Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen02. Januar 2025
Wer die Wahl hatNachhilfe kommt ausgerechnet von Wilhelm von Humboldt
In der wirtschaftspolitischen Debatte Deutschlands stehen sich aktuell zwei unterschiedliche Denkrichtungen gegenüber. Auf der einen Seite gibt es die Hoffnung auf eine Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektiv ausgewählte Regulierungen. Auf der anderen Seite wird eine marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch eine umfassende Verbesserung des Ordnungsrahmens gehandelt. Einmal geht es um direkte Wirtschaftseingriffe etwa zur Stärkung einzelner sogenannter Schlüsselindustrien (Auto, Zulieferer, Chip) als Reaktion auf eine geopolitisch veränderte globale Ökonomie. Das andere Mal geht es um die Schaffung optimaler Wettbewerbsbedingungen für alle, nicht nur für ausgewählte Firmen.
So ungefähr steht es auf Seite fünf in Christian Lindners auch nach dessen Rausschmiss aus dem Kabinett sehr lesenswertem Scheidungspapier »Wirtschaftswende Deutschland«. Die Beschreibung der Alternative ist zutreffend; der Bürger hat bei der bevorstehenden Bundestagswahl eine echte Wahl. Solche Klarheit gab es in den Merkel-Jahren nicht. Insofern ist diese Wahl ein Glücksfall, nicht nur, weil es höchste Zeit war, die Ampel abzuschalten.
»Aktive Industriepolitik« gilt als modern, »Ordnungspolitik«, »Angebotspolitik«, »soziale Marktwirtschaft« gelten als altmodisch und den heutigen Gefahren und Herausforderungen (Trump, China, Klima) nicht gewachsen. Besonders klar kommen die Gegensätze in einem Streitgespräch zwischen Robert Habeck (Grüne) und Friedrich Merz (CDU) zum Ausdruck, das die beiden im Juni im Fernsehsalon bei Maybrit Illner geführt haben (lohnt sich in der Mediathek anzusehen). Weil Industriepolitik teuer ist, stört die Schuldenbremse. In den Augen von Grünen und SPD ist sie nichts anderes als ein Dogma der Ewiggestrigen in der FDP (und Teilen der Union). Dass das Verschuldungsverbot vom Grundgesetz vorgeschrieben wird, unterschlagen die »Modernisierer« dabei. »Die Welt hat sich verändert«, wird Habeck nicht müde, Merz entgegenzuschleudern. Der kontert, Grün und Rot wollten den Bürgern (oder ihren Kindern) erst Hunderte von Milliarden Euro aus der Tasche ziehen, um das Geld anschließend nach Gutdünken, also willkürlich, an ausgewählte Subventionsempfänger zu verteilen. »Anmaßendes Wissen« ist der Vorwurf an jene, die ausgewählt wichtige Industrien mit Milliarden unterstützen, selbst wenn diese das Geld gar nicht haben wollen (siehe Intel in Magdeburg).
Was ist die Aufgabe des Staates – und was nicht?
Grün und Rot wollen aktive Industriepolitik; Liberale und Union wollen Angebotspolitik. Die anderen Parteien lassen wir außen vor. Wenn es gut geht, entscheiden die Bürger am 23. Februar zwischen einer konservativ-liberalen und einer rot-grünen Koalition. Im Kern geht es dabei um zwei fundamental unterschiedliche Vorstellungen vom Staat und dessen Verhältnis zu Markt und Gesellschaft. Wieviel Steuerungskompetenz und Bürgerwohltätigkeit soll und kann sich der Staat zutrauen?
In diesen Wahlkampf-Wochen gibt es die Chance, den ein oder anderen Klassiker zu Rate zu ziehen. Kürzlich habe ich Robert Nozicks vor 50 Jahren erschienenes Werk »Anarchie, Staat und Utopie« zur Lektüre empfohlen. Heute bringe ich Wilhelm von Humboldts 1792 erschienene »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen [sic!] der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« in die Debatte. Anders als Nozick schlägt Humboldt nicht der Vorwurf des kalten Neoliberalisten und Turbokapitalisten entgegen. Wilhelm und sein Bruder Alexander sind Nationalheilige, die die deutschen Werte eines neuhumanistischen Bildungsideals verkörpern.
Lange vor der Erfindung des umverteilenden Sozialstaats, aber im Angesicht eines sich am Glück der Untertanen orientierenden aufgeklärten Wohlfahrts- und Fürsorgestaates interessiert Humboldt die Frage, »ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation oder bloß ihre Sicherheit abzwecken soll«. Wenn man so will, standen sich auch damals schon interventionierende Sozialpaternalisten und nüchterne Ordnungspolitiker gegenüber, die die Aufgaben des Staates auf die Garantie der Rahmenbedingungen für Bürger und Unternehmer beschränken wollten.
Humboldt schlägt sich auf die Seite der Ordnungspolitik. Ein Staat, der sich anmaße, in die Wohlfahrt seiner Bürger einzugreifen (selbstredend nur zu deren Bestem), müsse zwingend eine Beschränkung der Freiheit dieser Bürger in Kauf nehmen. Der Schaden, den dieser Eingriff anrichtet, sei allemal gravierender als der mögliche Nutzen staatlich gesteigerten bürgerlichen Glücksempfindens für Unternehmen und Gesellschaft.
Wider die Monopolisierung des Sozialen
Humboldts zentraler Satz lautet: »Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.« Der Preuße hat die fatalen Folgen des immer mehr Geld verteilenden Sozialstaats vorausgesehen. Wer alle Verantwortung für sein Wohlbefinden dem Staat überantwortet, sieht sich selbst »jeder Verbesserung seines Zustands überhoben«. Wo der Staat das Soziale monopolisiert, werden die Menschen untereinander »zu gegenseitiger Hilfsleistung träger«. Mit anderen Worten: Der umverteilende oder mit Schulden finanzierte Staat macht die Menschen weniger solidarisch. Wenn meine Konkurrenten Subventionen bekommen, mein Unternehmen aber nicht, werde ich entweder resignieren oder, was wahrscheinlicher ist, mich ebenfalls in den Wettlauf um Staatsknete einreihen. Letztlich ist jeder irgendwie Teil einer Schlüsselindustrie.
Übersetzen wir Humboldts Sprache des deutschen Idealismus in die Sprache des deutschen Wahlkampfes, dann folgt aus seinem Staatsbuch: Priorität für das Handeln des Staats hat die äußere und innere Sicherheit. Wenn das Trump-Amerika sein Engagement für die Nato zurückfährt und Putin immer aggressiver agiert, muss der deutsche Staat mehr Geld für Waffen ausgeben. Er muss zugleich die Staatsgrenzen gegen unkontrollierte Migration sichern. Fremde sind in einer liberalen Gesellschaft willkommen, sofern sie sich assimilieren (Friedrich Merz nennt das Leitkultur); die Bürger müssen vertrauen, dass sie sich in ihrem Land sicher und frei sich bewegen können, was womöglich höhere Ausgaben für die Polizei nach sich zieht.Wenn Sicherheit teurer wird, kann nicht gleichzeitig auch das Soziale (Bürgergeld, Rente, Pflege) teurer werden. Hier bewährt sich die disziplinierende Wirkung der Schuldenbremse. Es geht nicht um einen Abbau des Sozialstaats, wie die SPD erzählt. Es reicht schon, ihn nicht ständig weiter auszubauen, würde Wilhelm von Humboldt heute konzedieren, großzügig seinen aufgeklärten Radikalismus von damals relativierend.
Rainer Hank