Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen08. Juli 2023
Ab nach LiechtensteinLiberaler Feudalismus: weltweit einmalig
In Honduras hat die Regierung schon vor geraumer Zeit einen Verfassungsartikel verabschiedet, der die Schaffung von Kleinstaaten nach eigenem Recht auf seinem Staatsgebiet zulässt. Für den Anfang dachte Honduras an ein Stück unbewohntes Land an der Karibikküste.
Der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Romer hat dazu einen genialen Vorschlag eingereicht. Eine Staatsgründung aus dem Nichts, deren Verfassung alle bislang bekannten Nachteile historisch existierender Staaten vermeiden würde. Die Idee geht ungefähr so: Eine Regierung kluger Leute (Romer dachte an gestandene Demokraten aus der Schweiz) schreibt die neue Stadt an Unternehmer und Privatpersonen aus. Um Bürger zu werden, müssen sie einen Eintrittspreis bezahlen. In dem Maße, in dem es attraktiv wird, in die Stadt zu ziehen, steigen auch die Pachtpreise, die die Regierung in die Lage versetzt, Sicherheit (Polizei, Gerichte) oder Bildung zu finanzieren. Für Privatunternehmen könnten zum Beispiel große Infrastrukturprojekte attraktiv werden: Zunächst war an einen See- und einen Flughafen gedacht. Wer in diese Projekte investiert, wird, geht die Rechnung auf, fünfzig Jahre lang Gebühren für die Entladung von Schiffen oder für Start- und Landegebühren der Flugzeuge kassieren können. So ähnlich hatte man es auch beim Suezkanal oder bei der Gründung von Hongkong gemacht.
Der neue Stadtstaat sollte schlank sein: Polizei, eine Basis-Gesundheitsversorgung und die Bereitstellung von Schulen und Universitäten kann er, wenn er will, an private Betreiber vergeben. Auch die Wasser- und Energieversorgung kann der Staat privaten Firmen übertragen, die dafür Geld einnehmen. Der Staat garantiert Gleichheit für alle – vor dem Gesetz (also keine Gleichstellung). Rechtsstaatlichkeit hat Vorrang, die Frage der Demokratie ist zweitrangig. Damit hat sich Romer viele Feinde gemacht. Zur Freiheit in einer Stadt müsse nicht notwendigerweise Demokratie gehören, kontert er. Eine effiziente Verwaltung und gute Regeln reichen aus. Gerade bei einer Neugründung sei in einer Demokratie die Gefahr groß, dass sich einflussreiche Lobby- und Politikergruppen gegenseitig behinderten. Mittel- bis langfristig solle sich der Stadtstaat jedoch als eine Demokratie konstituieren.
Diese so genannte »Charter City« ist ein experimenteller Staat, der zugleich Ähnlichkeit mit einem Unternehmen, einem Startup, aufweist. »Wir befinden uns in einer Übergangsphase«, sagt Paul Romer: »Die überschuldeten westlichen Staaten werden nicht umhinkönnen, ihre Rolle zu überdenken. Sie sind überdimensioniert, kosten zu viel und arbeiten nicht besonders gut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Leute dieses Missverhältnis nicht mehr hinnehmen.«
Bis aus dem Stadtstaat in Honduras etwas wird, kann es noch dauern. Also alles nur Flausen libertärer Utopisten? Falsch. Zum Beweis empfehle ich einen Blick auf das kleine Fürstentum Liechtenstein, ein Bergrücken samt schmaler Rheinebene auf 161 Quadratkilometern, eingerahmt zwischen dem österreichischen Vorarlberg und der Schweiz. Das entspricht etwa der Fläche der Insel Sylt oder dem Stadtgebiet Brooklyns. Liechtenstein ist sozusagen eine Art Karibikinsel der Alpen mit 38 000 Einwohnern. Ich gestehe, dass mir das erst jetzt während der Vorbereitung einer Wanderung durch das Land klar wurde. Einen Einführungskurs gab mir Michael Wohlgemuth, Forschungsbeauftragter der Stiftung für Staatsrecht und Ordnungspolitik in Liechtenstein.
Im Jahr 1699 erwarb Hans Adam von Liechtenstein, ein Vorfahre der heutigen Regenten, das Land von den Fürsten von Hohenems, die, weil pleite, zum Verkauf genötigt waren. Seit 300 Jahren ist das Fürstentum ein souveräner Staat, ihre Eigentümer leben erst seit dem frühen 20. Jahrhundert selbst dort. Der heutige Chef des Hauses heißt Fürst Hans-Adam II, der amtsführende Staatschef (»der CEO«) ist sein Sohn Erbprinz Alois von Liechtenstein. Die Erbfolge sieht ausschließend männliche Regenten vor.
Gemäß seiner Verfassung ist Liechtenstein eine »konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage«. Nicht alle Staatsleistungen muss man selbst vorhalten. Beim Geld hat man sich dem Schweizer Franken angeschlossen. Das Militär wurde aus Mangel an kriegerischen Auseinandersetzungen schon im 19. Jahrhundert abgeschafft. Die Verfassung sieht vor, dass die Bürger die Erbmonarchie mit Mehrheit abschaffen können. Im Jahr 2003 machte man den Test: Die meisten stimmten für die Beibehaltung der Monarchie. Der Fürst hat bei Gesetzen ein Veto-Recht und untersteht nicht der Gerichtsbarkeit. Andererseits haben auch die Bürger qua Direktdemokratie ein Veto-Recht. Zum Schwur kam es noch nie; man regelt so etwas konsensual im Vorfeld. Liechtenstein sei in mancherlei Hinsicht »mehr Demokratie« als manche Republiken, sagen die Liechtensteiner stolz.Liechtensteins »demokratischer Feudalismus« ist weltweit einzigartig. Die Bürger verstehen sich als »Shareholder«, als Aktionäre ihres Staates. Die Monarchie gleicht einem Wirtschaftsunternehmen, das die Aufgabe hat, den Nutzen seiner Bürger zu mehren. Lange war das Geschäftsmodell simpel: Ein Steuerparadies für die Reichen dieser Welt. Angesichts internationalen Drucks ist das inzwischen schwieriger geworden. Heute hat die Industrie mit 37 Prozent Anteil am Bruttosozialprodukt den Finanzsektor (25 Prozent) überflügelt. Die Staatsfinanzen sind gesund: Weil das Land keine Schulden hat, sondern in Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen jeweils Rücklagen in Höhe des dreifachen der Jahresausgaben, braucht es auch keine Schuldenbremse.
Für Quinn Slobodian, einen amerikanischen Ideenhistoriker, der sich seit Jahren am Liberalismus abarbeitet, ist Liechtenstein Inbegriff dessen, was er »Crack-up Kapitalismus« nennt: eine Verschwörung der Feinde demokratischer Staaten, die mit Stadtstaaten und Sonderwirtschaftszonen die Demokratie aushebeln, damit die Reichen keine Steuern mehr zahlen und ungestört ihrem Luxus frönen können. Damit, so Slobodian, wollen die Libertären »Löcher schlagen« in das System der Nationalstaaten.
So schießt man mit Kanonen auf Spatzen. Für mich sieht es derzeit nicht danach aus, als würde demnächst Liechtenstein (nehmen wir noch Singapur oder Dubai dazu) die USA oder die EU in die Knie zwingen. Eher ist das Fürstentum ein Erinnerungsposten dafür, dass die repräsentative Demokratie bundesrepublikanischen Musters kein alleinseligmachendes Monopol zur Wahrung der Freiheit seiner Bürger hat. Reiner Eichenberger, ein Schweizer Professor für Finanzwissenschaft, hat kürzlich allen Ernstes vorgeschlagen, die Krim in einen unabhängigen Kleinstaat umzuwandeln – Liechtenstein am Schwarzen Meer, sozusagen.
Rainer Hank