Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen16. März 2021
Auf der Corona-PisteWegsperren oder freilassen – das ist die Corona-Frage
Vergangene Woche war ich Skifahren im Engadin. Die Schweiz ist bekanntlich das einzige Land in erreichbarer Nähe mit Bergen und Schnee, wo Wintersport auch für Ausländer erlaubt ist: Die Lifte sind offen, die Hotels sind es auch.
Es war großartig. Sechs Tage (fast) Normalität zeigen, was uns in all den langen, dumpfen, öden Monate gefehlt hat. Zuvörderst sind es die Menschen, so trivial es klingen mag. Und alle ihre zivilisatorischen Errungenschaften. Wie herrlich ist es, im Hotelrestaurant Platz zu nehmen und von der Suppe bis zum Nachtisch bedient zu werden. Ja, es gab wirklich eine Zeit, da musste man nicht jede Nudel vorher selbst kochen, wenn man sie essen wollte. Oder sein Takeaway in kleinen Plastikbeuteln drei Minuten im Wasserbad erhitzen, um es anschließend mit dem im Backofen bei 180 Grad vier Minuten zu Ende gegarten Hühnchen zu vereinen.
Und der Skibetrieb? Er funktioniert. Erwachsene Menschen halten Abstand und nehmen aufeinander Rücksicht, ohne vorher auf der Laschet-Liste nachzulesen, ob die aktuellen Inzidenzwerte vier oder sechs Quadratmeter Fläche für ein Click-and-Meet-Treffen zulassen. Thomas, mein Freund aus dem Fex-Tal, meinte, die Politiker hätten Freude gefunden an ihrer Macht, Vorschriften zu verschärfen oder zu lockern. Ich mochte ihm nicht widersprechen.
Auf den Schweizer Bergen gelten einfache Regeln: Beim Einsteigen und Aussteigen aus dem Sessellift muss Maske getragen werden (die Brille beschlägt leider komplett). Die Leute achten darauf, dass nur zwei oder drei einander vertraute Skiläufer Platz im Lift nehmen, der normalerweise für acht Menschen ausgelegt ist. Keiner drängelt. Bloß in der Kabine wurde es mir zuweilen angesichts dicht gedrängter, wenn auch maskierter Wintertouristen etwas mulmig.
Picknick in den Schneebergen
Nicht alles ist perfekt. In den Hütten darf man sich seinen Sandwich und seine heiße Ovomaltine holen. Doch seit einem Ukas der Berner Zentralregierung im sogenannten Schweizer Terrassenstreit dürfen die Speisen nicht mehr auf den weit auseinander gerückten Tischen und Bänken unter der Sonne der Südalpen vor der Hütte verzehrt werden. Angeblich aus Gerechtigkeitsgründen, weil das vor den Beizen im Tal auch nicht geht. Was passiert? Die Leute stehen stattdessen eng in kleinen Trauben neben der Terrasse, was mutmaßlich das Ansteckungsrisiko deutlich vergrößert. Das Terrassenverbot wird übrigens kontrolliert: Auf dem Corvatsch habe ich zum ersten Mal in meinem Leben fesch uniformierte Ordnungshüter auf Skiern zu Gesicht bekommen; bisher kannte ich Polizisten allenfalls beritten.
Wir jedenfalls haben uns den Menschen-Trauben vor den Terrassen ferngehalten und die schöne Tradition des Picknicks aus dem Rucksack wiederbelebt: Mehr oder weniger gemütlich auf Felsen sitzend oder die umgedrehten Skier als eine Art Bank zweckentfremdend.
Vor dem Ischgl-Effekt muss im Engadin ohnehin keiner Angst haben; da wird nicht über die Stränge geschlagen. Ich wusste, dass die Ansteckungsgefahr größer ist als im Homeoffice im Frankfurter Nordend. Das habe ich ganz alleine zu verantworten. Ich wurde niemandem anderen zur Gefahr. Nach der Rückkehr habe ich mich pflichtgemäß zunächst in ein Testzentrum und anschließend in Quarantäne begeben.
Für seinen liberalen Kurs ist die Schweiz von den Deutschen gescholten worden. »Warum die Schweiz in der Corona-Krise so versagt hat«, war ein Artikel im Spiegel überschrieben. Andere Zeitungen urteilten, etwas sei bei den Eidgenossen »gewaltig schiefgelaufen«. Schwingt da Neid mit? Um das Urteil zu überprüfen, muss man sich die Zahlen anschauen. Das geht mittlerweile sehr verlässlich, wenn man etwa die Oxford-Seite »Ourworldindata« des Ökonomen Max Roser aufruft. Aber auch andere Vergleichsportale bieten Fakten. Beginnen wir mit den Inzidenzahlen (sieben Tage). Am 11. März verzeichnet Deutschland 69, die Schweiz 90. Da schneidet die Schweiz also schlechter ab. »Besser«, falls das nicht zynisch klingt, sieht es bei der Letal-Rate aus. Das sind die mit oder an Corona gestorbenen Menschen bezogen auf die Infizierten. In der Schweiz sind es 1,79 Prozent, in Deutschland sind es 2,87 Prozent. Fast erwartbar ist die Schweiz wirtschaftlich besser durch die Pandemie gekommen. Das Bruttoinlandsprodukt brach im vergangenen Jahr lediglich um drei Prozent ein, in Deutschland waren es – internationales Mittelfeld – fünf Prozent.Deutschland und Schweiz schlagen sich gleich schlecht
Und schließlich noch die Bilanz der derzeitigen Heilsbringer, Testen und Impfen. Da nehmen sich die beiden Länder nichts. Die Testquote beträgt in Deutschland 53, in der Schweiz 51 Prozent. Geimpft werden in Deutschland unter hundert Bürgern statistisch gesehen täglich 0,25 Menschen. In der Schweiz sind es 0,24. Zum Vergleich: Israel impft täglich 1,06 Bürger, mithin vier Mal so viel. Beide Länder haben gewaltig Nachholbedarf.
Worauf ich hinaus will: Deutschland und die Schweiz schlagen sich in der Pandemie grosso modo gleich schlecht. Während die Schweiz vor der Freiheit der Bürger oder Touristen großen Respekt hat, hat sich Deutschland für die harte Linie entschieden. Menschen werden in Angst gehalten und weggesperrt, wie die Neue Zürcher Zeitung dieser Tage in einem Artikel schrieb, der die freche Überschrift trägt: »Zu Tode geschützt ist auch gestorben.« Die harte Linie der Deutschen zahlt sich im Vergleich zur Schweiz offenkundig nicht aus.
In der Krise zeigt sich nicht nur, was der Staat kann, sondern vor allem auch, was der Staat soll. Die Lösung der Schweiz: Der Staat soll faire Rahmenbedingungen für gutes und sicheres Zusammenleben freier Menschen herstellen. Freiheit und Sicherheit sind in Balance. Die Menschen haben Spielraum, nach ihrer Risikoneigung ihr Leben zu leben. Deutschland traut seinen Bürgern weniger zu. Das korreliert auf der anderen Seite mit der Gestaltungslust seiner Politiker, die für kaum jemand mehr verständliche Öffnungspläne schreiben, in denen konditioniert von Inzidenzahlen Öffnungsquadratmeter definiert werden. Keiner kommt mehr hinterher: Wenn durch höhere Testraten die Inzidenzen steigen, dann ist das doch eigentlich ein gutes und kein schlechtes Zeichen, was zu einer Korrektur der Schwellenwerte nach oben führen müsste.
Täuscht der Eindruck, dass die paternalistische Regulierungswut der regierenden Pandemisten in Deutschland und der Maskenskandal in der Union zwei Seiten derselben Medaille sind? Beides sind Verfallsformen der Staatlichkeit. Dass eine Gesellschaft, in welcher der Staat die Beschaffung wichtiger Güter (Masken, Tests) übernimmt, die Korruption blüht, überrascht nicht. Das ist immer so in einer Staatswirtschaft. Lokale Politiker übernehmen die Verteilung und halten die Hand auf. Der Maskenskandal ist systemisch, nicht moralisch zu analysieren. Unser latent autoritärer Charakter, der uns wie Kinder auf Lockerung, kostenlose Masken oder Schnelltests schielen lässt, wird von der Politik souverän bespielt. Die Profiteure sind die politischen Schieber der Zuteilungswirtschaft, die daraus ihren privaten Profit ziehen. Die Freiheit der Bürger geht verloren.
Rainer Hank