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  • 27. September 2020
    Anleitung zur Rechthaberei

    Die Lust am Weltuntergang Foto Gerd Altmann/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Grüne und Liberale sich nicht vertragen

    Eine Freundin beschwert sich regelmäßig darüber, dass andere ihr Rechthaberei vorwerfen. Sie findet den Vorwurf grob ungerecht, weil, so ihr trotziger Kommentar, es nun mal leider eine Tatsache sei, dass sie immer Recht habe.

    Warum neigen viele Leute zu der Ansicht, dass sie selbst mit fast allem Recht haben und die anderen falsch liegen? Viele Corona-Demonstranten sind davon überzeugt, dass die geltenden Pandemieauflagen – Abstand, Hygiene, Maske – vollkommen übertrieben sind und in keinem Verhältnis stehen zu den zu erreichenden Gesundheitszielen. Was den Demonstranten als völlig plausibel erscheint, halten viele Bürger für eine gefährliche Verharmlosung, gespeist von Ignoranz und kruden Verschwörungstheorien. Rationalität bestreitet man einander, eine Versöhnung der Positionen ist nicht vorgesehen.

    Dass sich Ansichten unversöhnlich gegenüberstehen ist keine Spezialität der Corona-Epidemie. Es findet sich überall und es wird schlimmer, so scheint es mir. Nehmen wir nur die Frage, wie wir es mit unserem Planeten halten. Gerade habe ich das neue Buch des amerikanischen Naturwissenschaftlers Andrew McAfee gelesen, das den sprechenden Titel trägt: »Mehr aus weniger.« McAfee, Direktor der »Initiative on the digital Economy« am MIT in Cambridge, setzt darin zu einem fulminanten Lob des Kapitalismus an und zu einer Verteidigung der Marktwirtschaft gegen ihre sich ständig vermehrenden Kritiker. Grob zusammengefasst lautet die These: Anders als es die gängige grün-linke Meinung behauptet, schaufelt der Kapitalismus sich nicht sein Grab durch ausbeuterischen Ressourcenverbrauch. Ganz im Gegenteil besitzt er die Fähigkeit, mit immer besserer Technologie und immer weniger Ressourcen immer mehr Wachstum und Wohlstand zu schaffen.

    Die freudige Botschaft für den McAfee-Leser lautet: Wir und unser Planet werden überleben, ohne dass wir dafür Verzicht üben müssen. Es ist eine Botschaft, die dem Zeitgeist öko-protestantischer Umwelt-Askese fundamental widerspricht. Kluge Technologie, ein waches Bewusstsein der Menschen und gut reagierende Politik haben die Wende zum Positiven längst herbeigeführt, was für McAfee nicht bedeutet, dass wir die Hände in den Schoß legen dürften. Doch sein Plädoyer für grüne Gentechnik und Atomenergie muss die Öko-Fraktion abermals in Zornesglut versetzen.

    Die apokalyptische Gegenthese

    Zur Kontrasterfahrung braucht man nur das Buch der Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Maja Göpel lesen, das »Unsere Welt neu denken« heißt und seit Monaten auf den Bestenlisten steht. Göpel liefert die apokalyptische Gegenthese zum Trostprogramm von McAfee: Das anrollende Klimachaos mit sich verschärfenden Konflikten zwischen Arm und Reich sind für sie ein Beweis dafür, dass Weitermachen keine Option ist. Das Wohlstandsmodell des Westens habe ausgedient, grundsätzliches Umsteuern von Wirtschaft und Gesellschaft seien unausweichlich: Konsumverzicht ist nur eine von mehreren Konsequenzen, die für die Autorin zwingend sind: Wir sollen aufhören, Geld auszugeben für Dinge, die wir nicht brauchen, deren Herstellung aber den Planeten zugrunde richtet, zu dem es bekanntlich keine Alternative gibt. Als die F.A.S. kürzlich Maja Göpel mit den Thesen von McAfee konfrontierte, reagierte sie fassungslos (»steile These«, »jahrzehntelange Ressourcenforschung ignorierend«). Umgekehrt ist zu vermuten, dass auch McAfee sich nicht lange mit Göpels Gedanken aufhalten würde.

    Ich gestehe, dass mir McAfee mehr einleuchtet als Göpel. Doch heute soll es nicht um meine Rechthaberei gehen, sondern darum, Rechthaberei zu verstehen. Ich will wissen, wie es kommt, dass ich mich mit meiner Sympathie für McAfee in einer Minderheitenposition befinde (jedenfalls findet sich das McAfee-Buch nicht auf den deutschen Bestenlisten). Zwar hat die Mehrheit nicht einfach recht, weil sie die Mehrheit ist. Aber hier werden sich gemäß den Gesetzen der Normalverteilung doch auch viele vernünftige Leute befinden.
    Rat verspricht der Moralpsychologe Jonathan Haidt und sein 2012 erschienenes Buch »The righteous mind«. Der Begriff »righteous« changiert in der Bedeutung zwischen »tugendhaft«, »von seiner Rechtschaffenheit überzeugt« und auch »selbstgerecht«. Es geht also gerade darum, warum wir meinen, stets auf der moralisch besseren Seite zu stehen. Haidt, 1963 geboren und heute an der Business Schule der New York Universität lehrend, bezeichnet sich selbst als typischen Vertreter des an der Ostküste dominierenden Linksliberalismus. Die Großeltern flohen aus dem zaristischen Russland nach Amerika und gehörten einer Generation an, für die Sozialismus und Gewerkschaftsbewegung die einzig moralisch vertretbare Weltsicht darstellten. Der Enkel ist in diese Welt hineingewachsen. Dass Konservative anders ticken, habe er zur Kenntnis genommen und psychologisierend zu verstehen versucht, sagt er. Psychologisierung aber ist eine Strategie, die den eigenen Standpunkt nicht infrage stellt, sondern sich über die anderen stellt. »Die Möglichkeit alternativer moralischer Welten« mit vergleichbarem intellektuellem Existenzrecht sei ihm nie in den Sinn gekommen, schreibt Haidt.

    Erst kommt die Intuition, dann der Verstand

    Haidt vergleicht unser Bewusstsein mit einem Reiter auf einem Elefanten. Emotion und Intuition sind der Elefant; der hat seine eigene Intelligenz und seinen eigenen Willen. Er neigt dazu, den Weg einzuschlagen, den er für den richtigen hält. Der Reiter, unser Bewusstsein, liefert lediglich nachträglich die rechtfertigenden Kommentare. »Wir sind gewissermaßen nur dir Pressesprecher unseres tieferen, verborgenen Selbst.« Erst ist die Intuition da, danach kommt das strategische Räsonnement.

    Die moralischen Grundlagen der Intuition hält Haidt für universal, jenseits kultureller Unterschiede. Sie bestehen aus fünf »Haltungen« oder »Tugenden«, die alle Menschen teilen, freilich mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die moralischen Grundlagen heißen: Sorge für Schwächere, Fairness, Loyalität, Autorität, Heiligkeit. Man muss das hier nicht im Einzelnen erläutern (es gibt von Haidt eine spannende TED-Präsentation. Wichtig ist: Während es der Linken vor allem um Sorge für die Schwachen und Fairness geht, haben Konservative ein weiteres Spektrum moralischer Grundüberzeugungen (Loyalität, Autorität, Heiligkeit), gewichten dagegen Leidvermeidung und Fairness weniger prominent. Mehr und mehr verabsolutieren alle ihre jeweilige Weltsicht.

    Was bringt der Verweis auf die moralischen Grundüberzeugungen? Keinesfalls den moralischen Relativismus. Aber er kann die rigoristische Rechthaberei unserer Tage lindern. Es gibt nicht nur das Entweder-Oder (links oder rechts, öko oder Wirtschaft), es gibt auch moralische Ergänzungen: Die Pflicht, sich um Gerechtigkeit zu kümmern UND den Auftrag zu seiner Familie oder seiner Nation loyal zu sein. Jonathan Haidt bezieht sich auf asiatische Religionen, wo Yin und Yang polar aufeinander bezogen sind und dennoch sich ergänzen. Die daraus folgende Haltung wäre es anzuerkennen, dass der Gegner eine moralische Position artikuliert, die mir selbst latent vertraut, womöglich sogar unbewusst sympathisch ist. Man kann das auch eine Haltung »moralischer Demut« nennen.

    Rainer Hank