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  • 31. Juli 2025
    Schrumpft die Rente

    Alt und fröhlich Foto Arek Socha/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Alten müssen ihre Privilegien aufgeben

    Der 22. Januar 1957 war gerade angebrochen, als der Deutsche Bundestag nach einer fünfzehntstündigen Mammutsitzung mit überwältigender Mehrheit eine tiefgreifende Reform der seit 1889 bestehenden gesetzlichen Rentenversicherung beschloss. Rentenexperte Winfried Schmähl spricht von einer »Jahrhundertreform«. Beschlossen wurde, die Renten zu »dynamisieren«, mithin sie im Einklang mit steigenden Löhnen und Gehältern anzuheben. Zudem wurde eine Abkehr von der seit Bismarck geltenden, auf vorheriger Kapitalansammlung beruhender gesetzlichen Rente und der Übergang zum sogenannten Umlageverfahren beschlossen. Was die Jungen »einzahlen«, kommt seither direkt bei den Alten an.

    Beides war revolutionär: Die arbeitende Bevölkerung wurde zu einer »dynamischen« Alimentierung der Alten verpflichtet: Die Jungen waren gezwungen, ihre sich in Tariferhöhungen niederschlagende Arbeitsproduktivität mit den Alten zu teilen. Es handelte sich um die Zumutung einer Solidarität, die alles andere als selbstverständlich ist. Künftig würden auch die Rentner am materiellen Aufstieg der Arbeitnehmer partizipieren, so Bundeskanzler Konrad Adenauer.

    Verabschiedet wurde die Reform mit den Stimmen aller Abgeordneten von CDU/CSU, SPD und der Freien Volkspartei (FVP), die sich von der FDP abgespalten hatte, während die ebenfalls der Regierungskoalition angehörende FDP die Reform geschlossen ablehnte. Die Dynamisierung der Rente war außerordentlich populär, wurde der Union zugeschrieben und verschaffte ihr bei den folgenden Bundestagswahlen im September 1957 zum ersten und einzigen Mal in der Nachkriegsgeschichte mit 50,7 Prozent eine absolute Mehrheit. Zum Vergleich: Bei den Wahlen im Februar 2025 kam die Union auf 28,5 Prozent. Den Wahlkampf 1957 hatte die Union unter dem Slogan »Keine Experimente« geführt – und ihn paradoxerweise gewonnen wegen des gerade eingeführten größten sozialpolitischen Experiments der Nachkriegsgeschichte. Wesentliche Vorarbeiten zur Reform stammen aus Kreisen der katholischen Soziallehre, namentlich von dem späteren Kölner Kardinal Joseph Höffner und dem Frankfurter Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning.

    Doch es hatte auch massive Widerstände gegen die Reform gegeben, neben der FDP unter anderem von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Finanzminister Fritz Schäffer, aber auch von einem großen Teil der Ökonomen und der deutschen Bundesbank. Man befürchtete durch das Umlageverfahren »ein Erlahmen der privaten Ersparnisbildung durch das kollektive Zwangssparen«, was – so die Zentralbank – »einen unentbehrlichen Pfeiler der freiheitlichen Wirtschaft zum Einsturz« bringen würde. Zugleich warnte die Bundesbank, der Automatismus der lohnbezogenen Dynamisierung würde angesichts einer zu erwartenden Überalterung der deutschen Bevölkerung irgendwann einmal nicht mehr finanzierbar sein.

    Abschied von der lohnbezogenen Rente

    Die damaligen Kritiker sollten Recht behalten. Die heutige Krise der Alterssicherung ist eine Spätfolge der Jahrhundertreform von 1957. Denn diese Reform beruhte auf mindestens drei im Lauf der Zeit versickernden Voraussetzungen: Es braucht viele Junge, die wenige Alte versorgen. Die Lebenserwartung war verglichen mit heute deutlich niedriger. Und das Wirtschaftswunder mit Wachstumsraten von durchschnittlich acht Prozent und Vollbeschäftigung erleichterte eine Umverteilung der Produktivitätsgewinne von Jung nach Alt.

    Jetzt ist alles anders: In den 50er Jahren lagen die Beitragssätze zur Rentenversicherung bei 14 Prozent. Nach dem von Schwarz-Rot gerade zementierten geltenden Recht müssen diese in den kommenden Jahren von derzeit 18,6 Prozent auf über 20 Prozent bis 2030, auf 22 Prozent bis 2045 und auf 24 Prozent bis 2060 anwachsen. Schon 2050 würde jeder zweite Euro des Arbeitseinkommens für die Sozialversicherung aufgewendet werden  – sofern nichts passiert.

    Viele der Probleme liegen daran, dass sich die Altersstruktur unserer Gesellschaft dramatisch geändert hat: Auf die jetzt in Rente gehenden Boomer folgte seit den 70er Jahren der Pillenknick und ein bis heute anhaltender Rückgang der Geburtenrate. Keine Beschwörungs- oder Verdrängungsformel der Politik, wird diese neuen Bedingungen ändern können.

    Nötig ist eine Radikalreform der Rente. Dazu zählen: Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gemäß der verlängerten Lebenserwartung. Eine Verpflichtung zum Sparen (Kapitaldeckung), weil das Umlageverfahren an seine Grenzen angelangt ist. Und: Ein Abschied von der Dynamik der lohnbezogenen Rente. Das ist den Boomern zuzumuten; die hatten im Schnitt ihr Leben lang ein gutes Einkommen und konnten sparen.

    Wachstum mit der Inflation

    Man muss es nicht gleich mit der Kettensäge machen und die gesamte Dynamisierung abschaffen. Ein guter Vorschlag besteht darin, die Renten künftig nicht mit der Lohn-, sondern lediglich mit der Inflation wachsen zu lassen – unter der Voraussetzung, dass in der Regel die Löhne stärker ansteigen als die Teuerung, mithin die Reallöhne positiv sind. Dies hätte zur Folge, dass das Einstiegsniveau bei Rentenbeginn zwar hoch bleibt, mit wachsendem Lebensalter aber sinkt. Zugleich bliebe die Kaufkraft der Rente erhalten, sie steigen nur nicht im selben Maß wie die Arbeitseinkommen. Eine Beispielrechnung der ökonomischen Berater des Wirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2021 geht so: Wer im Jahr 2035 mit 67 Jahren in Rente geht, hätte 2043 im Alter von dann 85 Jahren ein Rentenniveau von nur noch 38 Prozent, also deutlich weniger als das heute – illusorisch – garantierte Niveau von 48 Prozent. Das Rentenniveau ist die Relation zwischen 45 Jahren Beitragszahlung auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens und dem durchschnittlichen Einkommen eines Arbeitsnehmers. Der Inflationsbezug setzt somit zusätzlich Anreize, länger zu arbeiten, um den schrumpfenden Rentenanstieg zu verzögern.

    Ein Allheilmittel ist die Inflationsindexierung nicht. Sie kommt in Bredouille, sobald die Inflation höher ausfällt als die nominalen Löhne. So war es in den vergangenen Jahren. Umgekehrt könnte der Index selbst einen Inflationsschub befördern, was der Ökonom Wilhelm Röpke schon 1956 befürchtete: Aus der »Gleitrente« werde in die »Inflationsmaschine ein Kompressor« eingebaut.

    Es ist gut, dass der deutsche Sachverständigenrat unter Federführung des Bochumer Ökonomen Martin Werding eine Kombination mehrerer Reformelemente vorschlägt. Die Gesellschaft ist eine solche Veränderung den nachwachsenden Generationen schuldig. Die Rentner könnten die nötigen Reformen der Dynamisierung von 1957 mit ihrer immer stärker werdenden Vetomacht verhindern. Aus Angst vor dieser Macht versucht die Merz-Regierung den Reformbedarf zu leugnen. So weiterzumachen wie bisher wäre ein abermaliger Vertrauensbruch und eine Bankrotterklärung des Versprechens der Generationengerechtigkeit.

    Rainer Hank