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  • 15. März 2023
    Alles toxisch, oder was?

    Wie schaffe ich nur mein Abi? Foto Nguyen Dinh Lich/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wer Gleichheit will, soll sich um die Männer kümmern

    Lange musste mein Geschlecht den Spott über die »alten, weißen Männer« aushalten, die in der Hierarchie der Unsympathen einen Spitzenplatz einnehmen. Jetzt dreht sich der Wind: Zwei Journalistinnen haben gerade ein Buch über »alte, weise Männer« auf den Markt gebracht, das sie großzügig als »Schlichtungsversuch« anbieten. »We love alte weise Männer«, umschmeicheln die Autorinnen uns Männer, was die Kollegin Lucia Schmidt vergangene Woche in der FAS als vergiftete Liebeserklärung diagnostizierte: Männer würden reduziert auf die Rolle eines Produkts in der Werbung gerade so, »als seien sie eine Nuss-Nougat-Creme«.

    Vielen Dank, kann ich da nur sagen. Was ist schlimmer, Spott oder Mitleid? Eindeutig Mitleid, finde ich, was wahrscheinlich auch wieder typisch männlich ist. Helden gieren nach Bewunderung, nicht nach Empathie. Man kann es uns schwer recht machen.

    In dieser Situation kommt mir das Buch eines amerikanischen Ökonomen gerade recht, dessen Forschungsthema »Chancengleichheit« ist. Richard V. Reeves heißt der Mann. Er arbeitet an der renommierten Brookings Institution in Washington, hat sich einen Namen gemacht mit einer Biografie über den liberalen Philosophen John Stuart Mill – und nimmt sich jetzt der Männer an – aus gegebenem Anlass: er ist Vater von drei Jungs. »Von Buben und von Männern. Warum der moderne Mann ins Stolpern geriet, warum das ein Problem ist und was man dagegen tun kann«, so der Titel des Buches, das mir ein in den USA lebender Freund zum Geburtstag geschenkt hat – was immer er sich dabei gedacht hat.

    Kein Blame-Game

    Die Problembeschreibung ist nicht neu, aber gleichwohl überraschend. Mit einer 50prozentigen Wahrscheinlichkeit schneiden Jungs in zentralen Schulfächern schlechter ab als Mädchen – nämlich in Mathe und in Lesen. Viel mehr Buben als Mädchen verlassen die Schule ohne Abschluss. Mütter machen sich längst mehr Sorgen um ihre Söhne als um die Töchter. An den Universitäten stellen Studentinnen die Mehrheit. In fast allen westlichen Ländern sind die durchschnittlichen Löhne der Männer heute niedriger als vor dreißig Jahren. Im selben Zeitraum sind die Arbeitseinkommen der Frauen explodiert. Die Chance, Karriere zu machen, ist in Zeiten von Quote und Parität aus rein rechnerischen Gründen für Frauen viel größer als für Männer gleicher Qualifikation, und zwar mindestens so lange, bis Quote oder Parität aufgefüllt sind. Schließlich und bedrückend: In vielen Ländern ist Suizid die häufigste Todesursache von Männern unter 45 Jahren.

    Normalerweise würde jetzt das Spiel der Schuldzuweisungen beginnen: Die Entgegnung auf den Einkommensschwund der Männer heißt bekanntlich »gender pay gap« oder auf Deutsch: immer noch verdienen Frauen bei gleicher Tätigkeit weniger als Männer (na gut sieben Prouzent). Rund um den Weltfrauentag musste man es diese Woche wieder auf allen Kanälen hören. Auf die heutigen Karrierenachteile der Männer angesprochen, erwidern die Frauen: So habt ihr es Jahrhundertelang mit uns gemacht. Jetzt seht ihr mal, wie es einem geht, wenn man benachteiligt ist. Die amerikanisch-israelische Journalistin Hanna Rosin hat schon vor zehn Jahren das »Ende der Männer« ausgerufen und unsere Zeit zum »Jahrhundert der Frauen« geadelt, in welchem weibliche Tugenden (Flexibilität, soziale Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit) stärker nachgefragt würden als Muskeln und Machismo.

    Richard R. Reeves, der Brookings-Forscher, kennt das alles, lässt sich freilich nicht auf das Spiel gegenseitiger Beschuldigungen ein. Nüchtern konstatiert er lediglich, dass man aus Gründen der Gerechtigkeit Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in beide Richtungen problematisieren sollte. Wer vom Gender-Pay-Gap redet, sollte die Einkommensverluste der Männer gegenüber früher nicht verschweigen und konstatieren, dass Männer häufiger arbeitslos werden als Frauen. Wenn Ungleichheit ein Gerechtigkeitsproblem ist (was man bestreiten kann), dann ist Ungleichheit immer ein Problem – nicht nur, wenn Frauen betroffen sind.

    Neue Konzepte der Männlichkeit gesucht

    Erst recht sollten wir nicht mit zweierlei Maß messen: Geht es um die Benachteiligung von Frauen, sind stets die gesellschaftlichen und historischen Umstände – sprich: das Patriarchat und der Kapitalismus – schuld. Geht es um die Benachteiligung von Männern, heißt es: selber schuld, stellt euch nicht so an. Wenig hilfreich ist der Vorwurf »toxischer Männlichkeit«: Das bedeutet nämlich nichts anderes, als das wir Männer ein Gift in uns haben, das dem Körper entzogen werden muss – am besten durch Detox-Kuren und Aggressionsabbau-Therapien. In religiösen Jahrhunderten hätte es dafür Exorzisten (Teufelsaustreiber) gebraucht. Dabei trifft der Vorwurf, wir Männer seien testosterongetrieben, nicht uns, sondern die Evolution oder den Schöpfergott, der sich bevölkerungspolitisch vermutlich was gedacht haben wird.

    Noch einmal: Das Blame-Game der Schuldzuweisungen bringt nichts. Es ist ja keine Frage: Während Frauen spätestens seit Simone de Beauvoirs »Deuxième Sexe«, erschienen 1949, erfolgreich für Freiheit und Emanzipation gekämpft haben, wofür sie, zumindest im statistischen Mittel, mit mehr Glück und Zufriedenheit belohnt wurden, haben Männer den Blick auf das eigene Geschlecht lange ignoriert und es verschlafen, sich um ein neues Rollenmodell zu kümmern.

    Es ist die Stärke des Buches von Reeves, dass er sich nicht den Schlachtruf der amerikanischen Konservativen zu eigen macht und die Traditionswerte (Familie, Religion, Nation) beschwört. Stattdessen plädiert er für neues Selbstbewusstsein und neue Rollenmodelle. Nicht alle Vorschläge überzeugen: Jungs ein Jahr länger auf die Schule zu schicken (weil unser Gehirn sich blöderweise später entwickelt) oder sie vorwiegend von männlichen Lehrern unterrichten zu lassen, klingt ein bisschen nach Sonderschule. Zielführender wäre es, die Buben gezielt mit typisch weiblichen Berufsfeldern im Dienstleistungsbereich (Gesundheit, Bildung, Administration) vertraut zu machen, quasi als
    Stipendiengegenprogramm zu all dem vielen Fördergeld, das mit den MINT-Initiativen für Mädchen (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) ausgegeben wurde. Nur ein Beispiel: Das Ende des »Verbrenners«, den die EU bekanntlich verbieten will, bedeutet eben auch den Abschied vom männlich-stolzen »Facharbeiter« in Fabrikhalle.

    »Ein Mann käme nie auf die Idee, ein Buch zu schreiben über die besondere Situation des Mannes«, heißt es bei Simone de Beauvoir. Das war, wie gesagt, 1949. Heute hat sich die Situation verändert: »Gesucht wird das Konzept einer neuen Männlichkeit in einer postfeministischen Welt«, schreibt Reeves. So unklar deren Konturen sind, es wäre allemal hilfreicher als das Gequatsche über alte weiße oder weise Männer.

    Rainer Hank