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  • 02. Mai 2022
    Was sind westliche Werte?

    Francis Fukuyama. Oder das Ende der Geschichte. Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es lohnt sich stets, Francis Fukuyama zu lesen

    Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine sei ein Angriff auf den Westen. So hört man es oft. Deshalb gelte es jetzt, die »westlichen Werte« zu verteidigen – mit Hilfe von Wirtschaftssanktionen, wenn es sein muss auch mit Waffen.

    Was sind westliche Werte? »Die Demokratie«, sagen viele. Die Antwort ist mindestens ungenau, man könnte auch sagen, sie ist falsch. Demokratie kennt viele Spielarten; nicht alle passen uns. Demokratie ist nicht mehr als ein Verfahren zur Legitimation einer Regierung durch das Volk. Das Volk kann auch Schurken wählen. Das ist dann nicht schön, aber immer noch Demokratie. Victor Orbán, der ungarische Regierungschef, ist stolz auf seine »illiberale Demokratie«. Liberalismus hasst er, Demokratie mag er: die Stimmen der Wähler stabilisieren seine Macht. Mit demokratischen Mitteln und einem ihn begünstigenden Wahlrecht hat Orbán sich zum Autokraten gewandelt. Seine Fidesz-Partei könnte an diesem Sonntag abermals die absolute Mehrheit im ungarischen Parlament erringen.

    Liberalismus und Demokratie werden oft synonym verwendet. Das ist falsch. Wenn es um die Verteidigung westlicher Werte geht, dann sollte es um liberale Werte gehen. Die sind das Erbe der (west)europäischen Aufklärung. Den Liberalismus würde ich mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ob ich die Demokratie stets verteidigen würde, kommt darauf an. China und Nord-Korea haben beide autokratische Regime, die sich »Volks«-Republiken nennen. Wenn Premierminister Narendra Modi einen hinduistischen Nationalismus in Indien installiert, hat er nicht die Demokratie verraten – aber den Liberalismus. Wenn Polens Regierung unliebsame Richter auswechselt und die staatsunabhängige Presse stumm schaltet, ist das kein Verstoß gegen die Demokratie, aber ein schwerer Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit.

    Liberalismus bezähmt die Mehrheitsdemokratie

    Man kann noch weiter gehen: Liberalismus hält demokratische Regierungen in Schach gegen deren Verführungsanfälligkeit für Populismus und Nationalismus. Gewaltenteilung relativiert die Macht der Exekutive, schützt Minderheiten gegen demokratische Mehrheiten. Für den amerikanischen Politikwissenschaftler und Stanford-Intellektuellen Francis Fukuyama ist »klassischer Liberalismus« ein Instrument, »in pluralistischen Gesellschaften Toleranz friedlich zu managen«. Die zentralen Ideen heißen Freiheit, Toleranz und Respekt vor der persönlichen Autonomie. Diese Werte muss eine Regierung garantieren, die ihrerseits durch das Recht diszipliniert wird und dieses auch respektiert. Der Rechtsstaat sichert das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und freie Märkte: Nichts davon darf eine demokratisch gewählte Regierung über Bord werfen. Liberalismus ohne Marktwirtschaft geht nicht. Demokratie ohne Liberalismus geht. Ob Liberalismus ohne Demokratie geht, ist umstritten.

    Dass der Liberalismus allenthalben auf dem Rückzug ist, lässt sich nicht übersehen. »Freedom House«, ein Thinktank in Washington, subsumiert für das Jahr 2020 nur noch 20,3 Prozent der Regierungen der Welt unter »free« (etwa Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA, Südafrika). 41,3 Prozent sind »not free« (Russland, China, Venezuela); 38,4 Prozent sind »partly free« (Ukraine, Ungarn, Singapur, Indien). Verglichen mit dem Jahr 2005 sind die Veränderungen in Richtung Illiberalität dramatisch: Damals zählten 46 Prozent der Staaten als »frei« und 31,1 Prozent »teilweise frei«.

    Für Francis Fukuyama müssen diese Fakten eine tiefe Kränkung sein. Im Sommer 1989, noch vor dem Mauerfall, wurde er weltberühmt mit einem einzigen Zeitschriftenartikel, der die Überschrift »Das Ende der Geschichte?« trug. Drei Jahre später wurde daraus ein Buch, der Titel blieb stehen – bloß das Fragezeichen war verschwunden. Das war dann doch etwas voreilig, wie wir heute wissen. Fukuyamas damalige These: Totalitäre Systeme, Kommunismus und Faschismus zum Beispiel, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr sei der Weg frei für eine liberale Demokratie, ein irdisches Paradies der Freiheit. Totalitäre Systeme seien zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Ein bisschen naiv war das schon damals – nach dem Motto: Das Gute setzt sich am Ende in der Geschichte durch.

    Wohlfeil ist indessen die Häme, die sich seither über Fukuyama ergossen hat. Nichts ist produktiver als ein Irrtum von Format. Fukuyama arbeitet sich bis heute an seinem Fehlurteil ab. Sein gerade erschienenes neuestes Buch trägt den Titel »Liberalism and its discontents« (»Liberalismus und seine Zumutungen«). Es wurde vor Ausbruch des Ukraine-Krieges abgeschlossen, hat aber an Brisanz noch einmal gewonnen. Die These, salopp gesprochen: Der Liberalismus ist auch nicht mehr das, was er zu seinen besten Zeiten einmal war. Fukuyama äußert den Verdacht, der Liberalismus Mitschuld trage an der schwindenden Zustimmung zu den Werten der Freiheit und dem Siegeszug der Populisten und Autokraten.

    Dogmatische Neoliberale gegen Linksliberale

    Wie das? Einerseits hätten »dogmatische Neoliberale« (Ökonomen wie Gary Becker oder Milton Friedman), für Fukuyama sind das »Rechte«, aus der Idee freier Märkte eine Art absoluter Religion gemacht, Krisen des Kapitalismus nicht verhindert und zugelassen, dass in vielen Ländern (namentlich in USA) die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen unanständig und unerträglich geworden sei. Zugleich sei von den »Linksliberalen« die Idee der Toleranz und freien Rede als Privileg zum Machterhalt weißer Männer ideologiekritisch dekonstruiert worden (»repressive Toleranz«). Aus dem liberalen Auftrag, Ambiguität zu auszuhalten, wurde eine dogmatische Identitätspolitik: Gruppenloyalität unterscheidet zwischen Freund und Feind. Kurzum: Wenn der Liberalismus selbst kein gutes Beispiel mehr gibt, braucht man sich nicht zu wundern, dass Machthaber allerorten sich dem populistischen Nationalismus oder religiösem Fundamentalismus verschreiben.

    Über Fukuyamas Thesen lässt sich streiten. Das macht sie wertvoll. Sie dienen erkennbar auch der Legitimation der Tatsache, dass die Weltgeschichte nicht auf Fukuyamas These gehört hat. Ich bezweifle, dass Putin, Orbán und Erdogan sich zum lupenreinen Liberalismus bekennen würden, wären die Vermögensungleichheit in Amerika geringer und die LGBTQ-Bewegung der westlichen Eliten weniger lautstark. Trotz seiner moralphilosophischen und ökonomischen Überlegenheit war der Liberalismus für seine Gegner immer schon dekadent, wurde der Kapitalismus von ihnen immer schon als plutokratisch verunglimpft.

    Denen, die sich den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen, bleibt wohl nur, künftig noch entschiedener für liberale Toleranz zu streiten – und die Aporie zu ertragen, dass es keine Toleranz denen gegenüber geben darf, die ihre Politik auf Intoleranz, Krieg und Vernichtung gründen.

    Rainer Hank