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  • 19. Februar 2020
    Antisemitismus und die Ökonomie der Verschwörung

    Alfred Dreyfus (1859 bis 1935) Quelle: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Fluch der Loyalität

    Ende des Jahres 1894 wird in Frankreich der Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus von einem militärischen Gerichtshof der Spionage zugunsten des Deutschen Reiches angeklagt und zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinseln verurteilt. Das Urteil wurde einstimmig gefällt, die Verhandlungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dreyfus war ganz offenkundig unschuldig, aber ein aus dem Elsass stammender Jude war zu jener Zeit ein natürlicher Verdächtiger. Und der »Mob« (Hannah Arendt) war gerne bereit, die Unwahrheit zu glauben.

    Selbst nachdem Dreyfus› Unschuld vollkommen erwiesen war, fand sich kein Gericht bereit, ihn zu rehabilitieren. Das Militär meinte, der Einzelnen zähle weniger als die Ehre der Armee. Jeder, der Beweise für die Unschuld Dreyfus’s vorlegte, wurde gnadenlos verfolgt. Erst 1906, zwölf Jahre nach dem Fehlurteil, widerrief ein Berufungsgericht das Urteil gegen Dreyfus und begnadigte ihn.

    Warum wir an Lügen glauben

    Die sogenannten Dreyfus-Affäre wirft zwei fundamentale Fragen auf, die heute von höchster Aktualität sind: (1) Wie lässt es sich verstehen, dass große Gruppen von Menschen nicht zögern, offenkundige Lügen für wahr zu halten? (2) Warum verhalten sich die Opfer solcher niederträchtigen Verschwörungstheorien loyal gegenüber dem System, das sie verfolgt – trotz allen Unrechts, das ihnen angetan wurde?

    Die Antwort auf die erste Frage hängt mit dem Umstand zusammen, dass Menschen soziale Wesen sind, die gerne in Gruppen leben, welche ihrerseits einen unguten Druck zur Konformität erzeugen. Patrick Bernau hat in der vergangenen Woche in der F.A.S. an das sogenannte Asch-Experiment erinnert, das zeigt, dass Menschen sich ein X für ein U vormachen lassen, wenn viele in ihrer Peer-Gruppe, behaupten, das X sei ein U. Man nennt dies das »Gesetz der Zahl«. Es geht davon aus, dass die Mehrheit nicht irren kann. »Fifty million frenchmen can’t be wrong«, ist der Titel eines Musicals von Cole Porter: Die Schlagzeile bringt die Wahrheit in Abhängigkeit zur Anzahl der Menschen, die dasselbe glauben. Dabei müsste selbst bei flüchtigem Nachdenken auffallen, dass es keinen logischen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Mehrheit gibt. Doch ganz im Gegenteil sind wir bereit, unsere eigenen Zweifel hintanzustellen, nur weil viele andere etwas anderes behaupten.

    Mehr noch: In der Gruppe neigen wir alle dazu, extremer zur werden als es jeder Einzelne ohne die Gruppe wäre. Gruppen polarisieren und radikalisieren ihre Mitglieder – in welche politische Richtung auch immer. Woran das liegt? Menschen suchen und brauchen Bestätigung. Wenn zwei einander in ihrer Ansicht bestätigen, fühlen beide sich sicherer. Kommt ein Dritter hinzu und schließt sich der Meinung an, fühlen sich alle noch sicherer. Man nennt das eine Bestätigungskaskade, die wiederum bei allen Gruppenmitgliedern zur Radikalisierung ihrer Meinung führt: Dann hauen wir auf den Putz. Das ist der fruchtbare Nährboden für Verschwörungstheorien und Filterblasen aller Art – vor allem aber für den Antisemitismus. Im Netz funktioniert alles bekanntlich noch viel perfekter und vor allem aber viel schneller. Gruppen sind gefährlich, man sollte der positiv-ideologischen Überhöhung von Teams aller Art (im Netz, in der Firma, in der Politik) misstrauen.

    Ein Whistleblower avant la lettre

    Doch Resignation ist nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Tendenz von Gruppen, sich in der Unwahrheit einzurichten und abzuschotten. Es gibt auch Chancen auszuscheren; die Filterblase kann zum Platzen gebracht werden. Damit zurück zu Alfred Dreyfus: Am 13. Januar 1898 erscheint in der Tageszeitung »L’Aurore« unter dem Titel »J’accuse« (»Ich klage an«) ein offener Brief des französischen Schriftstellers Émile Zola an den Präsidenten der Französischen Republik, um diesen und die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu informieren. Der Brief verursachte einen großen politischen und gesellschaftlichen Skandal. Informationsquelle für Zola war Marie-Georges Picquart, ein Mann, der zuvor zum Leiter der militärischen Spionageabwehreinheit befördert wurde – jener Behörde, die Dreyfus »überführt« hat. Als Picquart feststellt, dass auch nach Dreyfus’ Festsetzung noch weiter Geheimnisse an die Deutschen verraten werden, wird er auf ein von Antisemitismus durchzogenes System aus Betrug und Korruption in der Armee aufmerksam. Er stellt sich gegen alle Befehle und sagt als Zeuge zugunsten von Dreyfus aus.

    Picquart ist ein früher Held des Whistleblowings, als es den Begriff noch gar nicht gab. Nach Zolas Brief wurde er der Verleumdung angeklagt und schuldig gesprochen. Er wird verhaftet und ins Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi gebracht, wo er die nächsten elf Monate verbrachte. Am Ende wird Picquart, dem es stets um Rechtsstaatlichkeit gegangen war, aus der Armee entlassen. In seinem Film »J›accuse« der unter dem Titel »Intrige« derzeit in den deutschen Kinos zu sehen ist, hat der polnische Regisseur Roman Polanski dem »Whistleblower« Picquart ein Denkmal gesetzt. Am Ende hatte Piquart gesiegt: Das Urteil gegen Dreyfus wird widerrufen.

    Doch das ist zwar das Ende des Polanski-Films, aber nicht das Ende der Dreyfus-Geschichte. Als 1914 der Krieg ausbrach kehrte Dreyfus sofort in die französische Armee zurück, stand an der Front, wurde zum Oberstleutnant befördert und im Kampf ausgezeichnet. Das ist zutiefst verstörend. »Es scheint Dreyfus nie in den Sinn gekommen zu sein, dass er in einer korrupten Gesellschaft lebte und einem kriminellen Offizierscorps diente«, schreibt die Philosophin Judith Shklar in ihrem 1998 erschienenen Essay über »Verpflichtung, Loyalität und Exil«, der – von Hannes Bajohr herausgegeben und übersetzt – neuerdings auch auf Deutsch vorliegt.

    Der starke Wunsch nach Zugehörigkeit

    Ist der Mann verrückt? Das wäre zu einfach. »Dreyfus hörte nie auf, je etwas anderes zu sein als hyperpatriotischer, loyaler französischer Bürger«, schreibt Judith Shklar: Für Shklar ist Dreyfus ein Beispiel von Loyalität, die eine Treue-Verpflichtung aufrechterhält, die er dem ihn verstoßenden und verratenden Staat längst nicht mehr geschuldet hätte.
    Was treibt jemanden zu Loyalität gegenüber einem Regime, das derart schändlich mit einem umspringt? Woher rührt ein Patriotismus gegenüber einem Staat, der einen zuvor ausgestoßen hat? Will Dreyfus durch eine Art Überidentifikation noch nach seiner Begnadigung beweisen, dass nicht wahr sein kann, was man ihm intrigant vorgeworfen hatte? Will er zeigen, dass ein elsässischer Jude ein besonders guter Franzose sein kann?

    Sie glaube nicht, dass Dreyfus nur ein Opfer gewesen sei, das sich mit seiner Unterdrückung identifiziere, meint Judith Shklar – und fügt lakonisch hinzu: »er sah sich als einer der ihren.« Das würde auf den tieferen Sinn der Loyalität verweisen: den Wunsch nach Zugehörigkeit. Zugehörigkeit, die bereit ist, die abgrundtiefen Verletzungen hintanzustellen, Verletzungen durch jene, denen anzugehören ihm gleichwohl weiterhin wichtig ist. Dreyfus ignoriert das Unrecht, das ihm von seinem Land angetan wurde – und bleibt loyal Landsleuten gegenüber, die sich ihm gegenüber höchst illoyal verhalten hatten. Merkwürdig, was Nationalismus anrichten kann, selbst unter seinen Opfern.

    Rainer Hank