidung, Homosexualität oder vorehelichem Sex, kommen Zweifel der Christen daran, ob es ein Leben nach dem Tod (einerlei ob im Himmel oder in der Hölle) gibt und ob Gott wirklich existiert.

    Schadet die Entchristlichung dem Wohlstand?

    Religionssoziologen machen einen Unterschied zwischen »Glauben« und »Kirchenmitgliedschaft« (»believing« versus »belonging«). Man kann an Gott glauben, ohne je in die Kirche zu gehen. Man kann aber auch in den Gottesdienst gehen, etwa weil dort Johann Sebastian Bachs Kantaten zu hören sind, und an der Existenz Gottes zweifeln. Beides zählt als »religiöses« Verhalten. Beides hat dramatisch abgenommen – und zwar in allen reichen Ländern der Welt. In den Vereinigten Staaten, wo es viel mehr Kirchen-Wettbewerb gibt, gehen von hundert Getauften heute noch 15 Prozent zur Sonntagsmesse; 35 Prozent von ihnen haben den Glauben an die christliche Erlösungslehre verloren. In Großbritannien sieht es ähnlich aus. Zuwächse verzeichnen einzig die »Pfingstler«, jene kapitalismusfreundlichen sogenannten »Health- and Wealth-Christen«, die nicht nur in Amerika, sondern beispielsweise auch im kommunistischen China viel Zustrom verzeichnen.

    Angesichts dieses beispiellosen Massen-Exodus seit fünfzig Jahren bekommt die alte These Max Webers über die Entzauberung der Welt wieder neue Freunde. Robert Barro, ein Harvard-Ökonom, der mit Arbeiten über rationale Erwartungen und die Rolle der Geldpolitik berühmt geworden ist und als Kandidat für den Ökonomie-Nobelpreis gehandelt wird, hat zusammen mit seiner Frau Rachel McCleary, einer Religionswissenschaftlerin, immer schon viel über die Ökonomie des Religiösen geforscht. Jetzt haben die beiden in einem spannend zu lesenden Buch die Summe ihres Nachdenkens vorgelegt (»The Wealth of Religions«). Zwei Fragen stehen im Zentrum: Trägt religiöser Glaube zum Wohlstand der Nationen bei? Und: Führt wachsender Wohlstand zu einem Schwund religiöser Praxis und religiösen Glaubens? Letzteres ist die klassische, ebenfalls von Max Weber stammende Säkularisierungsthese, welche von Barro-McCleary rehabilitiert wird. Das bedeutet nicht, dass Religion am Ende ganz aus der Welt verschwände und durch atheistische Rationalität eScrsetzt würde. Doch seit der religionskritischen Aufklärung haben die Menschen mehr Optionen, wie und woher sie ihrem Leben Sinn geben können. Der Wettbewerb wurde schärfer. Das dezimiert die Gruppe der Christen sozusagen von alleine, wenn neue Akteure Marktanteile ergattern. Wenn dann – auf der Angebotsseite würden Ökonomen sagen – eine Verschlechterung des religiösen Produkts und eine massive Vertrauenskrise der Firma hinzu kommt, dann nimmt die Nachfrage nach Religion schlicht aus ökonomischen Gründen ab.

    Robert Barro, ein säkularer Jude, findet das übrigens gar nicht gut und zwar abermals aus ökonomischen Gründen. Denn es lässt sich empirisch zeigen, dass der christliche Glaube sehr hilfreich ist für Wachstum und Wohlstand eines Landes. Dabei spielt »Believing«, das aus dem Glauben heraus motivierte leistungsfreundliche Arbeitsethos, eine deutlich wichtigere Rolle als »Belonging«, die soziales Kapital generierende kirchliche Gemeinde. Überspitzt gesagt heißt das: Ein dramatischer Rückgang des christlichen Gottes- und Erlösungsglaubens ist schlecht für das Wirtschaftswachstum. Ob das die Kirchen motivieren wird, die Qualität ihres religiösen Angebotes zu bessern, wage ich zu bezweifeln. Denn sie müssten dafür ihren Antikapitalismus über Bord werfe. Doch den hat Papst Franziskus anlässlich einer Reise nach Madagaskar gerade vehement erneuert.

    Rainer Hank