Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen28. Dezember 2021
Wollen wir wirklich ewig leben?Wissenschaftlich gibt es keine Altersgrenze
Auf die Frage, wie wir leben wollen, gab Michel de Montaigne die Antwort: »Habe keine Angst vor dem Tod.« Montaigne (1533 bis 1592), der mit Mitte dreißig das Richteramt quittiert und sich auf sein Schloss im Périgord zurückgezogen hatte, wusste, wovon er redet. Zuerst war sein bester Freund Étienne de La Boétie in jungen Jahren der Pest erlegen. Dann starb der Vater, wahrscheinlich an den Komplikationen einer Nierenkolik. Im folgenden Jahr verlor er seinen jüngeren Bruder bei einem Sportunfall. Und dann starben ihm auch vier seiner eigenen Kinder; lediglich eine Tochter erreichte das Erwachsenenalter.
Dass wir »mitten im Leben vom Tod umfangen« sind, wie es in einem von Luther ins Deutsche übertragenen Kirchenlied heißt, war über Jahrhunderte den Menschen Schicksal und Alltagserfahrung zugleich. Montaignes »Memento mori« lautete: »Bedenken wir nichts so oft wie den Tod.« Er mahnte uns, beim Stolpern eines Pferdes, bei einem herabstürzenden Ziegel, beim geringsten Nadelstich sogleich zu fragen: »Wie -, könnte das nicht der Tod persönlich sein?«
Wir müssen uns diese Weisheit der Lebensführung vor Augen führen, um zu erkennen, wie fern uns dies alles inzwischen geworden ist. Das tägliche Bedenken des Todes hat sich gewandelt in tägliche Anstrengungen, möglichst lange zu leben. »Ich fühle mich hochagil«, bekannte die Fernsehansagerin Nina Ruge jüngst anlässlich ihres fünfundsechzigsten Geburtstags: »Das Leben mag ein wenig an meinen Augenlidern zupfen, aber ich bin weder klapprig, noch habe ich irgendein Problem mit dem Alter.« Ihr Ziel, sehr lange zu leben, lässt sich Frau Ruge einiges kosten. Der Nahrungsmittelergänzungs- und Coachingmarkt ist nicht billig. Früh schlafen, gehen, gelegentlich Sex (»macht den Parasympathikus happy«) und – ein Geheimtipp – Olivenpresswasser geben ihrer Hoffnung auf das ewige Leben Nahrung.
»Homo Deus«: Der Mensch wird Gott
Wie anders ist unsere Welt geworden? Für das »ewige Leben« mussten fromme Menschen auch früher viel investieren: Wallfahrten machen, täglich beten, gute Werke tun. Doch da ging es eben um das himmlische und nicht um das irdische Leben, das zwangsläufig mit dem Tod endet. Im Alten Testament wird den »Gerechten« in Aussicht gestellt, dass Gott sie ewig leben lässt. Dass der ewige Gott Mensch wurde, was die Christen an Weihnachten feiern, hat gerade nicht zur Konsequenz, dass der Mensch Gott werden soll. »Zu werden wie Gott«, so lautete die verführerische Verheißung der Schlange im Paradies, der nachzugeben Adam und Eva mit der ewigen Strafe der Sterblichkeit bezahlen mussten.
Aus der Verbannung auf die Erde haben die Menschen das Beste gemacht. »Unser Wunsch nach Gesundheit, Glück und Macht« kenne keine Grenzen, schreibt der israelische Historiker Yuval Harari in seinem Bestseller von 2015, der den Titel »Homo Deus« (»der Mensch als Gott«) trägt. Wissenschaft und Kapitalismus sind Verbündete des Fortschritts, dessen Erfolge mehr und mehr die Ehrfurcht vor dem Numinosen und Transzendenten obsolet werden ließen. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben im Jenseits verlor in dem Maße seine Attraktivität, in welchem das ewige Leben auf Erden realisierbar wurde. Frei nach Heinrich Heines Wintermärchen wollen wir hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.Inzwischen ist die Wissenschaft weit gekommen. Dass Menschen sterben müssen, gilt vielen Forschern heute nicht mehr als unumstößliche Tatsache. Das alt werden verschiebt sich immer weiter nach hinten: In Japan nennt man die 64– bis 75–jährigen »vor-alt«. Als bislang ältester Mensch gilt die Französin Jeanne Calment, die 1997 nach 122 Jahren Lebenszeit gestorben ist. Das muss nicht das Ende sein, sagt die Wissenschaft heute: Warum nicht zweihundert Jahre? Oder noch mehr? Wir wollen nicht nur lange, sondern lange gesund leben. Zwischenzeitlich ist es gelungen, alternde Zellen zurück zu programmieren. Der japanische Arzt und Stammzellenforscher Shinya Yamanaka von der Kyoto Universität hat schon 2012 für seine Forschungen an »pluripotenten Zellen« den Medizin-Nobelpreis gewonnen. Eine pluripotente Zelle ist eine Zelle, die noch nicht entschieden hat, ob sie einmal zu einer Nieren-, Herz- oder Blutzelle werden will. Yamanaka und seinen Nachfolgern behaupten, wenn ich das nicht ganz falsch verstanden habe, dass theoretisch jede gealterte Zelle aus jedem beliebigen Teil eines menschlichen Körpers zu einer pluripotenten Zelle verjüngt werden könne. Wenn sich dieser ewige Jungbrunnen medizinisch etabliert, können wir uns das Olivenpresswasser und die Multivitaminwundertüten sparen. Auf dem Weg zur Ewigkeit ist die Stammzellenindustrie deutlich weniger aufwendig als das Sortiment konventioneller kosmetischer Verjüngungskuren.
Müssen wir alles wollen, was wir können?
Dass die Hoffnung auf das ewige Leben inzwischen wirtschaftlich ein Biotech-Milliardenmarkt geworden ist, verwundert nicht. Jeder kann mit wenig Geld einen ETF auf das ewige Leben kaufen. Doch vor allem die Milliardäre des Silicon Valley haben ihre Finger und ihr Geld im Spiel. Google gründete 2013 Calico, die »California Life Company«, die eng mit Harvard und dem MIT zusammenarbeitet. Auch Jeff Bezos, der Amazon-Gründer, setzt zusammen mit dem russischen Milliardär Juri Milner auf das ewige Leben: »Altos Labs« beruhen auf Erfindungen des deutschen Zwillingspaares Stephan und Markus Horvath. Sie setzen darauf, mit Medikamenten die Alterung des Immunsystems zurückzudrehen. Ihre »epigenetische Uhr« erlaubt es, das biologische Alter umzukehren, um quasi noch einmal neu – und hoffentlich besser – durchzustarten.
Wollen wir das wirklich? Auch wenn wir es bald technisch können? Wenn die Menschen ewig leben, aber die Lust daran verlieren, gäbe es als Ausweg neben Montaignes Dachziegel lediglich den Selbstmord. Was wäre das für ein Leben, dem nicht mehr der natürliche Tod, sondern nur noch der Suizid ein Ende setzt? Ganz abgesehen davon, dass es bald ziemlich voll werden dürfte auf unserem Planeten. Okay, durch die verbesserte Lebenserwartung hat sich etwa die britische Bevölkerung zwischen 1760 und 1830 schon einmal verdoppelt, ohne dass die Welt untergegangen wäre. Wenn allerdings die Silicon-Valley-Milliardäre Erfolg haben, könnte sich die Weltbevölkerung sehr rasch vervierfachen, habe ich kürzlich in der Financial Times gelesen. Dann tut sich auf, was Ökonomen die Malthusianische Falle nennen: Jeglicher Produktivitätsfortschritt würde binnen kurzem im wahrsten Wortsinn von den vielen Methusalems aufgefressen. Ein Horror, oder?
Wir müssen nicht alles wollen, was wir können. Vielleicht dürfen wir auch nicht alles? Die Geschichte des menschlichen Fortschritts zeigt freilich auch: Es wurde meist alles, was geht, auch gemacht. Das Gute und das Böse. BionTech-Impfstoffe und die Atombombe.
Rainer Hank