Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 21. Februar 2024
    Die Hamas-Millionäre

    Tunnelsystem in Gaza, finanziert mit dem Hammas-Staatsfonds Foto zdf

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es wäre besser, Hochhäuser statt Tunnel zu bauen

    Jüngst gab es wieder eine dieser Diskussionen im Freundeskreis über die Frage, ob die Reaktion Israels auf das Massaker vom 7. Oktober »verhältnismäßig« sei. Wobei alle Anwesenden das Gefühl teilten, dass es sich im Frankfurter Nordend einigermaßen komfortabel debattieren lässt über die Verhältnismäßigkeitskriterien in einem Krieg.
    Ein Argument in der Debatte klang eher pragmatisch-utilitaristisch und weniger humanitär-moralisch. Ein derart massiver Schlag Israels, der Zehntausenden Menschen in Gaza das Leben koste, stärke langfristig die Hamas, die dies als Legitimation künftiger Terrorangriffe gegen Israel benutzen werden. Mäßigung wäre insofern nicht nur ein Gebot des Kriegs- und Völkerrechts, sondern auch der Klugheit.

    Das Argument der Mäßigungsklugheit unterstellt eine Art historischer Zwangsläufigkeit. So als ob der Hamas gar keine andere Wahl bleibe, als abermals mit einem »Rachefeldzug« zu reagieren. Das Argument unterschlägt, dass historische Prozesse nicht alternativlos sind und so tut, als gäbe es einen Determinismus. Im Nachhinein mag das so aussehen, weil es in der Geschichte fürs Kontrafaktische keine Kontrollgruppen gibt.

    Machen wir es konkret. Die Hamas ist eine reiche Organisation. Sie braucht viel Geld zur Finanzierung ihres Terrorsystems. Woher kommt das Geld? Der Eindruck, es handele sich vor allem um milde Gaben aus Katar, dieser Eindruck ist falsch oder zumindest grob unvollständig. Die Hamas hat selbst seit Jahren ein riesiges und weit verzweigtes Finanzimperium aufgebaut. Und zwar völlig legal. Anders als man es bei Terroristen vermuten könnte, spielen illegale Geschäfte wie Geldwäsche oder Drogenhandel keine oder eher marginale Rollen. Das ist wenig bekannt. Eine große Geschichte in der New York Times vom Ende Dezember hat mir die Augen geöffnet. Danach ist die Hamas im Besitz einer Art von Staatsfonds, der Hunderte Millionen Dollar weltweit profitabel und ganz legal anlegt. Auf ähnliche Weise finanzieren sich auch die Golfstaaten, Singapur oder Norwegen. Die Firmen der Hamas kontrollieren Bergwerke, Geflügelfarmen und Straßenbaufirmen in Sudan. Sie finanzieren Bürohochhäuser in den Vereinigten Emiraten, engagieren sich bei Projektentwicklern in Algerien und verfügen über nennenswerte Aktienpakete eines börsennotierten Immobilienkonzerns in der Türkei.

    Profitable Invevstments einer Terroristentruppe

    Noch einmal: das sind alles legale und offenbar auch sehr profitable Investments einer mörderischen Terroristentruppe. Die Existenz dieses Finanzimperiums soll auch schon seit 2018 bekannt sein, schreibt die New York Times – nicht nur dem israelischen Geheimdienst, sondern auch den entsprechenden Diensten der USA. Aber anders als etwa gegen Iran oder Russland gab es keinen Boykott oder wenn doch, dann wurde er weniger als halbherzig verfolgt. Es ist in der Tat leichter, Gas- oder Ölexporte eines Landes zu boykottieren im Vergleich zu Dividendenerträgen oder Kursgewinnen aus der Beteiligung an einem börsennotierten Konglomerat.

    Und die Erträge aus diesen Finanzaktivitäten sind mehr als Peanuts. Fachleute schätzen, dass die Hamas jährlich zehn bis fünfzehn Millionen Dollar an den Weltfinanzmärkten erwirtschaften. Geraume Zeit vor dem Massaker haben sie durch den Verkauf von Unternehmensbeteiligungen 75 Millionen Dollar erlöst. Mit diesem Geld waren sie in der Lage, militärisch aufzurüsten, das verzweigte und sehr ambitionierte Tunnelsystem weiter auszubauen: Geschätzt handelt es sich um 500 Kilometer unterirdischer Gänge in bis zu 20 Metern Tiefe, betongesichert und gut belüftet. Ein Kilometer Tunnel, das sagen Schätzungen, kostet mindestens 500.000 Dollar. Und vor allem versetzt ihr »Staatsfonds« – oder soll man lieber sagen »Terrorfonds« – sie in die Lage, nach dem Krieg die zerstörten militärischen Anlagen wieder aufzubauen und an ihrem Ziel, der vollkommenen Auslöschung Israels, weiterzuarbeiten.

    Wäre es so, liefe das Argument ins Leere, Israel provoziere durch den Krieg einen Rachefeldzug der Hamas. Die Schatzmeister der Terrororganisation haben längst schon die langfristige Finanzierung ihres Staatskonzerns zur Vernichtung der Juden gesichert. Um die Finanzierung eines Minimal-Sozialstaats (Schulen, Krankenhäuser) für die arme Bevölkerung in Gaza brauchen sie sich nicht zu kümmern. Diese Aufgaben wurden perfide an die UN delegiert – das Flüchtlingshilfswerk UNRWA; Deutschland trugt allein 2023 daran einen Anteil von 200 Millionen Euro. Die Hamas kann sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, den Terror.

    Halten wir fest: Die Hamas hat offenkundig kein Interesse, mit den Erträgen ihrer Beteiligungen den Wohlstand des Landes und seiner Bevölkerung zu mehren. Es verwendet das Geld stattdessen zur Destruktion (verbunden mit den paradiesischen Versprechungen künftiger Belohnung der »Märtyrer«). Die Menschen in Gaza sind, so gesehen, in erster Linie Opfer der Hamas, nicht Opfer einer Unterdrückung oder gar Kolonisierung durch den Zionismus und den postkolonialen Imperialismus des Westens. Und das UNRWA hält den Menschen in Gaza die Illusion einer Rückkehr nach »Palästina« aufrecht.

    Dubai hat die friedliche Alternative gewählt

    Das führt zurück zu unserer Debatte im Frankfurter Nordend. Dass die Hamas jetzt schon im Besitz finanzieller Ressourcen für den militärischen Wiederaufbau ihres Landes und den Kauf weiterer Waffen ist, sieht eben nur auf den ersten Blick aus wie eine Bestätigung der These von einer Spirale von Gewalt und Vergeltung. Kein historisches Gesetz nötigt die Hamas zu dieser Logik. Dafür ist ein Blick nach Dubai hilfreich. Dort ist es in nur wenigen Jahrzehnten gelungen, aus einem armen Wüstenstaat ein reiches Land zu machen. Das Rezept dafür ist nicht besonders originell. Man kennt es auch aus Singapur oder Hongkong. Es entstammt dem Lehrbuch der liberalen Ökonomie: Offene Handelsgrenzen, Marktwirtschaft, ein mehr oder weniger stabiles Rechtssystem und eine Diversifizierung der Wirtschaftstätigkeit als Vehikel zur Reduzierung der Abhängigkeit vom Öl. Dubai hatte keine besseren wirtschaftlichen Bedingungen als Gaza, womöglich sogar schlechtere – denn Gaza hat einen Zugang zum Mittelmeer. Die Zahlen sprechen für sich. Das Prokopfeinkommen in Dubai liegt bei 45.000 Dollar, das palästinensische Einkommen beträgt nicht einmal 4.000 Dollar pro Kopf.

    Hamas hat sich entschieden, nicht dem Vorbild Dubais zu folgen. Lieber wiederholen sie den Weg des Vietkongs im Jahr 1968, wie der Publizist Thomas L. Friedman kürzlich bemerkt hat: Ein auf 200 Kilometern verzweigtes Tunnelsystem diente im Vietnamkrieg als militärische Basis eines mörderischen Krieges. Tunnel statt Hochhäuser? Terror statt Wohlstand? Es ist eine Frage der Wahl, nicht des Schicksals.

    Rainer Hank

  • 21. Februar 2024
    Eure Tage sind gezählt!

    Sind die apokalyptischen Reiter längst unterwegs? Foto National Geographic

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Apokalypse gut ankommt, aber nichts hilft

    Was sollen wir tun, um den Klimawandel zu bremsen? »Fridays for Future«, »Extinction Rebellion« und die »Last Generation« malen den Weltuntergang an die Wand. Wenn die Menschen nicht schleunigst ihr klimaschädliches Verhalten beenden, so die Botschaft, dann ist der Planet verloren – den es bekanntlich nur einmal gibt. Dass die Warnungen vorwiegend von einer jungen Generation kommen, verschafft ihnen Glaubwürdigkeit und den Älteren ein schlechtes Gewissen: Wer nach dem Motto »Nach mir die Sintflut« lebt, ist moralisch ein Schwein.

    Die Propheten des Weltuntergangs bedienen sich der Bilderwelt der Apokalypse. Fühlen sich Gesellschaften existentiell bedroht, greifen sie bei der Deutung der Bedrohung immer schon auf Schreckensbilder zurück: Das Ende ist nahe. Wer den Untergang abwenden möchte, muss sofort handeln. Um die Menschen in ihrer Selbstzufriedenheit aufzurütteln, muss Panik geschürt werden. »I want you to panic«, so lautet der berühmt gewordene Schocker der Aktivistin Greta Thunberg. Seit alters her gehört die Übertreibung zur apokalyptischen Rhetorik. Denn nur so werde es zu Verhaltensänderungen kommen, glauben die Apokalyptiker. Zum Beweis, dass das Ende nahe ist, gibt es Zeichen. »Mene, mene tekel«, schreibt die Flammenschrift an die Wand in Babylons Königspalast. Der Prophet Daniel deutet darin das Schicksal des neuen Königs Belsazar: »Deine Tage sind gezählt.« Vom frühen Christentum bis in die Neuzeit war die Androhung des Weltuntergangs ambivalent. Wer gottwohlgefällig lebt, dem steht der Himmel offen, wo sich eine bessere Welt auftut als im irdischen Jammertal. Die Sünder hingegen landen im Inferno. In unsren säkularen Tagen ist die Hoffnung auf das Jenseits geschwunden. Hinter der »Last Generation« lauert das Nichts.

    Das »Team Apokalypse« hat viele Mitglieder. Jetzt hat eine junge britische Wissenschaftlerin ihren Austritt aus dem Untergangsclub öffentlich gemacht. Nennen wir ihre Alternative »Team Fortschrittsoptimismus«. »Not the end of the world«, heißt ihr kürzlich erschienenes Buch mit dem Untertitel: »Wie wir die erste Generation werden können, die einen nachhaltigen Planeten geschaffen hat«. Hannah Ritchie, die Autorin, hat hohe Glaubwürdigkeit: Die Schottin ist gerade einmal 31 Jahre alt und hat Umweltwissenschaften an der Universität Edinburgh studiert. Ihren akademischen Weg, wie gesagt, hat sie im »Team Apokalypse« begonnen. »Damals nahm ich einfach an, dass die Welt immer schlimmer werde.«

    Doch dann löste sie sich von den Apokalyptikern. Ihre Konversion geht auf zwei ältere Männer zurück. Der eine, Hans Rosling, ein schwedischer Statistiker, überzeugte die Umweltwissenschaftlerin mit soliden Fakten davon, dass viele unserer Vorstellungen falsch sind. Vieles auf der Welt ist nicht schlechter, sondern besser geworden. Roslings Buch »Factfullness«, Summe eines langen Forscherlebens, gibt es auch auf Deutsch, ein Longseller auf dem Büchermarkt. Der andere Mann ist Max Roser, der in Oxford die Plattform »Our world in Data« gegründet hat. Dort zeigt er mit vielen Kurven, wie sehr sich die Welt seit dem frühen 19. Jahrhundert verbessert hat, ausgelöst durch technischen Fortschritt und viel Kapitalismus. Hannah Ritchie arbeitet heute als »Head of Research« in Rosers Faktenfabrik.

    Dauernde Übertreibung stumpft ab

    Ritchie bezweifelt, dass die Apokalyptiker die Menschheit zu einem Sinneswandel bewegen könnten. Im Gegenteil: Sie richten mehr Unheil an als sie Gutes tun. Denn die Übertreibung wird von den Menschen durchschaut. Irgendein Weltuntergang ist immer; Apokalypse stumpft ab. Ihre Prophezeiungen sind noch selten eingetreten. Tatsächlich haben Apokalyptiker seit jeher das Problem zu erklären, warum die Welt doch nicht untergeht. Das delegitimiert ihre Experten und gibt den Verdrängern, in unserem Fall den Klimaleugnern, Auftrieb. Mit »Degrowth«- und »Depopulations,-Strategien«, also dem Aufruf, keine Kinder in die Welt zu setzen und das Wirtschaftswachstum zu drosseln, ist niemand geholfen und vielen geschadet, vor allem den Armen.

    Hannah Richie ist keine Klimaleugnerin. Sie plädiert auch nicht für blinden Optimismus, hält es freilich für zielführender, die bereits erreichten Erfolge der Transformation zu betonen. Vieles davon ist nicht Common Sense. Zum Beispiel die überraschende Tatsache, dass im Jahr 2012 die Energie in Großbritannien zu 40 Prozent von der Kohle abhing; fünf Jahre später waren es nur noch sieben Prozent. Weltweit ist es gelungen, Wachstum und CO2–Ausstoß voneinander zu entkoppeln. Moralisierung hilft nicht weiter, findet Richie. Verzicht predigen auch nicht. Zur Rettung des Klimas müssen wir keinen Verzicht üben. Stattdessen dürfen wir auf den technischen Fortschritt setzen: die Ingenieure werden am Ende schneller sein als die steigenden Temperaturen. Besser als das apokalyptische Menetekel funktioniert der Preismechanismus, der dem Emissionshandel zugrunde liegt. Sobald E-Autos billiger werden als Verbrenner, sie noch dazu – siehe Tesla – als »cool« gelten und allmählich eine Ladeinfrastruktur sich bildet, kann man den Fortschritt sehen. »Ich bin zurückhaltend darin, den Menschen zu predigen, was sie tun sollen«, sagt Richie.

    Die junge Wissenschaftlerin ist auf Gegenwind eingestellt. Besonders provokant ist ihre Behauptung, sich mit regionalen Produkten zu ernähren, bringe nichts für das Klima. Wer in Schottland eine heimische Lammkeule verzehrt, hinterlasse einen schlimmeren CO2–Fußabdruck, als wenn er sich mit Avocados aus Mittel- und Südamerika ernährt. Denn der Transport von Lebensmitteln in Schiffscontainern trägt lediglich 0,2 Prozent zu den globalen CO2–Emissionen bei. Im Übrigen wurde der Abholzungsprozess der Regenwälder in gestoppt, weil die Landwirtschaft ihre Flächen viel effizienter nutzt – nicht zuletzt dank des bei den Umweltaktivisten besonders verhassten Palmöls: eine super-effiziente Frucht. Nicht »Kauft heimische Produkte!« müsste der Klimaimperativ heißen. Sondern: »Kauft von dort, wo die Bedingungen optimal sind«: tropische Früchte aus tropischen Ländern und Fleisch aus Gegenden, wo das Weideland optimal genutzt wird. Effektiven Umwelt- und Klimaschutz nennt Ritchie dies.

    Schlimmer noch als der Wind von den Gegnern ist das eigene schlechte Gewissen, mit welchem man im »Team Fortschritt« rechnen muss: Auf den technischen Fortschritt, den Preismechanismus und die globale Koordination der Staaten in einem Klimaclub zu vertrauen, werden die Apokalyptiker als Ablenkungsmanöver und Selbstbetrug von Leuten denunzieren, die am liebsten gar nichts ändern wollen. Während die Untergangspropheten sogar den Verzicht auf den Verzehr eines Hühnereis als klimafreundliche Großtat preisen. Die Fortschrittsoptimisten haben die bessere Theorie, die Apokalyptiker haben das bessere Gewissen.

    Rainer Hank

  • 19. Februar 2024
    Ode an den Trecker

    Früh übt, wer mal später demonstrieren will Foto: John Deere

    Dieser Artikel in der FAZ

    Da staunt das Pferd, und der Bauer wundert sich

    Die Kinder meiner Schwägerin, zwei Buben, kannten über Jahrzehnte nichts Schöneres als Ferien im Hunsrück. Dort sagen sich zwar Fuchs und Hase gute Nacht und die Bevölkerung denkt an Auswanderung – Edgar Reitz »Heimat« lässt grüßen. Die beiden Buben indes fieberten den Ferien entgegen, weil der Vater auf dem großen Grundstück zwei Oldtimer-Traktoren angeschafft hatte: auf diesen Riesenheuschrecken zu fahren war für sie das Höchste der Gefühle. Kein Porsche hätte da mithalten können.

    Mir fielen die beiden Buben ein, als ich vergangene Woche eine Weile der Traktoren-Prozession zusah, die sich von der Frankfurter Adickesallee in Richtung Messe bewegte und scheinbar nicht enden wollte. Jämmerlich dagegen das Gehupe der Autos, SUVs, die sich wie Winzlinge ausnahmen gegenüber den grünen Hightech-Treckern mit den Godzilla-Reifen, auf denen stolz ihre Besitzer demonstrierten: »Mammuts von heute« mit 200 PS und schalldichter Kabine, wie der Historiker Ulrich Raulff die Riesendinger einmal nannte. Man kann mit ihnen auf dem Acker und auf der Autobahn fahren. Der Kenner riecht die Marke von weitem: Claas, Fendt oder John Deere.

    »Den Schlepper selbständig zu fahren, ist für Jungen eine Selbstverständlichkeit, sobald ihre Körpergröße und Stärke das Niedertreten des Kupplungspedals ermöglicht.« So erzählte es der Historiker Ewald Frie vergangene Woche beim Neujahrsemfang des Frankfurter Literaturhauses. In seiner autobiographischen Erzählung »Ein Hof und elf Geschwister« über den stillen Abschied vom bäuerlichen Leben in der den sechziger und siebziger Jahren fügt Frie hinzu: »Auf unserem Hof wurden Holzklötze und Latten zurechtgesägt, damit auch noch Jüngere Bremse und Kupplung bedienen konnten.« So habe der Traktor auch die Produktivität der Kinder gesteigert.

    Der Blick auf den Trecker ist ein schöner Nebeneffekt des aktuellen Bauernprotests. Jenseits seiner stakelig-spröden Ästhetik muss unbedingt auch an seine geschichtsphilosophische und wirtschaftshistorische Bedeutung erinnert werden. Als der deutsche Intellektuelle Arthur Koestler, ein Journalist, im Jahr 1932 in die KPD eintritt, teilt er als allererstes der Partei seinen Wunsch mit, als Traktorist in der Sowjetunion in Einsatz zu kommen. Es war die Zeit der Zwangskollektivierung, Stalins Regime brauchte dringend Arbeiter auf den Kolchosen, für die der Name »Traktorist« erfunden wurde, den es später auch im DDR-Deutsch gab. Der Traktorist war ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, den Kapitalismus mit sozialistischen Fünfjahrespläne abzulösen. Wie für die beiden Jungen meiner Verwandtschaft war »der Traktorist« für die Intellektuellen der dreißiger Jahre der Inbegriff der Verheißung einer revolutionären Heldenkarriere. Leider ging Koestlers Wunsch nicht in Erfüllung. Sein Verbindungsoffizier fand, nicht ganz zu Unrecht, es handele sich bei seinem Wunsch um ein »typisches Zeichen kleinbürgerlicher Romantik«. Koestler war schwer beleidigt.

    Von der personal- zur kapitalintensiven Landwirtschaft

    Über Jahrhunderte hatten die Menschen sich der Pferde als Arbeitsmaschine auf dem Feld bedient, ein »kentaurischer Pakt« (Raulff), bei dem Mensch und Tier ein Arbeitsbündnis eingegangen waren. Das änderte sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Traktor wurde zum Vehikel der »Entpferdung« der Welt. Zählte man um 1900 in Deutschland noch vier Millionen Pferde in der Landwirtschaft, waren es um 1950 nur noch halb so viele; 1970 blieben gerade einmal 250.000 Pferde übrig. Seither nimmt die Zahl der Pferde wieder zu – nicht auf den Bauern-, sondern auf den Reiterhöfen, wo es die Mädchen hinzieht. Merke: Pferde sind für Mädchen, Traktoren für Jungs.

    Diese vom Traktor betriebene Revolution kann man sich als Übergang von einer personal- zu einer kapitalintensiven Produktion nicht radikal genug vorstellen. Waren um 1900 noch mehr als ein Drittel aller Erwerbtätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, womit sie gerade einmal fünfzehn Prozent des Wachstums erzeugten, so ackern dort heute gerade einmal zwei Prozent der arbeitenden Bevölkerung (verantwortlich für knapp ein Prozent des BIP). Etwas überspitzt hat man formuliert, das 20. Jahrhundert sei weniger durch den Aufstiegs des Proletariats als durch das Verschwinden des Bauerntums gekennzeichnet. Der Traktor gab den Bauern Hoffnung und machte ihnen Angst zugleich. Frühe Zeugnisse aus England sahen in ihm ein gefährliches Tier, das paffend und schnaubend über die Felder zog. Statt einem oder zwei PS vor dem Pflug, konnte die Stärke der Maschine rasch auf 15 bis 20 PS gesteigert werden. Mit dem Traktor ernährte eine gegebene Fläche eines Ackers viel mehr Menschen als früher. Auch umweltmäßig war das Fahrzeug ein Fortschritt: Kot und Urin der Rosse in den Dörfern waren schuld an den lausigen sanitären Bedingungen des ländlichen Raums. Der dieselbetriebene Traktor galt lange Zeit als umwelt- und menschenfreundliche Alternative: kann man sich heute nicht mehr vorstellen.

    Gleichwohl ist es eines der bis heute letztlich nicht gelösten Geheimnisse der Wirtschaftsgeschichte, warum es bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte, bis der Traktor sich flächendeckend in der Landwirtschaft durchgesetzt hatte. Das hing weniger mit Maschinenstürmerei und Technikaversion des traditionellen Bauerntums zusammen, als mit den gigantischen Umstellungsprozessen, die die Traktorisierung nach sich zog und die ihre Zeit brauchten. Das Personal musste geschult werden; ein Knecht, der vorher den Pflug führte und mit Pferden zurechtkam, konnte nicht einfach zum Traktoristen umgeschult werden. Zudem waren die Trecker zu Anfang ziemlich unbeholfen, blieben im Schlamm stecken und taugten bis zur Erfindung der Zapfwelle (ein Wort, das ich bei der Recherche für diese Kolumne gelernt habe) außer zum Pflügen zu nicht viel mehr. Schließlich ging die Mechanisierung einher mit einer Vergrößerung der Farmen, ein Vorgang der ebenfalls Zeit und Kapital brauchte. Der Traktor war wurde das Vehikel zur Durchsetzung großflächiger industrieller Landwirtschaft.

    Und nun? Es könnte sein, dass der Traktor bald verschwindet. Daran ist dann nicht Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und die sogenannte Sparpolitik der Regierung schuld, sondern abermals der technische Fortschritt. Schon bald, sagen Fachleute, würde nur noch ein Bruchteil der bisher eingesetzten Zugmaschinen in der Landwirtschaft nötig sein. Das Gros der Feldarbeit könnten dann kleine selbstfahrende Roboter übernehmen, satellitengesteuert und batteriebetrieben. Dafür braucht es dann noch weniger Landarbeiter als im Traktorzeitalter. So gesehen könnten die stolzen Trecker-Umzüge, die wir derzeit sehen, auch eine Art Beerdigungsprozession sein, der lautstarke Abschied vom bäuerlichen Leben. Bloß dass die Bauern das noch nicht wissen.

    Rainer Hank

  • 18. Februar 2024
    Sind Frauen friedliebender?

    Bereits seit fast 50 Jahren gibt es Frauen in der Bundewehr Foto: Bundeswehr

    Dieser Artikel in der FAZ

    Womöglich tut sich da ein neues Gender Gap auf

    An vielen Orten dieser Welt herrscht Krieg. Wie kann diese Welt friedlich werden? Ein Leitartikel im »Spiegel« hat eine Antwort parat: Mehr Frauen an die Macht. Der Bundespräsident, der Papst oder der englische König, sie alle hätte das Jahr 2024 mit einer Friedensbotschaft eröffnet, so der Kommentar – und das Wichtigste vergessen: Lasst die Frauen ran! Denn »ohne Frauen kein Frieden« (Annalena Baerbock).

    Die These ist steil. Sie passt in den modischen Gender-Diskurs: Die Frauen sind das bessere Geschlecht, in jeder Hinsicht. Aber stimmt das auch? Mir fiel eine Geschichte ein, die ein Bekannter jüngst erzählt hat. Er ist Lehrer an einer Schule mit sehr vielen muslimischen Schülern. Der Lehrer ließ die Schüler pro und contra Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutieren und ob auch Frauen zum Militär sollten. Die Jungs waren strikt dagegen – »Mädchen sind emotional«, fanden sie, taugen also nicht für die Bundeswehr. Die jungen Frauen in der Klasse, zumeist mit Kopftuch, rebellierten. Von wegen emotional! Sie verlangten Gleichberechtigung, sahen keinen Grund, warum man ihnen eine Waffe verwehren sollte. Soll man daraus schließen, dass Frauen genauso militant sind wie Männer? Kann man. Man kann aber auch sagen, es sei ihnen vor allem um Gleichberechtigung gegangen, nicht um Bellizismus.

    Ein kurzer Blick in die Mythologie bringt ebenfalls keinen eindeutigen Befund. Ganz dem Klischee entsprechend verhält sich zum Beispiel Penelope, die Frau des Odysseus. Während der Held in den Trojanischen Krieg zieht, mannhaft ein Abenteuer nach dem anderen besteht und nach zwanzig Jahren siegreich zurückkehrt, hütet seine Frau brav, treuliebend und friedlich das Haus; allen Freiern zeigt sie die kalte Schulter. Wie es sich gehört: Frauen sind friedlich und fügen sich ihren Männern. Weshalb die kanadische Autorin Margaret Atwood vor Jahren schon den Versuch gemacht hat, die wahre Geschichte der Penelope zu erzählen: Sie berichtet von der gnadenlosen Konkurrenz mit der hübschen Cousine Helena und von der Zwangsverheiratung mit Odysseus, einem Mann, der den Ruf hat, ein Aufschneider zu sein. Am Ende bleibt Penelope zwar auch bei Atwood ein friedliebender Mensch, dafür wird aber Odysseus als militanter Hochstapler enttarnt. Wie auch immer: Penelope taugt nicht zum Beleg der These, wonach es ohne Frauen keinen Frieden in der Welt gibt.

    Wie war das nochmal bei Lady Macbeth?

    So geht es weiter. Statt zu Mäßigung tragen Frauen nicht selten zur Eskalation bei. Besonders erfolgreich in dieser bellizistischen Disziplin war Lady Macbeth. Jedenfalls wenn man sich an Shakespeare hält (klar, der männliche Blick!). Als Vertraute und Verschworene ihres Mannes stellt Shakespeare die Lady als blutrünstige, skrupellose Verführerin dar, eine wichtige Antriebsfigur für den Protagonisten, dessen Potential zum Bösen sie aktiviert und ihn anstachelt, den König zu ermorden, um selbst an die Macht zu kommen. Während Macbeth anfangs bei der Planung des Königsmordes eher zaghaft und schwach wirkt, kommt Lady Macbeth als dominierende, überlegene und härtere Gestalt auf die Bühne; einem scheinbar »weibischen« Mann steht eine scheinbar mannhafte Frau gegenüber. Die Frau als Kriegstreiberin?

    Als hart und kriegerisch, wir springen weiter in der Geschichte, lernen wir auch Margret Thatcher kennen, »die eiserne Lady«, britische Premierministerin von 1979 bis 1990. Den einzigen Krieg der Briten in der Nachkriegszeit hat sie gewonnen. Okay, es ging nicht um die Rückeroberung des Empires, sondern lediglich um die Falklandinseln, Argentinien vorgelagert im Atlantik. Aber für die Frage, ob Frauen pazifistischer sind als Männer, ist die Größenordnung des von ihnen geführten Krieges unerheblich. Gut, den deutschen Kriegsministerinnen Ursula von der Leyen und Christine Lambrecht hätte niemand unterstellt, sie könnten mit der Bundeswehr in einen Krieg um Helgoland ziehen. Aber das nun gerade war keine Tugend, sondern ihr Problem, wie man heute weiß.

    Nun aber empirisch. In den Sozialwissenschaften hält sich, kein Witz, seit geraumer Zeit die sogenannte »Woman and Peace Hypothesis« (WPH). Sie besagt, dass Frauen weniger militaristisch sind und deutlich friedliebender als Männer. Demnach sei es wahrscheinlicher, dass sie den Gebrauch militärischer Gewalt ablehnen und friedliche anstelle von kriegerischen Konfliktlösungen bevorzugen. Joan Baez lässt grüßen: We shall overcome! Endlich einmal ein Gender-Gap, das positiv ist, so jubeln die Feministinnen und mäkeln noch nicht einmal daran herum, dass es ein Produkt rollenkonformer Erziehung sein könnte, wenn Frauen sich in der Geschichte zu Friedenstauben entwickelt haben: empathisch, deeskalierend, mitleidend mit den potentiellen Opfern eines Krieges. Die Frauenfriedenshypothese hat sogar Eingang in eine UN-Resolution (Nr. 1325 vom Oktober 2000) gefunden: Da wird die »maßgebliche Rolle« der Frauen bei der Vermeidung und friedlichen Lösung von Konflikten quasi amtlich durch die Staatengemeinschaft festgestellt: Frauen seien friedensschaffend und friedenwahrend. Anders als die notorisch kriegstreibenden Männer.

    Die Woman and Peace Hypothesis

    WPH hat bloß einen Nachteil. Sie stimmt nicht. Die Hypothese wurde in den USA »erfunden«, einem Land, dass sich – grosso modo – seit dem Ende des Vietnamkriegs nicht mehr in einem großen Krieg befindet, der die gesamte Bevölkerung spaltet. In Israel dagegen, wo Konflikte und Krieg seit Staatsgründung zum Alltag gehören, ist das anders. Versuche, WPH dort zu verifizieren, scheitern. Eine neue Studie vom April 2023 – nicht die einzige – basiert auf detaillierten Umfrageergebnissen im langfristigen Monatsrhythmus. Es zeigt sich: in den dreißig Jahren, die auf die konfliktlösenden Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 folgen, gab es keinen nennenswerten Unterschied in den Einstellungen zu Frieden und einer Zweistaatenlösung zwischen israelischen Männern und Frauen. Die Haltung der Frauen ist nicht pazifistischer. Viel stärker als ein mutmaßliches Gender-Gap sind politisch-ideologische und religiöse Unterschiede der Menschen. Lediglich bei neuer Eskalation der Gewalt – etwa nach der zweiten Intifada 2000 – blieben Frauen gelassener, während die Zustimmung der israelischen Männer zu Oslo nachließ. Immerhin hier, so die Forscher, lassen sich Spuren größerer Resilienz bei Frauen vermuten.

    »Barbie, bitte übernehmen!«, so titelt der Frauenfriedenskommentar des »Spiegel«. Wenn nur die Kens dieser Welt alle sanft würden und Barbie machen ließen, wäre der Frieden da, soll das heißen. Dass der Feminismus einmal das Heil der Welt von einem Geschlechterklischees bedienenden pinken Püppchen erhofft, haben weder die Frauen noch die Männer verdient. Und den Krieger*innen dieser Welt ist das alles ohnehin schnuppe.

    Rainer Hank

  • 18. Februar 2024
    Lob des Konflikts

    Ralf Dahrendorf diskutiert 1968 in Freiburg mit Rudi Dutschke Foto: The European Liberal Foundation

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ralf Dahrendorf grüßt die Stuttgarter Dreikönige

    Die liberale Demokratie ist in Gefahr. Das hat sich herumgesprochen. Liberale Demokratien, grob skizziert, zeichnen sich aus durch ein Bekenntnis zur Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Sowie durch die Anerkennung von Meinungsfreiheit und den Schutz von Minderheiten. Und schließlich durch den Glauben, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft die besten und freiesten Arrangements sind, den Wohlstand der Menschen zu mehren, zumal dann, wenn darin das Bekenntnis zur grenzüberschreitenden Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen impliziert ist.

    Lange sind die Menschen mit diesen Überzeugungen gut gefahren. Inzwischen ändert sich das. An die Stelle der Anerkennung von wechselseitig akzeptierten Regeln tritt das Pochen auf die Gesetze der Macht, verbunden mit der Androhung von Krieg und Gewalt. Anstelle des Glaubens an den Wohlstand generierenden Freihandel tritt der Rückzug auf eine National-Ökonomie, die meint, sich selbst zu genügen und Autarkie beschwört. Dabei wird das Vertrauen in Risiko und Selbstverantwortung für Unternehmer wie Arbeitnehmer zunehmend ersetzt durch einen Wettlauf um Subventionen und Sozialleistungen. Schließlich wird auch der liberale Wettbewerb um das beste Argument ersetzt durch protektionistische Diskursregeln darüber, wer überhaupt berechtigt ist, sich zu äußern und wozu. Widerspruch gilt als unfein, es könnte sich ja jemand traumatisiert fühlen.

    Merkwürdig finde ich, wie eigentümlich defensiv liberale Denker auf diese Bedrohung ihrer Grundüberzeugungen reagieren. Anstatt offensiv die Gegner einer liberalen Demokratie zu attackieren, üben sie sich in schuldbewusster Selbstkritik. Prominent steht dafür Francis Fukuyama, von dem nach dem Fall des Kommunismus die These stammt, illiberale Systeme seien endgültig zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Dass es anders gekommen ist, lastet er weniger den Feinden des Liberalismus an, sondern vielmehr den Liberalen selbst: Die Rechtsliberalen hätten es mit dem Turbokapitalismus übertrieben und den Liberalismus zum Neoliberalismus verunstaltet, während die Linksliberalen sich in ein wokes Schneckenhaus verkrochen und dabei den liberalen Universalismus verraten hätten. So gesehen wären es nicht die Populisten, die den modischen Illiberalismus zu verantworten hätten, sondern die Liberalen selbst.

    »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«

    Aus Anlass des traditionellen Dreikönigstreffens der deutschen Freien Demokraten habe ich mich auf die Suche gemacht nach einer offensiven Verteidigung der liberalen Demokratie. Und bin fündig geworden bei Ralf Dahrendorf und seiner Schrift »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« aus dem Jahr 1965, also vor knapp sechzig Jahren erschienen. Dahrendorf war damals gerade 36 Jahre alt und galt als akademisches Wunderkind. Studiert hatte er Philosophie, klassische Philologie, später dann Soziologie in Deutschland und an der London School of Economics. Als »Gesellschaft und Demokratie« erschien, war er schon seit sieben Jahren Professor, zunächst in Hamburg, aktuell in Tübingen. 1966 wechselte er an die neugegründete Universität Konstanz, die man damals eine Reformuniversität nannte. Zugleich engagierte er sich als FDP-Mitglied im baden-württembergischen Landtag, wurde später Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Walter Scheel und EU-Kommissar in Brüssel. Leicht haben sich Dahrendorf und die FDP nie miteinander getan; Intellektuelle in der Politik sind notorische Störenfriede.

    Dahrendorfs biographischem Weg zwischen Wissenschaft und Politik spiegelt sich auch in der Anlage von »Gesellschaft und Demokratie«: Das Buch vereint historische Erklärung, soziologische Analyse und engagierte politische Theorie, aus heutiger Sicht eine Ausnahmeschrift, für den liberalen Lernprozess der Bundesrepublik deutlich wirkungsvoller als etwa die negative Hermetik der Frankfurter Schule. Das Buch erreichte ein ungewöhnlich großes Publikum und wurde rasche ein wissenschaftlicher Bestsellers.

    Doch was steht drin? Ich konzentriere mich auf drei für eine liberale Demokratie zentrale Begriffe: Gleichheit, Konflikt und Freiheit.
    Dass ein Liberaler mit dem Lob der Gleichheit beginnt, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn es geht ihm um gleiche Bürgerrechte für alle – nicht um gleichen sozialen Status oder egalisierende Umverteilung. Dialektisch formuliert Dahrendorf, man könnte den Sinn der Gleichheitsrechte geradezu darin sehen, dass sie Ungleichheit ermöglicht, sofern diese nicht an die Lebensgrundlagen des Einzelnen greift.

    Konflikt ist Freiheit

    Aktueller noch ist die Anerkennung des Konflikts als konstituierendes Prinzip einer liberalen Gesellschaft. Konflikte sind gerade keine Störfälle einer demokratischen Gesellschaft. Sondern umgekehrt wäre Harmonie Ausdruck einer gefährlichen Sehnsucht nach Konformität und Synthese, die Andersartiges und Sperriges nicht dulden will. Der Konflikt ist somit nicht nur produktiver Treiber im politischen Wettbewerb der Parteien und Motivator im wirtschaftlichen Wettbewerb der Unternehmen, sondern auch Legitimation einer wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen, vornehm Ambiguitätstoleranz genannt. Dass der Andere anderer Meinung ist, ist nicht Ärgernis, sondern Herausforderung. These und Antithese brauchen keine Synthese, auch wenn die Deutschen das gerne glauben. Konflikte in Regierungskoalitionen – abschätzig als »Streit« denunziert – wären dann dringende erforderlich; sie können verhindern, dass Regierungsgewalt missbraucht wird.

    Dahrendorfs Lob des Konflikts mündet schließlich in eine Theorie der Freiheit: »Konflikt ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewissheit angemessenen Ausdruck finden kann.« Nicht Wahrheitsstreben, sondern der liberal verstandene Wettbewerb der Meinungen bewirke Fortschritt und biete ebenso Schutz vor der »Dogmatisierung des Irrtums«.

    Dahrendorf – wie gesagt Soziologe, FDP-Mitglied und vor allem frech – bot seine Konflikttheorie an als Medizin gegen die »Entmündigung des Einzelnen« durch den Staat wie auch gegen die »verstaubte Liberalität« seiner Gegenwart. Wer ahnen möchte, wo Dahrendorf den Staub wahrgenommen haben könnte, der mag sich im Internet Archiv-Berichte über das Dreikönigstreffen der FDP im Januar 1964 ansehen. Motto: »Bewährtes erhalten – Zukunft gestalten.« Alles ziemlich verschnarcht. Dahrendorf und eine Reihe politischer Mitstreiter haben dagegen in den späten sechziger Jahren nicht nur dem politischen Liberalismus zu einem Aufbruch verholfen, sondern auch zu einer Liberalisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen.

    Rainer Hank