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  • 16. Juni 2023
    Steinmeiers Pflichtjahr

    Frank Walter Steinmeier, Bundespräsident Foto Bundesregierung Steffen Kugler

    Dieser Artikel in der FAZ

    Solidarität, zwangsverordnet

    Ein Bundespräsident braucht ein Projekt. An irgendetwas soll man sich später schließlich erinnern können. Besonders gut haben das Walter Scheel und Roman Herzog hinbekommen. Der eine ist als Volksliedsänger in die Geschichte eingegangen (»Hoch auf dem gelben Wagen«), der andere als Volksschüttler (»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«). Weniger einprägsam blieben Joachim Gauck und Christian Wulff: Der eine gab sich als Prophet der Freiheit, die leider etwas blass blieb, der andere als ein Verteidiger der Integration (»Der Islam gehört zu Deutschland«), was dann vom turbulenten Ende seiner Präsidentschaft überwölkt wurde. Schlimmer erging es nur noch Heinrich Lübke. Vieles, was von ihm überliefert ist, darf inzwischen noch nicht einmal mehr wörtlich zitiert werden (»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe [N-Wort]«).

    Frank-Walter Steinmeier ist inzwischen in seiner zweiten Amtszeit angelangt und muss sich ein wenig sputen. Sein Vermächtnis heißt »Soziale Pflichtzeit«. Er wiederholt es bei jeder Gelegenheit, zuletzt in einem Gastbeitrag in der FAZ am 25. Mai. Dabei handelt es sich um ein Plagiat, was aber nicht so schlimm ist: Ursprünglich stammt die Idee von Annegret Kramp-Karrenbauer, die – für alle, die sich nicht mehr erinnern – eine kleine Weile lang CDU-Vorsitzende war.

    Im Vergleich zu der Ideenerfinderin aus dem Saarland ist Steinmeier wesentlich hartnäckiger. Für all jene, an denen der Vorschlag bislang vorbeigegangen ist, hier die Zusammenfassung: Sozialer Pflichtdienst soll ein Dienst genannt werden, bei dem Menschen aus verschiedenen Milieus und Schichten zusammenarbeiten müssen. Damit könne der Zusammenhalt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft gestärkt werden. Die Pflichtzeit soll mindestens sechs Monate, maximal ein Jahr dauern und kann in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden. Es braucht dazu eine Verfassungsänderung, für die der Bundespräsident gute Chancen sieht. Die Zustimmung zu seiner Idee erreiche in der ganzen Gesellschaft 65 Prozent, bei den Jüngeren liege sich bei knapp über 50 Prozent.

    Viele Menschen seien »regelrecht elektrisiert« von seiner Vision, berichtet Steinmeier. Ich gestehe, dass ich nicht zur Gruppe der Elektrisierten zähle, und konzentriere mich auf zwei Einwände: Die Freiheitsberaubung. Und die ungeklärte Nachfrage.

    Wie wird der Mensch tugendhaft?

    Zunächst zur naheliegenden Frage, ob sich die gespaltene Gesellschaft – falls es sie wirklich gibt – mit Zwang kitten lässt. Nüchtern ökonomisch betrachtet wäre die Einführung einer Pflichtzeit nichts anderes als eine Steuererhöhung. Denn bei einem Zwang zu Sozial- oder Militärdienst wird dem Dienstleistenden eine Naturalsteuer auferlegt, indem er dem Staat ohne marktgerechte Gegenleistung seine Zeit zur Verfügung stellt – was im strikten Sinn die Definition einer Steuer erfüllt. Jede Steuer ist ein Eingriff in die Freiheit der Bürger: Die Einkommensteuer konfisziert (legal) Teile des Eigentums, die Naturalsteuer würde mindestens ein halbes Jahr lang den Menschen die Freiheit nehmen, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Zum Beispiel sich ehrenamtlich zu betätigen, ein Engagement, das hierzulande kontinuierlich zunimmt (jedenfalls bis zur Pandemie). Dabei ist die Naturalsteuer eine deutlich größere Freiheitsberaubung als Mehrwert- oder Einkommensteuer, vergleichbar dem Verhältnis von Geld- und Gefängnisstrafe.

    Kann man Solidarität zwangsverordnen? Der Präsident kenn diesen Einwand natürlich. Er kontert ihn mit der steilen Behauptung: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.« Als Pflicht spreche der demokratische Staat alle Bürger als gleiche an und versichere ihnen, gebraucht zu werden für »eine gerechtere, eine menschliche und nachhaltige Gesellschaft«. Damit zitiert Steinmeier (womöglich unbewusst) eine zutiefst deutsche Tradition des Gegensatzes von Pflicht und Neigung, die auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller zurückgeht. In dieser Tradition verfällt die Neigung dem Verdacht moralischer Berechnung, – als ethisch wertvoll gilt ausschließlich die Pflicht.

    Im bei J.G. Cotta erscheinenden Musenalmanach für das Jahr 1797 unterstellt Schiller einem fiktiven Zeitgenossen, er diene zwar seinen Freunden, »doch thu ich es leider mit Neigung: Und so wurmt es mir (sic!) oft, dass ich nicht tugendhaft bin«. Es genügt also nicht, gelegentlich moralisch zu handeln oder ausschließlich dort, wo es aus Berechnung oder angesichts von Freunden leichtfällt, wie der Tübinger Philosoph Ottfried Höffe seinen Schiller paraphrasiert. Tugendhaft, also moralisch gut, darf sich erst nennen, wer auch in schwieriger Lage den moralischen Geboten folgt. Und das geht nur mit Pflicht: »Da ist kein anderer Rath, du musst suchen, sie (sc. die Neigung) zu verachten,/ Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.«

    Der Unterschied zwischen Steinmeier und Schiller liegt nicht nur in der schöneren Sprache des Dichters, sondern auch darin, dass Schiller die Pflicht als rein moralisches Gebot versteht. Dem scheint Steinmeier nicht zu trauen, weshalb er aus der moralischen Pflicht eine staatliche Zwangsverpflichtung machen will, deren Redlichkeit nun wiederum Schiller nicht trauen würde, weil der äußere Zwang die innere Motivation verschmutzt. Wer weiß dann noch, ob der Bürger sich wirklich für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft verpflichtet, oder lediglich tut, was das Machtmonopol des Staates gebeut.

    Doch wozu gebeut nun eigentlich Steinmeiers Pflicht? Oder ökonomisch gewendet: Auf welche Nachfrage soll das soziale Angebot treffen? Da wird unser Philosophenpräsident merkwürdig schmallippig. Gated Communities sollen überwunden werden, Brücken gebaut, getrennte Lebenswelten verbunden werden. Was heißt das konkret? Schickt das Präsidialamt einen Pflichttrupp nach Dresden in eine AfD-Mitgliederversammlung? Oder zu den linksextremen Terroristen. Wird eine Abordnung nach Oberbayern zum ortsnahen Aufstellen von Windrädern verdonnert? Oder zu einer Diskussionsveranstaltung mit Islamisten oder Klimaklebern? Oder sollen Rechts-Identitäre mit Links-Nonbinären gemeinsam zur Altenbetreuung geschickt werden? Ich karikiere, ich weiß. Aber man hätte es eben schon gerne konkret gewusst, wo die Nachfrage nach Brückenbauern herkommt.

    Integration durch Konflikt, nicht durch Abschmelzung von Konflikten, das war laut Ralf Dahrendorf das liberale Erfolgsgeheimnis der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dieser Prozess läuft über die wechselseitige Anerkennung von Haltungen, Argumente oder Prägungen von Andersdenkenden und Anderslebenden. Eine Einübung darin vermittelt, wenn es gut geht, Bildung (Eltern, Schule, Vorbilder, Mentoren) – jedenfalls besser und nachhaltiger als eine soziale Zwangsverpflichtung.

    Rainer Hank