Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen01. Dezember 2020
Alternative für DeutschlandKann man die Grünen heute (noch) wählen?
Es sieht ganz danach aus, als ob es im Herbst 2021 zu einer schwarz-grünen Mehrheit in Deutschland kommen würde. Gewiss, bis zur Wahl im nächsten September fließt noch viel Wasser die Spree und den Neckar hinab. Doch so langsam muss man sich als Bürger ein Urteil bilden. Wer im nächsten Jahr die Konservativen anführen wird, wissen wir nicht. Das Spitzenpersonal der Grünen ist bekannt. Seit dem vergangenen Wochenende gibt es auch ein neues Grundsatzprogramm. Da sind beste Voraussetzungen zu prüfen, was von einer grünen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu erhoffen oder zu befürchten ist. Und ob man die Partei am Ende selbst wählen könnte oder gar sollte.
Politische Grundsatzprogramme haben einen schlechten Ruf. Papier ist geduldig, heißt es. Das mag sein. Aber Grundsatzprogramme spiegeln auch den Geist einer Zeit, lassen erkennen, aus welcher normativen Grundgestimmtheit heraus die Akteure politisch handeln. Grundsatzprogramme seien »unsere verschriftlichten grünen Wurzeln«, meint Michael Kellner, der politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, in einem hübsch verunglückten Bild.
Drei Programme haben die Grünen in ihrer vierzigjährigen Parteigeschichte geschrieben (hinzu kommt ein Vereinigungstext mit Bündnis90 aus dem Jahr 1993). Das erste Programm von 1980, kurze 47 Seiten lang, beginnt mit einem Paukenschlag: »Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien« lautet der erste Satz, mit dem man sich als eine Art damaliger AfD präsentierte, die nicht nur die drei »Altparteien« herausfordern wollte, sondern auch als radikale Alternative zum Parlamentarismus sich verstand, dessen Repräsentationsprinzip durch eine von der Basis organisierte Direktdemokratie ersetzt werden sollte.
Das radikal-liberale Manifest von 2002
Von 1980 war es ein weiter Weg zum nächsten Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2002. Dieser Text, verfasst mitten in den rot-grünen Aufbruchsjahren, ist, heute gelesen, große Klasse und unbedingt zur Lektüre empfohlen, mit 181 Seiten allerdings etwas zu episch: ein radikal-liberales Manifest, das sich affirmativ zu (Direkt)-Demokratie und Marktwirtschaft bekennt. »Wir wollen die Einzelnen stärken und die Gesellschaft, in der sie ihre Freiheit und Verantwortung verwirklichen«, heißt es gleich zu Beginn, ein Satz, der jegliche Trivialität verliert, wenn man sieht, woher die Grünen kommen. Der Text lobt Globalisierung (mit Einschränkungen), Subsidiarität (statt Zentralstaat) und plädiert für sparsamen Ressourcenverbrauch kombiniert mit technischer Innovation und einer marktwirtschaftlichen Effizienzrevolution, um die ökologischen Herausforderungen zu meistern. Klimasorge und Fortschrittsglaube ergänzen sich, Wachstum und Bruttosozialprodukt werden nicht verteufelt. Im Gegenteil: Es findet sich sogar ein Kapitel mit der Überschrift »Marktwirtschaft und Ordnungspolitik«, das die FDP heute Eins zu Eins übernehmen könnte, wenn sie den Grünen nicht gleich das ganze damalige Programm abkaufen will. Selbst die Idee einer »sozialen Grundsicherung« könnten die Liberalen teilen, weil diese nicht »bedingungslos« an alle gezahlt werden sollte, sondern abhängig von Bedürftigkeit, die individuell geprüft wird.
Dieses Programm von 2002 ist quasi der Agenda-Text der Grünen. Anders als bei der SPD führte er nicht zur Abspaltung der Links-Fundis. Es spielgelt sich darin der damalige Zeitgeist des dritten Weges zwischen Turbo-Kapitalismus und Sozialismus, eben das, was man in Deutschland »soziale Marktwirtschaft« nennt, ein Wirtschaftsverständnis, das der SPD-Finanzminister Karl Schiller in den späten sechziger Jahren auf die Formel »So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig« gebracht hatte. Die Grünen seien jetzt die »Partei des aufgeschlossenen Bürgertums«, kommentierte die den Grünen nahestehende taz damals. Die Kollegin Heike Göbel schrieb in der F.A.Z., die Grünen seien »wirtschaftspolitisch in der Mitte« angekommen.
Antikapitalismus und Umsonst-Kultur
Und heute? Heute segelt die Partei gewiss eng am biederen Zeitgeist, aber weit weg vom liberalen Geist. So viel Staat wie möglich und Markt nur dann, wenn unbedingt nötig, so ließe sich das Schiller-Zitat heute abwandeln. Fast wäre es so weit gekommen, dass die Basis den Begriff »Marktwirtschaft« gänzlich aus dem Programm getilgt hätte, ersetzt durch »Gemeinwohlwirtschaft« oder ähnliche Lyrismen. Das wirtschaftliche Wachstum hat es heute wieder ausgesprochen schwer, von einem neuen »Wohlstandmaß« jenseits des BIP schwadroniert der Text. Nicht wenige an der Parteibasis liebäugeln mit den populären Degrowth-Theorien, getreu der asketischen Anfangstradition der Partei. Wohneigentümer will man enteignen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank gilt als überholt. Keinen Verzicht soll es lediglich beim Grundeinkommen geben, das »bedingungslos« allen zur Verfügung steht. Auch hier begegnet einem der frühe grüne Illusionismus wieder. Während traditionelle Linke der Auffassung sind, Geld müsse erst erarbeitet werden, bevor es üppig umverteilt wird, regnet es die Euroscheine bei den Grünen direkt von oben herab. Für »Arbeiterkind« Cem Özdemir, der noch weiß, das Leistung und Bildung zusammengehören, blieb angesichts solcher Träume einer Umsonstkultur nur ein enttäuschter Stoßseufzer auf Twitter übrig.
Wie soll man das grüne Rollback deuten? Ich habe Ralf Fücks, einen altgedienten Fahrensmann der Öko-Partei, um seine Einschätzung gebeten. An der grünen Basis gebe es ein hohes Maß an Unverständnis, was Marktwirtschaft bedeute. Das spiegele einen generellen Trend: »Antikapitalismus is back«, vor allem unter Schülern und Studierenden infolge der Radikalisierung der Klimadebatte. Die schreiende ökonomische Unbildung an Schulen und Universitäten werde durch antikapitalistische Phrasen kompensiert, so Fücks: Das stehe in auffälligem Kontrast zu den Bemühungen der grünen Funktionselite, mit Unternehmensvorständen ins Gespräch zu kommen und Vertrauensbildung zu betreiben. Im »grünen Wirtschaftsforum« drängeln sich inzwischen die Dax-Vorstände.
Man muss am Ende nicht völlig pessimistisch werden. An der Spitze der Partei ist man offen für Ökonomen wie Jens Südekum, der dringend dazu rät, sich vom Wachstumsglauben nicht zu verabschieden und stattdessen auf die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch in einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zu setzen.
Taktisch und strategisch ist es für eine Partei sicher klug, sich so gut es geht an den Fridaysforfuture-Geist anzuschmiegen. Das Volk selbst will man indessen, anders als früher, lieber nicht abstimmen lassen. Hinzu kommt: Dem neuen grünen Staatspaternalismus wurde von den Merkel-geführten Koalitionen der letzten fünfzehn Jahre ein breiter Weg geebnet. Dass ausgerechnet die Grünen davon abweichen, wäre zu viel verlangt. Anders als früher stehen sich heute auch nicht mehr Fundis und Realos schroff gegenüber. Die Fronten haben sich verschoben: Machwillige Realo-Eliten mit einem charismatischen Führungspaar halten eine links-fundamentale Basis in Schach. Sie wissen, dass sie ihre Regierungschancen verschlechtern, wenn sie der Basis zu weit entgegenkommen.
Das ändert alles nichts an meinem Fazit: Die Grünen waren zwischendrin einmal eine liberale Partei. Heute sind sie das nicht mehr.
Rainer Hank