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  • 09. August 2025
    Schlank werden

    Gewichtskontrolle Foto unsplashed

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum sich Kosten-Nutzen-Erwägungen lohnen

    Es ist schon eine Weile her, dass mir eine Bekannte beim Lunch stolz vorrechnete, wie wenig Weight Watcher-Points sie dieses Mittagessen koste. Das mache sie glücklich, weil sie schon eine große Punkte-Portion ihres Budgets an diesem Tag verbraucht habe. Und es war erst Mittagszeit.

    Ich hatte damals nur Bahnhof verstanden, aber auch keine Lust, mir diesen Punkte-Kauderwelsch erklären zu lassen. Nachdem es in den vergangenen Wochen immer wieder Meldungen gab, Weight Watcher müssten Insolvenz anmelden, fing ich an, mich für die Gründe zu interessieren. Und dazu könnte es hilfreich sein, das Point-System zu verstehen.

    Für Leser, die – wie man früher sagte – kein Figur-Problem haben, hier eine kurze Nachhilfe: Die Weight Watchers (deutsch vielleicht: Gewichtskontrolleure) wurden 1963 im amerikanischen Bundesstaat New York von der Hausfrau Jean Nidetch gegründet und sind mittlerweile in rund 30 Ländern vertreten. 1970 führten Irmgard und Walter Mayer das erste deutsche Weight Watchers-Treffen in ihrer Düsseldorfer Wohnung durch. 2012 waren es über 300.000 Teilnehmer deutschlandweit. Großes Glück hatte die Gemeinde, als im Jahr 2015 die Star-Moderatorin Oprah Winfrey über 40 Millionen in das Unternehmen investiert hatte, was den Aktienkurs in ungeahnte Höhen trieb. Zumindest eine Zeitlang.

    Das Konzept basiert auf zwei Prinzipien. Es gibt wöchentliche Gruppentreffen der Abnehmwilligen, eine Art Tupper-Party, bei denen Erfahrungen ausgetauscht, über gesunde Ernährung informiert und die jeweiligen Erfolge auf der Waage (!) überprüft werden. Die Gruppenleiterinnen haben ebenfalls mit Weight Watchers abgenommen und ihr Wunschgewicht erreicht. Die Hoffnung ist, dass der Gruppendruck disziplinierend wirkt und die Leiterinnen eine Vorbildfunktion haben mit entsprechender Glaubwürdigkeit: Man sieht ihnen sozusagen die Wirksamkeit der Methode an. Jedenfalls in der Theorie.

    Ökonomisierung des Essverhaltens

    Jetzt kommen die WW-Points ins Spiel. Die funktionieren so: Jedes Lebensmittel hat eine Punktzahl. WW-Mitglieder bekommen täglich ein persönliches Punktebudget zugewiesen – abhängig von Gewicht, Größe, Alter, Geschlecht, Aktivität und Abnehmziel. Zusätzlich gibt’s ein Wochenextra für kleine Lustevents (Restaurantbesuche, besondere Anlässe). Gesättigte Fette oder Zucker erhöhen die Points; Ballaststoffe und Eiweiß senken sie. Gemüse und Obst haben 0 Points. Das signalisiert: Du kannst Dich satt essen, ohne Dein Budget zu belasten. Hört sich alles ziemlich kompliziert an, ist es auch, wird aber im Zeitalter der Digitalisierung durch eine App überwacht.

    Man kann WW als die perfekte Ökonomisierung des Essverhaltens beschreiben. Ökonomisierung ist für mich, anders als für viele Zeitgenossen, nichts Negatives. Es beschreibt die utilitaristische Basisfrage, die wir Menschen an alles, was wir so treiben, anlegen: »Was kostet’s, was bringt’s?« Es gibt nie einen absoluten Nutzen, stets ist der Nutzen abhängig von den Kosten, die uns die Wahl abverlangt, also dem Preis. Kosten-Nutzenabwägungen treffen wir nicht nur beim Kauf von Kartoffeln oder einer neuen Immobilie, sondern auch bei der Partnerwahl oder eine Spende für die Caritas. All jene, die sagen, bei der Liebe oder der Barmherzigkeit dürfe die schnöde Ökonomie keine Rolle spielen, wollen meist nur nicht wahrhaben, dass sie unbewusst den subjektiven Wert einer Lebensentscheidung wägen und fragen, welchen Preis sie dafür entrichten müssen. Kosten rechnen sich nicht nur monetär in Geld, können auch in Zeit oder emotionaler Energie entrichtet werden.

    Zurück zu unseren Weight Watchern. Das Point-System rationalisiert und quantifiziert unser Essverhalten. Es verhindert, dass wir uns durch den Tag futtern und beim Mittagessen schon verdrängt haben, dass es zum Frühstück zwei Spiegeleier mit Speck gab. Natürlich darf jeder Eier mit Speck frühstücken – bloß nicht, wenn er abnehmen will.
    Wenn das alles so genial ist, warum stehen die Weight Watcher dann heute am Abgrund? Das Insolvenzverfahren läuft, die Aktie ist auf Pennystock-Niveau, Oprah Winfrey ist längst ausgestiegen. Die Antwort heißt: Abnehmen geht neuerdings zu (vermeintlich) geringeren Kosten, nämlich mit der Abnehmspritze. Während die Weight Watcher bei konsequenter (!) Nutzung und Einhaltung des WW-Budgets nach einigen Monaten einen Gewichtsverlust von fünf bis zehn Prozent zuwege bringen, leisten die neuen Wunderspritzen im selben Zeitraum Abnehmerfolge von 15 Prozent (Ozempic) bis sogar 20 Prozent (Tirzepatid). Freilich ist die Angelegenheit auch erheblich teurer: Die Spritze kostet 300 Euro im Monat, als Premium-Mitglied bei den Weight Watcher werden monatlich knapp 35 Euro fällig. Warum steigen dann so viele adipöse Menschen auf die Spritze um? Vermutlich deshalb, weil das Medikament scheinbar von alleine wirkt, keine Verhaltensänderung und kompliziertes oder frustrierendes Punkte-Zählen kostet. Ozempic verlangt im wahrsten Sinne weniger. Ob später Kosten für Nebenwirkungen dazu kommen, wissen wir noch nicht. Dazu sind die Medikamente zu neu und nicht langfristig erprobt. Rückfällig werden kann man jedenfalls bei beiden Methoden, wenn man das Verfahren absetzt.

    Ozempic oder Weight Watcher?

    In der britischen »Time« berichtet eine Betroffene von ihrer Zeit bei Weight Watchers vor 18 Jahren, als sie nach der Geburt ihres Kindes Gewicht verlieren wollte. Sie beschreibt die wöchentlichen Treffen als erfolgreiche Erfahrung. Nach einem Jahr hatte sie knapp 20 Kilo abgenommen, doch im Laufe der Zeit nahm sie wieder zu. Im vergangenen Jahr wechselte sie zur Abnehmspritze und verlor in nur acht Monaten 22 Kilo. Sie schreibt, dass diese Methode einfacher sei als Punktezählung und wöchentliche Treffen. Die Spritze nehme einfach das Hungergefühl, was deutlich bequemer sei, als ständig die Ernährung zu kontrollieren. Ganz abgesehen von der Demütigung, im Kreis der Weight Watcher sich wiegen zu lassen – und womöglich versagt zu haben. Es könnte sein, dass die Weight Watcher sich überlebt haben.

    Werden die Dicken demnächst von der Bildfläche verschwinden, weil alle sich die Spritze geben? Wohl kaum. Schon deshalb nicht, weil nicht jedermann sich die 300 Euro monatlich für Ocempic & Co. leisten kann und die Kassen nur die Kosten der wirklich Schwerkranken übernehmen. Aber noch genereller: Allem Körperkult und allem Schlankheitsideal zum Trotz nimmt die Zahl der Dicken weiter zu. Schätzungen der World Obesity Federation zufolge wächst der Anteil der Übergewichtigen an der Weltbevölkerung im Jahr 2030 auf über fünfzig Prozent; bei den Kindern werden es mehr als 30 Prozent sein. Heute sind es 46 Prozent der Erwachsenen und 28 Prozent der Kinder. So viel Ernüchterung zum Kostennutzenkalkül der Fastengemeinde muss sein.

    Rainer Hank