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  • 06. Oktober 2025
    »Wir schaffen das«

    »Wir schaffen das« Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zehn Jahre danach

    Die Karawane der Kaufleute hatte einen weiten Weg über Gaza und entlang der Mittelmeerküste des Sinai hinter sich, bis sie endlich an die Grenzen Ägyptens kam. Auf ihren Kamelen führten sie nicht nur Gummi, Balsam und Harz mit, wie es im biblischen Buch Genesis heißt. Sondern auch Joseph, einen jungen und ungewöhnlich hübschen Sklaven, den seine Brüder aus Eifersucht windelweich geschlagen und in eine Zisterne geworfen hatten. Aus diesem Elend hatten die Kaufleute den jungen Mann befreit.

    Schon weit vor der ägyptischen Grenzstadt Zel an der Landenge von Suez war die Karawane auf Bastionen und Wachtürme getroffen, mit denen das reiche Ägypten seine Grenzen schützend beaufsichtigte. »Aber die Reisenden wussten wohl, dass mit der Zurücklegung dieser Stationen nur Vorläufigkeit getan war und die kritteligste Prüfung ihrer Unschuld und Ungefährlichkeit für die Sicherung der Gesittung ihnen noch bevorstand: bei der gewaltigen und unausweichlichen Sperre nämlich, der Herrschermauer, die da aufgerichtet war schon von alters.« So liest man es in Thomas Manns großer Nacherzählung der biblischen Geschichte »Joseph in Ägypten«.

    Man muss sich, grob gesagt, das antike Ägypten so vorstellen wie die Vereinigten Staaten vom 18. Jahrhundert an oder Deutschland in der Gegenwart: Als ein Magnet für Migranten aus der ganzen Welt, die aus ökonomischen oder politischen Gründen Sicherheit, Glück und Wohlstand suchten. Entsprechend rigide sind heute und waren damals die Grenzkontrollen. Denn, so heißt es bei Thomas Mann: »Sind wir erst drinnen, so prüft niemand mehr unsere Unschuld, und wir ziehen freihin durch alle Gaue den Strom hinauf, so weit wir wollen.«

    Zurück, ihr Sandhasen

    »Umkehr« riefen die Mauerwachen über dem Außentor, als die Karawane sich nähert: »Zurück ihr Sandhasen ins Elend! Hier ist kein Durchlass.« Der Grenzbeamte will es genau wissen: »Habt ihr zu essen und könnt so oder so für euch aufkommen, dass ihr nicht dem Staate zur Last fallt oder zu stehlen gezwungen seid?«

    Kürzen wir die Erzählung ab, wie es den Ankömmlingen letztlich gelungen ist, ins Land Ägypten eingelassen zu werden. Es ging wie häufig: Man kennt einen, der einen kennt, am besten einen hochgestellten Mann, dessen Name auf die Einwanderungsbehörden Eindruck macht. So kam es dann, was wir aus der Bibel wissen, dass Joseph an Potiphar verkauft wurde, den Obersten der Leibwache des Pharaos, wo er rasch Karriere machte, jedenfalls so lange bis Potiphars Frau sich in den schönen Mann verliebte und, nachdem dieser ihre Avancen nicht erwiderte, ihm, dem Unschuldigen, eine MeToo-Geschichte anhängte, die ihn ins Gefängnis brachte. Daraus wurde Joseph abermals befreit, weil er dem Pharao seinen Traum von den sieben fetten und sieben mageren Jahren als Konjunkturzyklus deutete, den man am besten mit einem keynesianischen Programm finanzpolitisch glätten sollte: Korn sparen in den guten Jahren, staatliche Wohltaten ausweiten in der Krise. Josephs Politik wird zur Blaupause für den »New Deal« des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Eine Karriere wie aus dem Bilderbuch: vom knapp dem Tod entgangenen Sklaven in eines der höchsten Staatsämter, das die antike Welt zu bieten hatte.

    Joseph in Ägypten – eine typische Migrantengeschichte? Natürlich nicht. Sondern eine Ausnahme -, aber alles andere als ein Einzelfall. Wenn es gut geht, wird aus Migration eine Win-Win-Geschichte. Das aufnehmende Land profitiert, die Einwanderer profitieren auch. Immerhin rund 64 Prozent derer, die vor zehn Jahren nach Deutschland kamen und bleiben durften, haben »es geschafft« und eine feste Arbeit gefunden.

    Immer wieder gibt es märchenhafte Aufstiegsgeschichten vom entrechteten Fremden ganz nach oben in Staat oder Wirtschaft. Ein Weg, den diese Migranten mit Glück, Begabung, Bildung und energischem Durchsetzungswillen geschafft haben. Mir fallen auf die Schnelle ein: Madeleine Albright, 1937 als Marie Jana Körbelová in einer jüdischen Familie in der Tschechoslowakei geboren, 1939 mit den Eltern geflüchtet und in den USA bis zur Außenministerin unter dem Demokraten Bill Clinton aufgestiegen. Oder zuvor Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger, Emigranten aus Polen und Deutschland, Strategen des Kalten Kriegs für US-Präsidenten unterschiedlicher Couleur. Nehmen wir noch, um die Branche zu wechseln, Arnold Schwarzenegger dazu: Aus einem Dorf in der Steiermark in die USA eingewandert, zunächst als Bodybuilder erfolgreich, hat er es zum Filmstar und Gouverneur von Kalifornien gebracht.

    Und in Deutschland? Da fällt einem der Grünenpolitiker Cem Özdemir ein, der anatolische Schwabe, dessen Eltern als Gastarbeiter im württembergischen Bad Urach kein Wort deutsch sprachen. Özdemir hat sich hochgearbeitet, wie man so sagt. Wenn er Glück hat, wonach es derzeit nicht aussieht, wird er der erste deutsche Landesvater mit Migrationsbiografie.

    Tamara Ashrafnia und Suad Benkredda zum Beispiel

    Es gibt auch weniger prominente, aber erst recht beispielhafte Einwanderungs- und Aufstiegskarrieren. Ich nehme zwei jungen Frauen, die es in der Finanzwelt weit gebracht haben.

    Tamara Ashrafnia wurde 1989 in Afghanistan geboren. Als die Mudschaheddin an die Macht kamen, flohen die Eltern mit ihren vier Kindern nach Tadschikistan. Als es dort unsicher wurde, zog die Familie weiter nach Moskau. Dann ging es nach Deutschland, über verschiedene Flüchtlingsheime in Schwalbach oder Gelnhausen, nach Frankfurt. Die Mutter arbeitete als Reinigungskraft, der Vater unterhielt einen Kiosk. »Zeitweise schämte ich mich, Flüchtling zu sein und dass meine Mutter putzte«, sagte Ashrafnia kürzlich der FAZ. Sie selbst hat schnell Deutsch gelernt. An der Universität Frankfurt studierte sie Mathematik, arbeitete bei der Fondsgesellschaft DWS und ist inzwischen im Vertrieb des amerikanischen Finanzunternehmens und ETF-Anbieters Blackrock, dem größten Vermögensverwalter der Welt.

    Nicht unähnlich verlief der Aufstieg von Suad Benkredda, 45. Sie hat sich als Tochter einer Reinigungskraft und eines Arbeiters in den Vorstand der DZ-Bank, der zweitgrößten deutschen Bank emporgearbeitet, wo sie das Kapitalmarktgeschäft verantwortet. Ihre Familie hat im Algerienkrieg gegen die Franzosen gekämpft, der Vater war im Widerstand, wurde verletzt und emigrierte über die Türkei nach Deutschland. Sie hat in Deutschland und Frankreich studiert und für Banken in Dubai und London gearbeitet. »Wir wollen offen sein gegenüber allem Neuen.« Das, so hat sie es mir erzählt, war der Leitsatz, den die Eltern den Kindern weitergegeben haben.

    Womit wir wieder beim biblischen Joseph wären – von dem es übrigens auch eine Fassung im Koran gibt. Nennen wir seine Geschichte archetypisch für den Aufstieg aus dem Elend durch Migration. Von vielen, die bei diesem Versuch gescheitert sind, haben wir keine Geschichten.

    Rainer Hank