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  • 26. November 2025
    Zugang ist alles

    Genialer Zugang: Die Braunüle Foto B.Braun Melsungen

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein etwas anderer Blick auf Ungleichheiten

    Vor kurzem musste ich zur Computertomografie (CT) in die Radiologie einer Klinik. Ich lag schon auf der Liege, auf der man in die Röhre eingefahren wird, da hörte ich die Krankenschwester – pardon: MTA – erschrocken ausrufen: »Sie haben ja gar keinen Zugang!«

    Die MTA meinte die fehlende Braunüle, die einen Zugang zu meinem Körper eröffnet und jeden Menschen sofort als Krankenhausinsassen zu erkennen gibt. Braunüle heißt diese »Venenverweilkanüle«, weil sie ursprünglich von der Pharmafirma »Braun Melsungen« erfunden wurde; inzwischen wird das simple Wunderwerk auch von Wettbewerbern vertrieben. Über eine Braunüle lassen sich Infusionen, Medikamente, Bluttransfusionen und vieles mehr verabreichen; über sogenannte Site-Ports können gleichzeitig verschiedene Lösungen eingeflößt werden. Bevor es in eine CT-Röhre geht, braucht es ein Kontrastmittel; das fließt natürlich auch über die Braunüle. Mit einem simplen Plastikschlauch von ein paar Zentimetern schafft man einen lebensrettenden Zugang: Notfallmedikamente, Narkose, Schocktherapie – alles hängt an dieser künstlichen Körperöffnung.

    Ein Zugang ist alles. Ohne Zugang ist nichts. Als ich vor Jahrzehnten einmal ein paar Monate lang das Glück hatte, als Visiting Fellow am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Amerika zu studieren, war es gleich am ersten Tag der Zugang zu »Athena«, der mich als ordentliches Mitglied der MIT-Community auswies, sozusagen die Braunüle der Ivy Leage. Athena, so heißt sinnigerweise eine akademische Rechnerumgebung am MIT: Sie bietet IT-Dienste, Remote-Server, Datenbanken, gemeinsame Software, Authentifizierung und Zugang zum Bibliothekssystem. Es gibt sie bis heute, habe ich mir sagen lassen – natürlich mit noch viel umfangreicheren Rechten und digitalen Bewegungsmöglichkeiten als damals. Der Zugang ist nicht billig, enthalten in den teuren Studiengebühren. Wer zahlt, der bekommt das Passwort – Schlüssel zu einer schier endlosen Welt des Wissens.

    Katastrophe: Passwort vergessen

    Zugang ist nie das Ziel selbst, so könnte man sagen, sondern die Bedingung, dass etwas überhaupt stattfinden kann. Ohne Zugang keine Handlung, keine Teilhabe, keine Heilung. Die Berechtigung stiftet ein Passwort. Wer kennt nicht die Verzweiflung, wenn man wieder mal das Passwort vergessen hat, sich im digitalen Passwortschrank auf dem Handy nichts Passendes finden lässt und ein Button »Passwort vergessen« fehlt. Dann folgt meist ein langwieriger nervtötender Prozess, ein neues Passwort zu beantragen, wofür man häufig wieder ein früher festgelegtes Passwort benötigt. Wo war das denn bloß wieder abgelegt?

    In den endlosen und zuweilen ermüdenden Debatten über Ungleichheit wird der »Zugang« meist übersehen. Da geht es dann nur um unterschiedliche Einkommen oder Vermögen. Es geht um Erbschaften, die einer mit reichen Eltern zu erwarten hat; einer, der arm geboren wird, aber nicht. Dass der Zugang Ungleichheiten definiert, kommt selten in den Blick.

    Eine Ausnahme sind die Forschungen des indischen Wirtschaftswissenschaftlers und Philosophen Amartya Sen (geboren 1933). Er war Professor an der Harvard Universität, in guter Nachbarschaft zum MIT gelegen. 1998 erhielt er für seine Forschungen den Ökonomie-Nobelpreis.

    Zu den Forschungsergebnissen Sens gehört die Erkenntnis, dass Hungersnöte nicht primär durch Knappheit von Nahrungsmitteln entstehen, sondern durch fehlenden Zugang zu Nahrung. Man kann es auch anders sagen: Eine Hungersnot ist weniger ein ökonomisches, als vielmehr ein politisches Problem. Menschen verhungern, obwohl genug Essen da ist, weil ihre Anrechte und Ansprüche auf Lebensmittel wegbrechen. Sen hat diese Erkenntnis in späteren Forschungen generalisiert mit seinem sogenannten »Capability Approach«: Wirtschaftliche Entwicklung bemisst sich nicht nur an Einkommen, sondern an den realen Zugängen zu Chancen, die Menschen haben. Chancengleichheit hat Zugangsrechte zur Voraussetzung. Ohne Zugangsrechte hat man buchstäblich keine Chance. Zwei Menschen mit gleichem Einkommen können sehr unterschiedliche Lebenschancen haben, wenn einer keinen Zugang zu Bildung, Gesundheit oder politischer (demokratischer) Teilhabe hat. Migranten, sie können so talentiert sein, wie sie wollen, haben ohne Zugang in ein wohlhabendes Land keine Aufstiegschancen.

    Open Access

    Man kann es noch ein bisschen pathetischer sagen: Freiheit bedeutet, tatsächlichen Zugang zu haben – nicht nur formal, sondern ganz real. Zu Bildung, medizinischer Versorgung, sozialer Absicherung und öffentlichem Diskurs. Das gibt den aktuellen Debatten über Cancel Culture von links oder von rechts ihre Brisanz. Wer keinen Zugang zu den tonangebenden Netzwerken erhalten hat, dessen Stimme wird nicht gehört, dessen Argumente versanden – und seien sie noch so gut und triftig.

    Ein solches Freiheitsverständnis wirft neues Licht auf die Bewegung des »open access«. Dabei geht es auf den ersten Blick »lediglich« um den uneingeschränkten Zugang zu wissenschaftlicher Literatur und Forschungsergebnissen über das Internet. Das ist mehr als eine bibliothekswissenschaftliche Frage. Es geht um »Sinn-Welten«: Wer Zugang hat, dem eröffnet sich eine neue Welt, die dem anderen verschlossen bleibt. Die Geistiges Eigentum zu garantieren, verlangt zwar, dass – wie immer beim Eigentum – Wissen nicht jedermann einfach frei zugänglich ist. Deshalb muss es auch für geistiges Eigentum Preise geben, die sich an Knappheiten orientieren. Eine Gesellschaft, die Chancengleichheit in möglichst hohem Maß verwirklichen will, müsste aber Orte gesellschaftlich nützlichen Wissens für jedermann ermöglichen und finanzieren: eine Art digitaler Allmende. Die Abgrenzung, was zur viralen Daseinsvorsorge zählen soll und was nicht, lässt sich nicht normative dekretieren, sondern müsste im demokratischen Diskurs jeweils neu entschieden werden.

    Fassen wir zusammen: Freiheitsrechte werden über reale Zugangsmöglichkeiten definiert. Die Ungleichheitsdebatten haben sich festgefahren im Streit über Einkommens- und Vermögensungleichheiten und in kleinkarierten politischen Debatten Raufereien über mehr oder weniger Umverteilung von Steuern, Gebühren oder Sozialabgaben. Dabei wird übersehen, dass womöglich größere Ungleichheit über (fehlende) Zugangsrechte entstehen – oder abgebaut werden könnte. Eine Gesellschaft, der es um soziale Gerechtigkeit zu tun ist, müsste sich um Zugangsrechte kümmern.

    Freilich: Auch hier wir es nicht gelingen oder erforderlich sein, eine komplett gleiche Welt zu schaffen. Den Zugang zur Welt erhalten wir bekanntlich durch die Geburt. Ob einer einen guten Zugang zur Welt hat oder nicht, liegt jenseits aller Möglichkeiten des demokratischen Diskurses oder politischer Einflussnahme.

    Rainer Hank