Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. August 2024Streit ist das Wesen der Demokratie
27. August 2024Lauter Vizepräsidentinnen
16. Juni 2023
Guter ButterWohlstand, Inflation und die Erfahrungen eines Boomers
Wenn Journalisten ihr Vorurteil pflegen wollen, dass Politiker weltfremd seien, dann fragen sie nach dem aktuellen Preis für ein halbes Pfund Butter. Bundesbankpräsident Joachim Nagel, im April von der FAZ befragt, lief nicht in die Falle. Er übernehme häufig den Wochenendeinkauf und verfolge die Preise sehr genau. Vor allem bei der Butter sei ihm aufgefallen, dass sie nach dem Anstieg der Preise vor einem Jahr nun wieder etwas billiger geworden sei. »Insgesamt liegt der Höhepunkt der Teuerung hinter uns«, so Nagel.
Nicht schlecht, finde ich, wenn sich die Notenbanker nicht nur um aggregierte Ziffern und Figuren kümmern, sondern um konkrete Supermarktpreise. Tatsächlich ist der Durchschnittspreis für Butter im Jahresvergleich im April 2023 um 3,6 Prozent gefallen, ein gutes Zeichen nach einer abenteuerlichen Teuerungsbewegung im vergangenen Jahr. Im Dezember 2021, als namhafte Ökonomen noch meinten, Inflation sei ein vorübergehendes Phänomen, kostete das 250–Gramm-Päckchen im Schnitt 1,66 Euro. In den zwölf Monaten danach ging es in mehreren Schritten nach oben. Höhepunkt war der September 2022 mit 2,39 Euro. Wohlgemerkt, das war der Durchschnittspreis. Sogenannte Markenware lag bei 3,50 und höher. Den gruseligen Satz »Bei drei Euro beginnt für uns die Todeszone« verdanken wir dem Chef der Molkerei Berchtesgadener Land.
Nun ist es einerseits lebensnah, wenn Notenbanker sich um Preise von Lebensmitteln kümmern. Andererseits auch wieder bedenklich. Denn eine klassische Ökonomen-Antwort auf die Frage, wann die Inflation bezähmt sei, lautet: Wenn die Leute nicht mehr über Inflation reden. Hinzu kommt, dass der Rückgang des Butterpreises kein zweifelsfreies Indiz für rückläufige Inflation ist. Denn der folgt einem ganz eigenen sogenannten »Schweinezyklus« von Teuerung und Preisverfall, der nur locker an die allgemeine Inflation gekoppelt ist.Butter ist eben ein ganz eigenes Lebensmittel. Als Boomer weiß ich, wovon die Rede ist. Butter, bei uns in Stuttgart sagte man übrigens »der Butter«, also Butter gab es damals nur zu besonderen Gelegenheiten. Bei Familienfesten, an Weihnachten, Ostern und manchmal am Sonntag. Im Alltag aßen wir Margarine. Die war billiger. Beim Backen vermerkte meine Mutter eigens, wenn der Teig mit »gutem Butter« zubereitet wurde. Das mussten wir beim Sonntagnachmittagskaffee eigens mit entsprechenden Geräuschen des Wohlgeschmacks würdigen.
Zu Röllchen geformt und dann kanneliert
Der Höhepunkt damals in den späten fünfziger Jahren waren die Geburtstage in der Familie, wenn Tante und Onkel eingeladen waren. Da gab es zum Abendessen eine Wurst- und Käseplatte, sozusagen der Höhepunkt der Gefühle. Diese Platten wurden gekrönt mit Butterröllchen, für welche die Hausfrauen eigene Butterroller hatten, die es übrigens heute noch im Handel gibt. Mit diesen Butterrollern ließen sich die Flöckchen nicht nur zu Röllchen formen, sondern auch noch kannelieren. Solche Röllchen drapierte man hübsch artig neben Scheiben von Zervelatwurst, die eingeschnitten zu einer Art Trichter geformt und zur Krönung mit jeweils einer Salzstange gespickt wurden.
Wenn ich mir konkret vorstellen will, wie »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) und »Wirtschaftswunder« aussieht, dann sehe ich immer diese Butterröllchen auf den Geburtstagen der fünfziger Jahre vor mir. Das Gefühl damals war zweigeteilt: Es geht uns wieder gut – aber eben nur an besonderen Tagen. Im Alltag gab es keinen Bohnen-, sondern Zichorienkaffee, hergestellt aus den Wurzeln der Gemeinen Wegwarte, wie ich gerade nachgegoogelt habe. Und aufs Brot gab es normalerweise eben Margarine, die man dafür immerhin dicker streichen durfte als die kostbare Butter.Seither hat die Butter eine sehr wechselvolle Geschichte durchgemacht. Was als Wohlstandserfolg genossen wurde, galt plötzlich als Ursache von allerlei Herz- und Kreislauferkrankungen. Denn das darin in Mengen enthaltene Cholesterin (eine fettähnliche Substanz namens Lipid) könne schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, sagten die Hausärzte. Heutzutage kommt unweigerlich und erwartbar hinzu, dass Butter als »ziemliche Klimasau« gilt, wie die Klimapolizei der ZEIT zu vermelden wusste: 20 Liter Milch braucht man für ein Kilo Butter. Für so viel Milch bläst die Kuh ordentlich Methan in die frische Weideluft, was wir uns hier jetzt gar nicht konkret vorstellen mögen.
Nachdem die Ernährungswissenschaftler cholesterinmäßig inzwischen Entwarnung gaben und die Methangegner noch nicht als Untersektion bei den Klimaklebern zugelassen wurden, hat der Butter inzwischen imagemäßig wieder gewonnen. Zumal auf der Liste der Bösewichte der Zucker ihm inzwischen den Rang abgelaufen hat. Und Kuhmilchgegner kriegen inzwischen sogar Butter aus Sojamilch.Langfristig gesehen ist die Butter heutzutage phänomenal billig – Inflation hin, Inflation her. Meine Anfrage bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung bringt als Beispiel: 250 Gramm Butter kosteten im Jahr 1959 im Schnitt 5 Mark 50. Heute, genauer gesagt 2021, kostet das Stück Butter 1 Euro 49. Der jährliche Prokopfverbrauch stieg in derselben Zeit von 3,6 auf 5 Kilo. Man kann es noch eindrucksvoller beschreiben: Für ein halbes Pfund Butter musste ein Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen 1970 noch 22 Minuten arbeiten. Inzwischen reichen ungefähr drei Arbeitsminuten, um sich ein Stück guter Butter leisten zu können. Das nennen wir Fortschritt.
Bei uns zuhause gibt es inzwischen Kerrygold«. Kennen Sie die? Mit ihrem Rewe-Preis von 2,99 Euro rangiert sie gerade knapp unter der »Todeszone«. »Lescure Beurre-Charentes-Poitou«, der vornehme Name deutet es an, liegt mit 4,90 deutlich darüber. »Kerrygold« scheint die Butter der heutigen Mittelschicht zu sein. Nicht nur bei mir ist die Marketingstrategie des irischen Molkereikonzerns voll aufgegangen. »Pure Irish Butter« steht auf dem Papier, das so goldgelb daherkommt wie die streichzarte (welche zärtliches Wort) Butter, die sich darunter verbirgt. Auch in USA ist Kerrygold Marktführer unter den importierten Buttermarken. Dort hat man die Besten der Besten für das Marketing eingesapnnt: Sarah Jessica Parker, Oprah Winfrey (sie hat 21 Millionen Follower, das hilft) und Model Chrissy Teigen lassen sich die irische Butter auf ihren Zungen zergehen. Min Jin Lee, ein koreanisch-amerikanischer Autor bekennt, er habe immer mehrere Kilos davon in seinem Kühlschrank, wie ich der Wochenendbeilage »How to spend it« der Financial Times entnehme. Sagen wir es so: Wer solche Influencer beschäftigt, braucht sich um den Umsatz keine Sorgen mehr zu machen. Wie hieß es schon in einem Zeichentrickfilm der 50er Jahre für »Deutsche Markenbutter«, zugegeben etwas simpler als bei Oprah Winfrey: »Ja, Leute, mit Butter ist alles in Butter!«
Rainer Hank
16. Juni 2023
Steinmeiers PflichtjahrSolidarität, zwangsverordnet
Ein Bundespräsident braucht ein Projekt. An irgendetwas soll man sich später schließlich erinnern können. Besonders gut haben das Walter Scheel und Roman Herzog hinbekommen. Der eine ist als Volksliedsänger in die Geschichte eingegangen (»Hoch auf dem gelben Wagen«), der andere als Volksschüttler (»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«). Weniger einprägsam blieben Joachim Gauck und Christian Wulff: Der eine gab sich als Prophet der Freiheit, die leider etwas blass blieb, der andere als ein Verteidiger der Integration (»Der Islam gehört zu Deutschland«), was dann vom turbulenten Ende seiner Präsidentschaft überwölkt wurde. Schlimmer erging es nur noch Heinrich Lübke. Vieles, was von ihm überliefert ist, darf inzwischen noch nicht einmal mehr wörtlich zitiert werden (»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe [N-Wort]«).
Frank-Walter Steinmeier ist inzwischen in seiner zweiten Amtszeit angelangt und muss sich ein wenig sputen. Sein Vermächtnis heißt »Soziale Pflichtzeit«. Er wiederholt es bei jeder Gelegenheit, zuletzt in einem Gastbeitrag in der FAZ am 25. Mai. Dabei handelt es sich um ein Plagiat, was aber nicht so schlimm ist: Ursprünglich stammt die Idee von Annegret Kramp-Karrenbauer, die – für alle, die sich nicht mehr erinnern – eine kleine Weile lang CDU-Vorsitzende war.
Im Vergleich zu der Ideenerfinderin aus dem Saarland ist Steinmeier wesentlich hartnäckiger. Für all jene, an denen der Vorschlag bislang vorbeigegangen ist, hier die Zusammenfassung: Sozialer Pflichtdienst soll ein Dienst genannt werden, bei dem Menschen aus verschiedenen Milieus und Schichten zusammenarbeiten müssen. Damit könne der Zusammenhalt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft gestärkt werden. Die Pflichtzeit soll mindestens sechs Monate, maximal ein Jahr dauern und kann in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden. Es braucht dazu eine Verfassungsänderung, für die der Bundespräsident gute Chancen sieht. Die Zustimmung zu seiner Idee erreiche in der ganzen Gesellschaft 65 Prozent, bei den Jüngeren liege sich bei knapp über 50 Prozent.
Viele Menschen seien »regelrecht elektrisiert« von seiner Vision, berichtet Steinmeier. Ich gestehe, dass ich nicht zur Gruppe der Elektrisierten zähle, und konzentriere mich auf zwei Einwände: Die Freiheitsberaubung. Und die ungeklärte Nachfrage.
Wie wird der Mensch tugendhaft?
Zunächst zur naheliegenden Frage, ob sich die gespaltene Gesellschaft – falls es sie wirklich gibt – mit Zwang kitten lässt. Nüchtern ökonomisch betrachtet wäre die Einführung einer Pflichtzeit nichts anderes als eine Steuererhöhung. Denn bei einem Zwang zu Sozial- oder Militärdienst wird dem Dienstleistenden eine Naturalsteuer auferlegt, indem er dem Staat ohne marktgerechte Gegenleistung seine Zeit zur Verfügung stellt – was im strikten Sinn die Definition einer Steuer erfüllt. Jede Steuer ist ein Eingriff in die Freiheit der Bürger: Die Einkommensteuer konfisziert (legal) Teile des Eigentums, die Naturalsteuer würde mindestens ein halbes Jahr lang den Menschen die Freiheit nehmen, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Zum Beispiel sich ehrenamtlich zu betätigen, ein Engagement, das hierzulande kontinuierlich zunimmt (jedenfalls bis zur Pandemie). Dabei ist die Naturalsteuer eine deutlich größere Freiheitsberaubung als Mehrwert- oder Einkommensteuer, vergleichbar dem Verhältnis von Geld- und Gefängnisstrafe.
Kann man Solidarität zwangsverordnen? Der Präsident kenn diesen Einwand natürlich. Er kontert ihn mit der steilen Behauptung: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.« Als Pflicht spreche der demokratische Staat alle Bürger als gleiche an und versichere ihnen, gebraucht zu werden für »eine gerechtere, eine menschliche und nachhaltige Gesellschaft«. Damit zitiert Steinmeier (womöglich unbewusst) eine zutiefst deutsche Tradition des Gegensatzes von Pflicht und Neigung, die auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller zurückgeht. In dieser Tradition verfällt die Neigung dem Verdacht moralischer Berechnung, – als ethisch wertvoll gilt ausschließlich die Pflicht.
Im bei J.G. Cotta erscheinenden Musenalmanach für das Jahr 1797 unterstellt Schiller einem fiktiven Zeitgenossen, er diene zwar seinen Freunden, »doch thu ich es leider mit Neigung: Und so wurmt es mir (sic!) oft, dass ich nicht tugendhaft bin«. Es genügt also nicht, gelegentlich moralisch zu handeln oder ausschließlich dort, wo es aus Berechnung oder angesichts von Freunden leichtfällt, wie der Tübinger Philosoph Ottfried Höffe seinen Schiller paraphrasiert. Tugendhaft, also moralisch gut, darf sich erst nennen, wer auch in schwieriger Lage den moralischen Geboten folgt. Und das geht nur mit Pflicht: »Da ist kein anderer Rath, du musst suchen, sie (sc. die Neigung) zu verachten,/ Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.«
Der Unterschied zwischen Steinmeier und Schiller liegt nicht nur in der schöneren Sprache des Dichters, sondern auch darin, dass Schiller die Pflicht als rein moralisches Gebot versteht. Dem scheint Steinmeier nicht zu trauen, weshalb er aus der moralischen Pflicht eine staatliche Zwangsverpflichtung machen will, deren Redlichkeit nun wiederum Schiller nicht trauen würde, weil der äußere Zwang die innere Motivation verschmutzt. Wer weiß dann noch, ob der Bürger sich wirklich für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft verpflichtet, oder lediglich tut, was das Machtmonopol des Staates gebeut.
Doch wozu gebeut nun eigentlich Steinmeiers Pflicht? Oder ökonomisch gewendet: Auf welche Nachfrage soll das soziale Angebot treffen? Da wird unser Philosophenpräsident merkwürdig schmallippig. Gated Communities sollen überwunden werden, Brücken gebaut, getrennte Lebenswelten verbunden werden. Was heißt das konkret? Schickt das Präsidialamt einen Pflichttrupp nach Dresden in eine AfD-Mitgliederversammlung? Oder zu den linksextremen Terroristen. Wird eine Abordnung nach Oberbayern zum ortsnahen Aufstellen von Windrädern verdonnert? Oder zu einer Diskussionsveranstaltung mit Islamisten oder Klimaklebern? Oder sollen Rechts-Identitäre mit Links-Nonbinären gemeinsam zur Altenbetreuung geschickt werden? Ich karikiere, ich weiß. Aber man hätte es eben schon gerne konkret gewusst, wo die Nachfrage nach Brückenbauern herkommt.
Integration durch Konflikt, nicht durch Abschmelzung von Konflikten, das war laut Ralf Dahrendorf das liberale Erfolgsgeheimnis der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dieser Prozess läuft über die wechselseitige Anerkennung von Haltungen, Argumente oder Prägungen von Andersdenkenden und Anderslebenden. Eine Einübung darin vermittelt, wenn es gut geht, Bildung (Eltern, Schule, Vorbilder, Mentoren) – jedenfalls besser und nachhaltiger als eine soziale Zwangsverpflichtung.
Rainer Hank
06. Juni 2023
Nützliche IllegalitätWarum sagt der Ex-Audi-Chef so komische Sachen
Er hat es getan. Zweieinhalb Jahre, 167 Verhandlungstage lang, hat der Ex-Audi-Chef Rupert Stadler standhaft geleugnet, dass er davon gewusst habe, dass in seinen Autos eine Motorensteuerungssoftware eingebaut wurde, um die Abgaswerte zu türken.
Nun also, am 16. Mai 2023, gesteht Stadler. Doch was hat er eigentlich gestanden? Dazu muss man sich die Formulierung anschauen, die Stadlers Verteidigerin an diesem Vormittag im Gerichtssaal abgab. »Dass möglicherweise die Beschaffenheit von Dieselmotoren nicht rechtlichen Zulassungsbedingungen entspricht«, habe er, Stadler, »nicht gewusst, aber als möglich erkannt und es billigend in Kauf genommen«.
Dieses wunderbare Zitat, ein Kleinod der Gerichtssprache, ist im wahrsten Sinn des Wortes toll. Es hst eine juristische, eine sprachphilosophische und eine organisationssoziologische Komponente. Analysiert wurde bislang immer nur der strafrechtliche Aspekt. Demnach ist die Verklausulierung das Eingeständnis von »Betrug durch Unterlassen« und zugleich Ergebnis eines Deals mit dem Gericht, der den Angeklagten Rupert Stadler davor verschont, ins Gefängnis zu müssen und ihm zusichert, mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldzahlung von 1,1 Millionen Euro davonzukommen. Solche Deals sind nicht unüblich. Mein von den »Zwölf Geschworenen« im Kino geprägter Laienverstand sträubt sich da. Ich denke, vor Gericht geht es um die Frage »schuldig« oder »nicht schuldig« – tertium non datur. Und ich denke, dass es da um Wahrheit und nicht um einen ökonomischen Kosten-Nutzen-Deal geht. Doch dies scheint ein naives Bild vom Strafprozess zu sein. Im Endeffekt kommt Stadler mit 1,1, Millionen billig davon; seine Jahresvergütung als CEO bei Audi betrug im Schnitt fünf Millionen Euro.
Es regnet. Aber ich weiß es nicht
Nun zur Sprachphilosophie. Wie kann jemand etwas nicht wissen und, was er nicht weiß, zugleich billigend in Kauf nehmen? Wissen, definiert das Lexikon, als Kenntnis haben von Fakten, Theorien oder Regeln. Stadlers Aussage vor Gericht muss man dann als Mooresches Paradox verstehen: Etwas behaupten und im gleichen Atemzug sagen, dass man es nicht glaubt (»Es regnet, aber ich glaub es nicht.«). Stadler sagt, er habe nichts gewusst, aber dann kam ihm der hypothetische Gedanke, so etwas könnte womöglich doch der Fall sein. Und für diesen hypothetischen Fall hat er sich dann in Verdacht, es billigend in Kauf nehmen. Man kann das Paradoxon also auch umgekehrt formulieren: Zweifelhaftes kann man nicht wissen. Wir befinden uns hier in einem sehr weit fortgeschrittenen Konjunktiv, der weitere Fragen provoziert. Warum sollte Stadler auf eine derart verrückte Idee kommen (Einbau von widerrechtlicher Software), wo er doch gar kein Wissen darüber hat, dass es so etwas gibt? Und warum sollte er diese Möglichkeit auch noch billigend in Kauf nehmen? Warum sollte er etwas vertuschen, von dem er gar nicht weiß, dass er es vertuschen könnte? Aus der Paradoxie gibt es kein Entrinnen.
Gehen wir weiter zur Organisationssoziologie. Dort ist seit langem das Konzept »nützlicher Illegalität« bekannt. Der Einbau der betrügerischen Motorensteuerungssoftware war ja keine Tat böswilliger Ingenieure, die sich gegen das Unternehmen richtete, wie etwa, wenn Werkzeug oder Patente geklaut werden. Ganz im Gegenteil diente der Gesetzesbruch dazu, VW, Audi & Co. Vorteile am Markt zu verschaffen. Man täuschte vor, Abgasnormen einzuhalten, die man weder einhalten konnte noch einhalten wollte. Solche Verstöße sind nützlich und funktional im Sinne des Unternehmenszwecks: Man handelt gesetzeswidrig, aber für einen guten Zweck im Sinne der Firma (jedenfalls so lange, wie die die Sache nicht auffliegt).»Das will ich gar nicht wissen«
Wie werden ganz praktisch solche kriminellen Handlungen angeordnet? Sicher nicht derart, dass es einen Ukas, mündlich oder schriftlich, des obersten Chefs gibt, von der nächsten Modellreihe an Schummelsoftware in die Autos einzubauen. Eher doch wohl so, dass da plötzlich der ein oder andere Vorschlag des ein oder anderen Technikers im Raum steht, wie man die gesetzlichen Abgasanforderungen mit dem ein oder anderen Trick erfüllen könne (niemand würde das eine »illegale Handlung« nennen), ohne sich daran halten zu müssen. Der Chef steht mit dabei, hört zu und sagt dann Sätze wie: »Das will ich alles gar nicht wissen.« Oder: »Das will ich jetzt gar nicht gehört haben.« Die Botschaft des Chefs an die Mitarbeiter ist klar: Macht mal, aber lasst mich da raus. Er kann dann später »guten Gewissens« immer sagen, er habe von nichts gewusst.
Ich weiß natürlich nicht, wie es wirklich war. Doch jeder, der schon einmal in einem Unternehmen gearbeitet hat, kennt solche Chef-Sätze. Genau diese Art des Nichtwissens scheint mir, soziologisch gesehen, im Fall des Stadler-Geständnisses vorzulegen. Er hat sich gehütet, etwas zu wissen (könnte ja sein, man steht später einmal vor Gericht und braucht einen Deal). Aber das, was er zu wissen sich gehütet hat, hat er »als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen«. Die Botschaft wurde verstanden. Immer wieder wird gesagt und geschrieben, bei VW und Audi habe es ein autoritäres System von Befehl und Gehorsam der Herren Winterkorn und Stadler gegeben. Eher ist das Gegenteil der Fall, vermute ich: Es brauchte gerade keine autoritären Befehle. Eine auf Vertrauen und Loyalität aufgebaute Unternehmenskultur ist wie gemacht für nützliche Illegalität.
Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl erforscht seit langem das System nützlichen Regelbruchs in Organisationen. Sein 2020 im Campus-Verlag erschienenes Buch »Brauchbare Illegalität« macht plausibel, dass Regelverstöße nicht die Ausnahme (Skandal, Skandal!), sondern die Regel sind. Regelbruch als Regel – getreu dem Diktum von Wilhelm Busch: »Tugend war zu jeder Zeit/nur Mangel an Gelegenheit.«Kühl macht sich Gedanken, wie man solche nützlichen Regelverstöße eindämmen kann. Keinesfalls durch Skandalisierung oder Moralisierung, findet der Soziologe. Ethikrichtlinien und dergleichen dienen den Chefs nur umso mehr als Rechtfertigung dafür, dass man alles unternommen habe, um einer Organisationskultur entgegenzuwirken, durch die Mitarbeiter zu Gesetzesverstößen ermutigt werden. Die Führung ist dann fein raus und kann schweigend billigend in Kauf nehmen. Die einzige Möglichkeit, Regelabweichungen in Unternehmen zu thematisieren, bestünde in einer konsequenten Entmoralisierung, findet Kühl. Er setzt auf »kommunikative Nischen«, in denen über spezifische Regelabweichung gesprochen wird. Das klingt vernünftig. Aber ist es auch realistisch? Kaum. Eher bleibt es auch künftig bei der Paradoxie von Nichtwissen und stillschweigender Billigung dessen, was man nicht weiß.
Rainer Hank
31. Mai 2023
Heils RhetorikWie man Freiheitsberaubung gut verkaufen kann
Was macht eigentlich Hubertus Heil? Der Mann ist Arbeitsminister in der Ampelregierung, fällt nicht besonders auf und ist doch beliebt. Allzu viel Auffälligkeit schadet auf Dauer ohnehin, wie Heils Kollege Robert Habeck derzeit erfahren muss und seither wie eine beleidigte Leberwurst agiert. Habeck ist im Beliebtheitsranking der Deutschen gerade dramatisch abgestürzt, während Hubertus Heil sich stabil auf Platz 2 hält, gleich hinter dem Shooting-Star Boris Pistorius.
Grund also nachzusehen, worauf die Beliebtheit von Hubertus Heil (SPD) beruht. Meine Vermutung: Auf Rhetorik. Das ist aus der Perspektive eines Politikers ein Lob.
Mein Beispiel für Heils Kommunikation ist das sogenannte Tariftreuegesetz. Das ist nun nicht gerade ein Brüller, mit dem man Gemeindesäle in Wallung bringt, eignet sich aber bestens dazu, rhetorische Pluspunkte zu sammeln. Die Gesetzesabsicht, nicht ganz neu und auch schon in Groko-Zeiten beliebt, findet sich im Koalitionsvertrag der Ampel an prominenter Stelle unter der Überschrift »Mehr Fortschritt wagen«. Fortschritt sei dann, wenn die Tarifautonomie gestärkt werde, damit in Deutschland »faire Löhne« gezahlt würden, was gut sei für die Beschäftigten und die nötige Lohnangleichung zwischen Ost und West befördere. Und wie kommt man zu »fairen Löhnen«? Dafür soll es eben jenes Tariftreuegesetz geben. Wörtlich: »Zur Stärkung der Tarifbindung, des fairen Wettbewerbs und der sozialen Nachhaltigkeit soll die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrags der jeweiligen Branche gebunden werden, wobei die Vergabe auf einer einfachen, unbürokratischen Erklärung beruhen soll.«
Ich empfehle diese Sprachbausteine ins Handbuch der politischen Rhetorik aufzunehmen. Die Konstruktionsanleitung verlangt, in auffallender Häufigkeit positiv klingende Reizworte über den Text zu streuen. Also eben »fair«, »sozial«, »nachhaltig«, »treu« oder »unbürokratisch«. Das kommt immer gut und vernebelt die Frage, was damit eigentlich gemeint ist. Hauptsache, es geht um das Gute, Wahre und Schöne. Nicht nur die Bürger sind entzückt, auch die Kommentatoren jubeln. Schließlich gehe es um »sozialen Ausgleich als politische Aufgabe«, findet zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung. So ein Gesetz sei sogar dann gut, wenn es den Bund »zusätzliche Milliarden« kosten werde. Denn, wie gesagt, wenn es um den sozialen Ausgleich geht, wäre es kleinlich, wegen ein paar Milliarden mehr viel Gewese zu machen. Selbst der Branchenverband der Bauindustrie ist von Heils Plänen beglückt, obwohl dessen Betriebe künftig vom Staat das Lohnniveau diktiert bekommen. Kein Problem: Denn die Zusatzbelastung wird ja an Hubertus Heil durchgereicht (präziser: an den Finanzminister, noch präziser: an den Steuerbürger).
Missachtung der negativen Koalitionsfreiheit
Was gut klingt, muss bekanntlich nicht gut sein. Rhetorik kann (auch) zur Verschleierung genutzt werden. Beim Tariftreuegesetz ist das der Fall. Es ist in Tat und Wahrheit ein Gesetz zur Unterdrückung der Freiheit des Bürgers unter Zuhilfenahme von Gewaltandrohung. Es ist zudem verfassungswidrig, falls einem Nichtjuristen so ein Urteil zusteht.
Beginnen wir mit der Verfassung. Da heißt es in Artikel 114, Absatz 2, Haushaltsmittel des Staates müssten strikt »wirtschaftlich« ausgegeben werden, was in den Vergabeordnungen als »sparsam« interpretiert wird: mit minimalen Mitteln maximale Ergebnisse erreichen. Immerhin geht es um ein staatliches Auftragsvolumen zwischen 300 und 500 Milliarden jährlich. Die Pflicht, Tariflohn zu bezahlen, würde den Preiswettbewerb unterbinden und somit eklatant gegen das Gebot der Sparsamkeit verstoßen.
Wichtiger noch ist Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes, wonach jedermann das Recht hat, zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sich mit anderen zu Vereinen zusammenzuschließen, also sich in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu organisieren und kollektiv Löhne auszuhandeln. Das nennt man Tarifautonomie, die im Umkehrschluss das Grundrecht umfasst, solchen Vereinen fernzubleiben. Dies nennt man negative Koalitionsfreiheit, ein zentrales Freiheitsrecht in einem liberalen Staat. Nun haben sich in den vergangenen Jahren nicht nur immer mehr Firmen, sondern auch immer mehr Arbeitnehmer entschieden, von Recht fernzubleiben Gebrauch zu machen. Der Organisationsgrad von Verbänden und Gewerkschaften schrumpft. Da es keine Anzeichen dafür gibt, dass solche Entscheidungen im Zustand geistiger Umnachtung getroffen wurden, hat der Staat kein Recht, Menschen per Gesetz in die Verbände zu zwingen. Statt gleich »Dumpinglöhne« zu unterstellen, könnte es sein, dass die Menschen angesichts veränderter Knappheiten am Arbeitsmarkt lieber selbst für »faire« und ordentliche Bezahlung streiten wollen (und mit Wechsel des Arbeitgebers drohen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden). »In einer freien Wirtschaft geht es den Auftraggeber nichts an, wie der Auftraggeber seine Mitarbeiter behandelt«, sagt Volker Rieble, ein Arbeitsrechtsprofessor an der Universität München.
Die Kehrseite der säuselnden Fairnessrhetorik findet sich im Kleingedruckten der Heilschen Treuepläne. Wer sich nicht an die staatlich vorgeschriebenen Tarife hält, dem drohen »abschreckende Sanktionen« mit »konsequenter Kontrolle«. Genannt werden: Bußgelder, Vertragsstrafen und Ausschluss von künftiger Vergabe. Hier zeigt der für seine Bürger angeblich treusorgende Staat seine ganze Härte. Gewalt als Kehrseite des Paternalismus, der Philosoph Michel Foucault, ein Analytiker der Macht, hätte seine helle Freude gehabt.
Ich fasse zusammen: Die Polit-Rhetorik von Fairness, Nachhaltigkeit, Fortschrittlichkeit und Treue verschleiert einen schweren Eingriff in die Freiheit der Bürger (Arbeitnehmer und Unternehmer), verbunden mit der Androhung von Gewalt für all jenee, die sich dem nicht fügen wollen. Das Tariftreuegesetz kommt im Juni in den Bundestag und soll vom 1. Januar 2024 Gesetzeskraft haben.
Wer kann das Gesetz stoppen? Der Bunderechnungshof, der für das Sparsamkeitsgebot öffentlicher Aufträge zuständig ist, kann im Vorfeld maulen. Das Bundesverfassungsgericht kann im Nachhinein prüfen; ein Kläger wird sich finden. Und die Partei der Freiheit, vulgo FDP? Sie müsste aus dem Ampelgeleitzug ausscheren, nähme sie ihren Freiheitsauftrag ernst. Tut sie aber nicht. Als Teil des Koalitionsvertrag stünde das Gesetz auf der Agenda der Bundesregierung, lässt mir die Bundestagsfraktion mitteilen. Im Übrigen hoffe man, die Sache noch irgendwie verzögern zu können (sofern ich die Verklausulierungen des zuständigen Abgeordneten richtig deute). Freiheitspolitik sieht anders aus.
Rainer Hank
12. Mai 2023
Die neue OstalgieGibt es ein richtiges Leben im Unrechtsstaat?
In meiner Familie wird die Geschichte eines Vetters erzählt, der eines Nachmittags, es muss Ende der fünfziger Jahre gewesen sein, aus dem Gasthaus zurückkommt und seinem Vater – meinem Onkel – den Satz entgegenschleudert: »Du bist ein Nazi.« Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Der Junge bekam eine gescheuert, die derart saß, dass er den Vater nie mehr auf das Thema ansprach.
Katja Hoyer, Mitte der 80er Jahre in der DDR geboren, frug eines Tages ihren Politik- und Geschichtslehrer im wiedervereinigten Jena, wie er heute das Gegenteil dessen lehren könne, was er vor dem Mauerfall unterrichtet habe. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Der Lehrer schmiss Katja aus seiner Klasse.
Von dem Philosophen Hermann Lübbe stammt das Diktum des »kommunikativen Beschweigens«. Nach 1945 hatte man sich im Nachkriegsdeutschland darauf geeinigt, die Jahre zwischen 1933 und 1945 nicht zu thematisieren. Lübbe sprach von »Beschweigen«, nicht von »Verdrängen«, notwendige Vorbedingung für den Neuanfang. Die beiden Beispiele könnte man in Abwandlung des Lübbe-Diktums »aggressives Beschweigen« nennen.
Ein sonderbares, verschwundenes Land
Es kann Jahre dauern, bis aus Beschweigen Verstehen wird. In Westdeutschland hat es bis in die frühen 80er Jahre gedauert, also fast dreißig Jahre, bis ein offenes Gespräch über die Nazizeit möglich wurde. Seit dem Zusammenbruch der DDR sind inzwischen gut 30 Jahre vergangenen. Erst jetzt gibt es in meinem Freundeskreis einigermaßen offen-selbstbewusste Gespräche über biografische Erfahrungen in der DDR, jenem »sonderbaren, verschwundenen Land« (Katja Hoyer). So wundert es nicht, dass sich jetzt Bücher häufen, die antreten, der DDR Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne gleich apologetisch zu werden: »Lütten Klein«, das Buch des Soziologen Steffen Mau beschreibt die Demütigungen, denen die Ostdeutschen in den Jahren der Transformation nach 1989 ausgesetzt waren. »Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung«, der Bestseller des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, behauptet wortgewaltig, der Westen brauche den Osten als negative Projektionsfläche, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen.
In diesen Kreis gehört auch Katja Hoyers in diesen Tagen erschienenes, spannend zu lesendes Buch »Diesseits der Mauer«. Die DDR war kein graues Land voller hoffnungsloser Existenzen, so die These. Das andere Deutschland sei mehr als Mauer und Stasi. Auch Hoyer behauptet, die Geschichtsschreibung der DDR werde bis heute vom westlichen Blick dominiert. Mit dem Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur werde übersehen, dass die meisten der 16 Millionen Einwohner der DDR ein relativ friedliches und normales Leben mit alltäglichen Problemen, Freuden und Sorgen führten. Die Mauer habe die Freiheit eingeschränkt, aber andere gesellschaftliche Schranken seien gefallen.Katja Hoyer schildert vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus der Sicht derer, die ihn selbst erlebt haben. Als »Westdeutscher« bin ich überrascht und beschämt, wie wenig ich weiß. Wir begegnen dem Kommunisten Erwin Jöris 1937 in einer schmutzigen Zelle in Swerdlowsk/Sibierien, wir begegnen Regina Faustmann, die 1951 die Ärmel aufkrempelt, um sich am Wiederaufbau der Wirtschaft zu beteiligen (»Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!) oder Andreas Weihe, einem 1980 »durch freiwilligen Zwang« bei der NVA gelandeten jungen Wehrpflichtigen, der verzweifelt hofft, nicht schießen zu müssen.
Die Haltung, die sich in all diesen Erinnerungsbüchern trotzig breit macht, heißt: Innensicht. Deshalb der Titel »Diesseits der Mauer« (Original: »Beyond the Wall«). Es fällt auf, dass all die genannten Autoren die DDR als junge Leute erlebt haben und die Entwürdigung und Depravierung ihrer Eltern oder Verwandten mitansehen mussten, denen sie jetzt Gerechtigkeit verschaffen wollen. Katja Hoyers Vater hatte eine vielversprechende Karriere als Luftwaffenoffizier vor sich, Hoffnungen, die von heute auf morgen vereitelt wurden, wie sie in einem Interview erzählt. Es ist aber auch interessant, dass alle Autoren im demokratischen Kapitalismus Karriere gemacht haben, was kaum möglich wäre, hätte die DDR weiter existiert. Katja Hoyer lebt seit über zehn Jahren in England, forscht als Historikerin am King’s College in London, ist Fellow der Royal History Society und hat eine Kolumne in der Washington Post.
Freiheit lässt sich nicht aufteilen
Wir lassen nicht zu, die Geschichte der DDR pauschal als eine Fußnote der deutschen Geschichte abzutun, die man am besten vergisst, so Katja Hoyer. Das hat freilich seinen Preis. Zu Recht sagt Katja Hoyer, BDR und DDR seien wie ein sozialwissenschaftliches Experiment, bei dem zwei Laborgruppen historisch unterschiedliche Wege gegangen sind. Ökonomisch ist der Ausgang des Feldversuchs eindeutig. Das Bruttosozialprodukt der BRD lag 1949 bei 261 Milliarden Euro, das der DDR bei 37 Milliarden. Am Ende, 1989, war der Wohlstand der Westdeutschen auf 1,4 Billionen Euro angewachsen im Vergleich zu 207 Milliarden der DDR. Katja Hoyer leugnet dies nicht. Aber sie stellt die soziale Gleichheit der DDR der westlichen Marktwirtschaft als mindestens ebenbürtig gegenüber: Eine viel größere soziale Durchlässigkeit, eine Gender-Gerechtigkeit (1988 arbeiten 90 Prozent der Frauen) nebst der staatlichen Förderung von Volks- und Spitzensport, dies Sachen nennt sie als Stärken des Ostens; sozialistischer Alltag im Zustand existenzieller Sorglosigkeit.
Spätestens hier sind Rückfragen nötig. Was heißt soziale Mobilität im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn Akademikerkindern das Studium verwehrt wird und Christen das Nachsehen haben, wenn sie nicht in der FDJ waren? Wo steckt der Denkfehler in der »Vision einer klassenlosen Gesellschaft, in der man am oberen Ende des wirtschaftlichen Spektrums freiwillig auf Luxus verzichtete, um am unteren Rand große Armut zu verhindern«? Was heißt Gendergerechtigkeit, wenn Kinder – natürlich nicht alle – in sogenannten Wochenkrippen untergebracht wurden, wo sie bleibenden psychischen und sozialen Schaden nahmen? Und was ist einer egalitären Gesellschaft wert, die nicht auf freier Wahl der Menschen beruht, sondern autoritär und undemokratisch von einer Elite oktroyiert wurde. Die Freiheit ist nicht einfach eine Schranke von vielen, die ein Staat verweigern oder gewähren kann: Ohne Freiheit ist alles andere nichts.
Die Siegerpose der Westler, die den »Beitritt« der fünf neuen Bundesländer 1990 als »alternativlos« durchgezogen haben, hat die Würde der Menschen aus der DDR beschädigt. Diese »Schuld«, die mehr ist als Unsensibilität, wird nicht dadurch ausgeglichen, dass nun die DDR in Nachhinein als das bessere Sozialmodell idealisiert wird. Auch im falschen Leben ist normales Leben in Würde möglich. Doch Unrechtsstaat bleibt Unrechtsstaat.
Rainer Hank