Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen15. August 2025
Unser Freund, das AtonWarum wir die Kernkraft nicht abschreiben sollten
Der Widerstand gegen die Kernenergie – zu einer Zeit, in der wir sie bitter nötig hätten – ist das größte Paradox unserer Zeit. Das schreibt der britische Nuklearchemiker Tim Gregory in seinem Anfang August erscheinenden Buch »Going Nuclear: Wie die Atomenergie unsere Welt retten wird«.
Mit solchen Büchern kann man die Deutschen auf die Palme bringen. Neue Atomkraftwerke oder die alten noch einmal flott machen? – Keinesfalls, dekretierte Umweltminister Carsten Schneider (SPD) kürzlich, nachdem Katharina Reiche (CDU), seine Kollegin aus dem Wirtschaftsressort, etwas von »Technologieoffenheit« gemurmelt und es gewagt hatte, am Treffen der »Europäischen Nuklearallianz« in Luxemburg teilzunehmen.
Der Zug sei leider abgefahren, sagte Wolfgang Schäuble in einem Gespräch, das ich zwei Jahre vor seinem Tod mit ihm im Berliner Reichstag geführt habe. Schäuble fügte hinzu: »Wir sollten uns zumindest in der künftigen Forschung über neue Nutzungen von Atomstrom nicht vom Rest der Welt abkoppeln. Das ist wie auf der Autobahn: Wenn alle in die andere Richtung fahren, muss man sich schon gut überlegen, ob man selbst richtig liegt.«
Schäuble sollte Recht behalten. Eine Übersicht der geplanten Atomreaktoren vom Juli 2025 zeigt: China 30, Russland 23, Indien 14, Usbekistan 6, Polen 3, Schweden 2, Ungarn 2. Belgien und Italien haben ihren früheren Ausstiegsbeschluss gekippt. Und die Weltbank hat im Juni angekündigt, in Entwicklungsländern erstmals seit Jahrzehnten wieder Atomkraft zu finanzieren – »aus humanitären Gründen«. Außenseiter, in moralischer und politischer Überheblichkeit, bleiben die Schweiz, Österreich und Deutschland. Wir sind Schäubles Geisterfahrer.
Sicherer als die Windenergie
Tim Gregory, der Nuklearchemiker, hält dagegen. Klimafreundliche Atomenergie sei der einzige Weg, wie wir unsere von der Klimakatastrophe bedrohte Welt dekarbonisieren können, ohne dass wir auf wirtschaftliches Wachstum verzichten müssten. Technische Machbarkeit, relative energiepolitische Sicherheit und moralische Verpflichtung gehen Hand in Hand.
Gregory zerpflückt sämtliche Argumente, die die Atomgegner seit Jahren vorbringen. Zum Beispiel die Behauptung, Kernkraft sei eine besonders gefährliche Art der Energieerzeugung. Mit Bezug auf die Plattform »Our World in Data« lässt sich zeigen: Atomkraft ist so ungefährlich wie Solarenergie, sogar ein bisschen sicherer als Windenergie, wenn man sich die »Energie-Toten« je Terrawattstunde zwischen 1990 und 2014 ansieht: Besonders lebensbedrohlich sind Kohle (Grubenunglücke), Öl oder Gas. In Fukushima, der »Atomkatastrophe«, die in Deutschland 2011 zum abrupten Ausstieg (und zum Wahlsieg von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg) führte, gab es nachweislich keine direkt durch ionisierende Strahlung verursachten Todesfälle. Aber es gab mehr als 16.000 Tote und viele Verletzte und Vermisste durch den fürchterlichen Tsunami.
Nichts gegen regenerative Energien. Doch fahrlässig ist es, sich ganz auf sie zu verlassen: Denn Atomkraft ist verlässlich und nachhaltig, Wind und Sonne gibt es mal, mal ist es windstill und tief bewölkt.Und was ist mit der ungeklärten Endlagerung des atomaren Mülls? In Deutschland wird die Suche danach seit Jahrzehnten wie eine heiße Kartoffel von einem zum anderen weitergereicht. Inzwischen hat Finnland gehandelt: In Olkiluoto werden in 500 Metern Tiefe Tunnel ausgehoben, die 60.000 Kubikmeter Atomabfall aufnehmen, hundert Jahre lang befüllt und danach versiegelt werden. Bald bieten sich auch Weltraumlastwagen zur Entsorgung an.
Nüchtern rechnet Tim Gregory vor, dass mit den geschätzt 500 Milliarden Euro, die Deutschland für die »Energiewende« ausgibt, 40 große Atomreaktoren hätten gebaut werden können – ausreichend, um das ganze Land CO2frei zu machen. Stattdessen sind wir hierzulande immer noch auf fossile Energie angewiesen, die viel Kohlendioxyd in die Luft pulvert, allen grünen Deals zum Trotz.
Bleibt schließlich das Argument, es dauere zu lange, neue Meiler zu bauen. Das stimmt, einerseits. Zwischen 1973 und 1999 hat Frankreich 56 Reaktoren gebaut, deren Bau im Schnitt sechs Jahre brauchte. Atomkraftwerke, die nach 2000 errichtet wurden, dauerten durchschnittlich zehn Jahre. Schuld daran ist nicht das Atom, sondern die Überbürokratisierung und das NIMBY-Symptom (»Not in my Backyard«).
Ökonomisch unverantwortlich, moralisch falsch und psychologisch irrational.
Den Anti-AKW-Irrationalismus der Deutschen gab es nicht immer schon. Von den fünfziger bis in die frühen siebziger Jahre herrschte sogar eine Atom-Euphorie. Die »friedliche Nutzung der Kernkraft« galt als sauber, still, unendlich und bestens geeignet, die schmutzige Energie aus Kohle und Öl zu ersetzen. Das Atom werde unsere Ernährung verbessern und uns – Stichwort Nuklearmedizin – gesund machen. »Unser Freund, das Atom«, titelte ein viel beachteter Werbefilm aus dem Jahr 1957. Nur die Industrie war zurückhaltend, denn die hatte gerade viel Geld in die Braunkohle investiert. Der Traum von der friedlichen Atomindustrie sei die »Integrationsideologie der fünfziger Jahre«, schreibt der Historiker Joachim Radkau in seinem Standardwerk über »Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft« aus dem Jahr 1983.
Wann hat sich der Wind gedreht? Mitte der siebziger Jahre, zu einem Zeitpunkt, als mit der Ölkrise auch die fossile Energie unsicher wurde, schlug die Stimmung um. Aus dem Hoffnungsträger wurde ein gewaltiger Angstgegner. Die Anti-AKW-Bewegung, in Bestform mit bis zu 120.000 Kundgebungsteilnehmern, stellte nicht nur alle Demonstrationen der Studentenbewegung in den Schatten, sie steht auch in der Welt einzigartig da. Hierzulande hat sie mindestens zwei Generationen tief geprägt. Angefangen hatte es Mitte der siebziger Jahre mit dem Protest gegen den Bau eines Atomkraftwerks im badischen Wyhl, der von den Kaiserstühler Winzern ausging, die durch die Nebelschwaden aus den Kühltürmen der Meiler Nachteile für ihren Wein befürchteten und vor einem »Ruhrgebiet am Oberrhein« warnten.
Erst später mischten sich unter die lokalen Bauern und Bürger zugereiste »Atomtouristen« (oft konservative Technikkritiker). Da spätestens hatte eine tiefsitzende German Angst vor dem Atom (Atomkrieg, Krebs, Weltuntergang) die Erlösungssehnsüchte durch das Atom verdrängt. Das alles, wohlgemerkt, war lange vor den Störfällen in Harrisburg und Tschernobyl.
Gegen tiefsitzende Ängste ist kein Kraut gewachsen, sagt man. Zumal die Anti-AKW-Bewegung zum Gründungsmythos der grünen Partei gehört. Doch Pfadwechsel sind nicht ausgeschlossen. Immerhin haben die meisten Deutschen, gerade auch viele Grüne, inzwischen ihren Pazifismus revidiert. Vielleicht gelingt das auch mit der irrationalen Abwehr des friedlichen Atoms?
Rainer Hank