Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen06. Januar 2023
Ampel-UnfugRoll Back in der Sozialpolitik
Der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner hat zum Jahreswechsel eine positive Bilanz der bisherigen Arbeit der Ampel-Koalition gezogen. Deutschland sei »vergleichsweise gut durch dieses Jahr der verschachtelten Krisen gekommen«, sagte Lindner:
Wer wollte bestreiten, dass die anhaltende »Stapelkrise« (Krieg, Corona, Inflation) das Regieren nicht einfach macht, wenngleich die geopolitische Weltlage sich auch als willkommene Entschuldigung dafür anbietet, dass zu »trial« stets auch »error« gehöre. Geschenkt!
Ich erlaube mir, dem mitregierenden FDP-Vorsitzenden zu widersprechen. Im Windschatten der großen Weltkrisen hat die deutsche Ampel eine Kehrtwende in der Sozial- und Wirtschaftspolitik vollzogen, die nur deswegen nicht zu größeren öffentlichen Diskursunruhen führte, weil sie eben von anderen Themen überlagert wurde. Es ist eine zweite, eine leise Zeitenwende, hauptsächlich betrieben von der SPD. Es ist nichts weniger als eine komplette Abkehr von jenen Reformen, die in den Jahren nach 2000 unter der Überschrift »Agenda 2010« von einer rot-grünen Koalition betrieben wurde und Deutschland zu einem vergleichsweise stabilen Wirtschaftswachstum verholfen hat und nicht zuletzt zu einer nachhaltigen Erholung des Arbeitsmarktes geführt ht: Jeder, der hierzulande arbeiten will (und kann), findet einen Job, der mehr oder weniger ordentlich bezahlt wird. Dies ist (auch) Erfolg jener Reformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, die dem ordnungspolitischen Grundsatz folgte: Jeder Bürger hat selbst die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Wer – verschuldet oder unverschuldet – in Not gerät, der hat Anspruch auf Hilfe durch den (Sozial)staat. »Fördern und fordern«, so lautet der Grundsatz der Solidarität.
Beispiel Bürgergeld
Was die Ampel unter dem verführerischen Label »Bürgergeld« durchgedrückt hat, ist die fast komplette Abkehr von dem erfolgreichen Zusammenspiel aus Selbstverantwortung und Solidarität. Die seit den Hartz-Reformen geübte Balance zwischen Großzügigkeit staatlicher Leistungen und Forderungen an die Transferempfänger kommt ins Wanken. Das »Fördern« wird ausgebaut, das »Fordern« tritt zurück. Mit dem Bürgergeld entsteht ein »bedingungsarmes« Grundeinkommen (Holger Schäfer); der Weg zum »bedingungslosen Grundeinkommen« ist vorgezeichnet. Die Philosophie, dass der Sozialstaat bedingungslos sei, niste sich immer mehr in unsere Gesellschaft ein, schreibt der Würzburger Ökonom Norbert Berthold auf seinem Blog. Das hat einen hohen Preis: Umverteilung wird immer effizienzverschlingender, mithin teuer und infeffizient. Norbert Berthold attestiert der Ampel, sie betreibe »ordnungspolitischen Unfug«.
Diese sozialpolitische Zeitenwende hat die Ampel der Gesellschaft ohne Not verordnet. Angesichts der realen beschäftigungspolitischen Not vieler Unternehmen, die händeringend Arbeitskräfte suchen, könnte man eher darüber nachdenken, das »Fordern« zu verstärken. Denn, wie gesagt, zumutbare Arbeit gibt es zuhauf. Die Firmen laufen den Leuten hinterher. Es ist noch nicht einmal nötig, dass die Solidargemeinschaft die Weiterbildung der Arbeitssuchenden übernimmt – eine Neuerung des »Bürgergeldes«, für das die Ampel sich besonders auf die Schulter klopft: Das kann sie getrost den Firmen überlassen, die die Weiterbildung für ihre neuen Mitarbeiter aus purem Eigeninteresse übernehmen und finanzieren werden. Es bleibt wahr, was oft gesagt wurde: Das »Bürgergeld« heilt keine Not des Arbeitsmarktes, sondern das Hartz-Trauma der SPD, zwanzig Jahre danach. Dabei ist die »Linke«, unintendiertes Resultat dieses sozialdemokratischen Traumas, gerade erfolgreich dabei, ohne Nachhilfe der SPD parteipolitisch zu verzwergen.
Beispiel Gesundheitspolitik
Auch in der Gesundheitspolitik unter SPD-Minister Karl Lauterbach vollzieht sich ein Rollback. Seit 2004 unter der damaligen Ägide der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt rechnen die Kliniken ihre Kosten auf der Basis sogenannter diagnosebezogener Fallpauschalen ab, welche das zuvor übliche System der Tagessätze ablöste. Das zentrale Argument für diese Fallpauschalen ist heute nicht weniger triftig als damals: Verhindert werden soll, dass die Krankenhäuser höhere Einnahmen dadurch generieren, dass sie Patienten ohne medizinische Notwendigkeit länger in ihren Betten behalten.
Inzwischen gelten Fallpauschalen als Inbegriff neoliberaler Gesundheitspolitik, Ausbund böser »Ökonomisierung«. Mit dem populistischen Argument, Geld dürfe keine Rolle spielen, wenn es um Leben und Tod gehe, lässt sich allemal viel Beifall heischen. In Wirklichkeit müsste es darum gehen, die beste Medizin wirtschaftlich so effizient wie möglich bereitzustellen. Andere Länder kriegen das besser hin als wir. Die »Fallpauschale« ist der falsche Gegner. Besser wäre es, Kliniken zu spezialisieren und regional zu konzentrieren. Aber das gilt – Sie ahnen es – natürlich ebenfalls als neoliberale Ökonomisierung.
Nehmen wir als letztes Beispiel die Wohnungspolitik. Auch hier hat sich inzwischen – wiederum besonders militant betrieben von der SPD – die Überzeugung breit gemacht, Markt und Preise hätten nichts verloren, wenn es um das Grundbedürfnis und -recht des Wohnens gehe. Von dem vergleichsweisen milden Eingriff in einer Mietpreisbremse bis zur Enteignung von »Immobilienhaien« ist kein allzu weiter Weg, wie das Beispiel Berlin zeigt. Neue und bezahlbare Wohnungen entstehen dadurch nicht, der Respekt vor dem Privateigentum, Grundpfeiler einer sozialen Marktwirtschaft, verdampft.
Jede einzelne Kritik könnte man unter der Rubrik »Kirche im Dorf lassen« abtun. Es kommt mir auf die Zusammenschau an: Schindluder mit den Preisen, auch wenn die Eingriffe als fiskalpolitische Inflationsbekämpfung verbrämt werden (Energiepauschale, Gas-, Strom- Mietpreisbremse), Abkehr von einer regelgebundenen Sozial-, Gesundheits- und Wohnungspolitik und eine sich breit machende Überzeugung, Geld sei genügend da – nennen wir es verklärend »Sondervermögen« -: für all den ganzem Unfug wird am Ende eine Rechnung fällig. In Form von Staatsschulden, die irgendwann zurückgezahlt werden müssen. Und in Form eines erodierenden Vertrauens in die gerechten und solidarischen Regeln einer Gesellschaft. Womöglich ist letzteres am gefährlichsten.
Wenn Regierungsmitglied Lindner jetzt einen Politikwechsel für mehr Wachstum fordert (F.A.Z. vom 28. Dezember), so sind das nichts anderes als leere Worte. Mit seinen Taten hat der Finanzminister bislang genau jene verheerende Verteilungspolitik unterstützt, deren Ende er jetzt herbeizuführen behauptet.
Rainer Hank