Rainer Hank als Illustration

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  • 02. August 2025
    Lokomotive des Fortschritts

    Locomotion No, 1 Modell. Foto Hornby

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was wären aus uns geworden ohne die Eisenbahn!

    Welches ist die bedeutendste Erfindung der Menschheit? Viele würden sagen: Das Rad. Andere könnten auf die Erfindung des Feuers oder der Schrift verweisen. Da gibt es wohl kein objektives Kriterium. Ich will heute die Eisenbahn als Kandidatin ins Gespräch bringen, die natürlich das Rad voraussetzt. Das hängt damit zusammen, dass es für mich als Kind nichts Tolleres gab als meine Märklin-Eisenbahn, viel toller als die Matchbox-Autos.

    Mein Vorschlag hängt damit zusammen, dass demnächst ein Jubiläum ansteht: Am 27. September 1825 fuhr die erste Dampflokomotive samt 36 angehängten Waggons die 40 Kilometer lange Schienenstrecke von Stockton in Nordostengland nach Port Darlington. Die Lok trug den sinnigen Namen »Locomotion No.1«; ihr Erfinder war der britische Ingenieur George Stephenson (1781 bis 1848). Es sollte zehn Jahre dauern, bis in Deutschland am 7. Dezember 1835 die »Adler« von Nürnberg nach Fürth fuhr.

    Genial war die Erfindung der Eisenbahn in mehrfacher Hinsicht. Es war eine technische Innovation, die weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen zur Beschleunigung der industriellen Revolution und also auf den heutigen Wohlstand der Menschheit hatte. Die Schiene war zugleich der erste Großversuch einer sogenannten Netzökonomie; so funktioniert unter anderem auch unser heutiges Internet. Schließlich ist die Erfindung der Eisenbahn ein gutes Beispiel dafür, dass der Fortschritt (genauso wie der Rückschritt) von den Zeitgenossen in aller Regel nicht erkannt oder gar ablehnend aufgenommen wird – seine segensreiche Wirkung erst den Nachkommen klar wird. Darum vor allem soll es hier gehen.

    Dampfloks waren nicht neu

    Schienen, auf denen Wägen von Menschen oder Pferden gezogen wurden, gab es schon vor 1825. Dampfloks gab es ebenfalls vorher schon: doch waren die Schienen noch aus Holz oder aus Gusseisen; beides taugte wenig. Erst die Verwendung von Schmiedeeisen und später dann von gewalztem Stahl machte den Schienenverkehr nachhaltig und dauerhaft erschwinglich. Das Pferd – über Jahrhunderte das natürliche Transportmittel – war langsamer als die Lokomotive und zu teuer. Erfunden wurde die Eisenbahn als Transportmittel für Güter; doch als unbeabsichtigte Nebenwirkung kamen auch die Menschen auf den Geschmack am Reisen. Für die 400 Kilometer lange Strecke von London nach Newcastle brauchte das Pferd damals drei Tage, der Zug einen Tag, konnte aber vielfach größere Lasten nebst Personen befördern. Heute nimmt der Zug diese Stecke in zweieinhalb Stunden.

    Gleichwohl gab es größte Widerstände gegen die Dampflokomotive. Auf der Strecke Liverpool-Manchester wollte man zunächst ganz auf Lokomotiven verzichten, weil diese nicht in der Lage seien, Steigungen zu überwinden. Stattdessen sollte die Strecke mit ortsfesten Dampfmaschinen und mit Pferden betrieben werden. George Stephenson hatte die kühne Idee, einen Wettbewerb zu veranstalten, um die Überlegenheit der Dampflok zu beweisen. Stephenson setzte zugleich selbst die Spielregeln etwa hinsichtlich der Mindestgeschwindigkeit (16 km/h) fest, was seiner eigenen zusammen mit seinem Sohn Robert entwickelten Lok mit Namen »The Rocket« (Rakete) einen Vorteil im Wettbewerb verschaffte.

    Dieses berühmte »Rennen von Rainhill« (»Rainhill Trials«) zog sich vom 6. bis zum 14. Oktober 1829. Die »Rocket« konnte als einzige der Kandidaten die Teststrecke bewältigen und die Stephensons erhielten den Zuschlag, für die Linie Liverpool-Manchester acht Lokomotiven zu bauen. Aufgrund dieses Erfolgs bauten sie sechs Jahre später auch den »Adler« für Deutschland. Erfinder- und Unternehmergeist des Familienunternehmens zahlten sich für die Pioniere aus: Vater und Sohn Stephenson wurden die ersten Millionäre des industriellen Zeitalters, arme Leute indes im Vergleich mit späteren Eisenbahn-Tycoons wie George Hudson (»The Railway King«) in England oder Cornelius Vanderbilt in USA.
    Dass sich die Verlierer des technischen Fortschritts mit Händen und Füßen gegen die Eisenbahn wehrten, ist verständlich. Zu ihnen zählten neben den Kanalschiffern oder den Fuhrleuten die Betreiber der sogenannten Turnpikes. Das waren privat finanzierte und gegen Gebühren zu nutzende Straßen. Zu ihnen zählten auch Grundbesitzer, deren Begüterungen von den Schienen durchschnitten wurden. Letztere ließen sich mit guten Verkaufspreisen überzeugen, erstere konnten im Wettbewerb nicht mithalten, weil die Schiene der Straße zur Bewegung schwerer Lasten überlegen war.

    Geschwindigkeitsschock

    In Wolfgangs Schivelbuschs »Geschichte der Eisenbahnreise« von 1977 kann man nachlesen, wie die Eisenbahn nicht nur einen technischen Fortschritt, sondern zugleich einen kulturellen Bruch bedeutete. Die Geschwindigkeit – lächerlich im Vergleich mit einem heutigen ICE oder TGV – bereite Schwindel und verursache unkontrollierbare sexuelle, hieß es: Schäden für das menschliche Nervensystem wurden befürchtet. Sozial bedrohlich und moralisch bedenklich sei auch, dass Menschen unterschiedlicher Klassen und unterschiedlichen Geschlechts in ein und demselben Abteil beisammensäßen. Anfangs freilich mussten die Passagiere der dritten Klasse in England mit Plätzen auf dem Dach der Waggons Wind und Wetter in Kauf nehmen.

    Zu allem Überfluss kam dann noch eine Spekulationskrise in den vierziger Jahren. Wie anderswo, war auch in Großbritannien die öffentliche Hand bis zum späten 19. Jahrhundert viel zu finanzschwach, um teure Infrastrukturprojekte voranzutreiben. Die frühen Eisenbahnen wurden privat finanziert und privat betrieben. Teilweise waren parallele Strecken miteinander im Wettbewerb, was sich auf Dauer als keine so gute Idee erwies. Viele Kleinanleger hatten erstmals an der Börse investiert, häufig ihr ganzes Erspartes, womöglich Aktien auch noch auf Kredit gekauft. Als sich dann viele Strecken als unrentabel erwiesen oder gar nicht gebaut wurden, platzte die Blase. Erst nach 1870 wurden Eisenbahnstrecken verstaatlicht, getragen von der Einsicht, dass Schienennetze »natürliche Monopole« sind, die reguliert gehörten. Der Regulierer darf dann Slots für miteinander im Wettbewerbs stehende Betreiber vergeben.

    Lässt man diese lange Geschichte kurz Revue passieren, so erscheint es am Ende als ein Wunder, dass sich die Eisenbahn überhaupt gegen all diese massiven Widerstände durchgesetzt hat. Als Zeitgenosse hätte man vermutlich nicht darauf gewettet. Als Nachgeborener ist man froh, dass Unternehmer und Ingenieure wie die Stephensons für den Fortschritt gekämpft haben. Wer den Beginn dieser Revolution in Großbritannien mitfeiern will, kann sich auf »sdr200.co.uk« über die Fülle der geplanten Veranstaltungen informieren. Zur Einstimmung empfiehlt sich die Folge über George und Robert Stephenson der berühmten Podcastserie »In our time« auf BBCRadio4.

    Rainer Hank