Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen21. Februar 2025
Lasst Minderheiten regieren…denn das stärkt die Demokratie in Zeiten der Polarisierung
Minderheitsregierungen haben hierzulande einen schlechten Ruf. Sie gelten als Indiz einer Krise der Demokratie. Dahinter steckt ein autoritäres Bedürfnis, das, sind wir ehrlich, in uns allen steckt: Es soll einen/eine geben, die weiß, der die Bürger vertrauen (»Sie kennen mich!«), der wie der Vater in der Familie in kritischen Situationen ein Machtwort spricht (»Basta!«), Führung liefert, wenn sie bestellt wird, und bereit ist, mit Richtlinienkompetenz durchzuregieren. Alles natürlich zum Besten des Volkes. Dieses autoritäre Bedürfnis wird nur befriedigt, wenn eine Regierungspartei die absolute Mehrheit im Parlament hat oder sich diese mithilfe von Koalitionspartnern verschafft. Im Idealfall macht das Kabinett dann einen Gesetzesvorschlag, den ihre Fraktionen im Parlament gehorsamst durchzuwinken haben.
Selbst wenn dieses autoritär-demokratische Regierungsmodell erstrebenswert wäre – die Verhältnisse sind schon lange nicht mehr danach. Dass eine Mehrheitskoalition stabil und kompromissfähig wäre, diesen Wunsch hat die Ampel geduldig als Illusion zerstört. Hinzu kommt: In einer Welt mit zwei großen und einer kleinen Partei – so war die alte Bundesrepublik – lassen sich gut Mehrheiten finden. In den am kommenden Sonntag zu wählenden 21. Deutschen Bundestag könnten womöglich sieben Parteien einziehen, deren jeweilige ideologische Ausrichtung gar nicht so eindeutig zu erkennen ist. Spieltheoretisch ist das ganz schön unübersichtlich.
So wie es aussieht, käme eine von der Union geführte Mehrheitskoalition nur zustande unter tatkräftiger Beteiligung des Personals jener Ampelparteien, die gerade krachend gescheitert sind. Ob das dem Wählerwillen entspräche, bezweifle ich. Insofern waren im Fernsehduell zwischen Friedrich Merz und Olaf Scholz gerade jene Passagen irritierend, in denen die beiden einander und dem faulen Kompromiss naherückten. Wenn andererseits die Protagonisten ständig beteuern, dass sie im Grund mit keiner anderen Partei koalierten könnten, sollen wir sie beim Wort nehmen.
Inhalte first
»Bleiben die Dinge, wie sie sind, wird die Entwicklung zwangsläufig auf Minderheitsregierungen zulaufen«, prognostiziert der Rechtswissenschaftler Florian Meinel in einem Buch mit dem Titel »Vertrauensfrage« (2019). Der Historiker Andreas Rödder, CDU-Mitglied, hat seiner Partei schon 2023 empfohlen, es mit einer Minderheitsregierung zu versuchen: »Parlamentarismus heißt, die Inhalte an erste Stelle zu setzen.« Weil Minderheitsregierungen zwangsläufig im Parlament wechselnde Mehrheiten suchen müssen, impliziert dies freilich eine Relativierung der sogenannten Brandmauer zur AfD. Diesen Gedanken nur zu hauchen, hat Rödder damals den Vorsitz der CDU-Grundwertekommission gekostet. Inzwischen ist es genau so gekommen: Seit November 2024 wird das Land von einer Minderheitskoalition regiert. Und die Opposition setzt Entschließungsanträge mit Unterstützung der AfD durch. Ob das böse (»Tor zur Hölle«) oder gut (»all in«) ist, ist noch nicht entschieden.
Minderheitsregierungen kommen in Deutschland auf zweierlei Weise zustande. Zum einen kann eine mehrheitsbildende Partei aus der Regierung ausscheiden. So ist es derzeit. So war es auch nach dem Rückzug der FDP aus den Koalitionen mit der CDU 1966 und mit der SPD 1982. Diese Minderheiten regierten immer nur kurze Zeit und verstärkten den Eindruck, so etwas sei eine Art politischer Unfall in kurzen Übergangszeiten.
Doch es gibt auch einen verfassungsmäßigen Weg nach Artikel 63, Absatz 1 GG. Findet sich bei der Wahl zum Bundeskanzler keine Mehrheit des Parlaments für einen vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten, reicht eine einfache Mehrheit – zum Beispiel alle Stimmen der größten Fraktion -, um zum Kanzler gewählt zu werden. Dann hat der Bundespräsident die Wähl, das Parlament aufzulösen oder den Gewählten zum Kanzler zu ernennen.
»Die Minderheitsregierung ist ein Scheinriese«, sagt die Verfassungsjuristin Lea Bosch. Es gehe von ihr keine Gefahr für das parlamentarische Regierungssystem aus. Im Gegenteil könne sie dazu beitragen, dass trotz fragmentierter und polarisierter Parteienlandschaft das Parlament und die Regierung gut zusammenarbeiten. Gestärkt wird das Parlament, wenn es zeigen kann, dass es mehr ist als nur Mehrheitserfüllungsgehilfe der jeweiligen Regierung. Jene Bürger, die die Union als klare Alternative zu Rot-Grün-Schwarz wollen, müssten nicht aushalten, dass Rot oder Grün durch die mehrheitsbeschaffende Hintertür Platzkarten für die Regierungsbank bekämen.
Das Beispiel Dänemark
Hierzulande hält sich hartnäckig die Meinung, Minderheitsregierungen trügen Schuld am Sieg des Nationalsozialismus; das ist allenfalls ein bisschen richtig. Empirische Befunde belegen, dass Minderheitsregierungen international keine Ausnahme, sondern eher den Regelfall darstellen. Vor allem in Nordeuropa, gemeinhin als demokratisch-konsensuale Musterregion angesehen, hat man damit gute Erfahrungen gemacht. In Sachsen-Anhalt ließ sich von 1994 bis 2002 eine rot-grüne und anschließend eine rote Minderheit von der PDS dulden. Das zog nach allem, was man hört, nicht den Zusammenbruch Magdeburgs samt des Umlands nach sich.
Im Gegenteil. Dänemark, wie wir seit der Serie Borgen wissen das Musterland wechselnder Minderheitskoalitionen, hält diese Instabilität seit Jahrzehnten stabil aus. Um die Mehrheit zu sichern, werben die beiden regierenden Parteien um situative Unterstützung von nicht regierenden Parteien. Selbstbewusst regierende Minderheitsregierungen haben den Bau von Brandmauern nicht nötig. Situative Abkommen führen gerade in Dänemark nicht selten dazu, dass im Parlament Gesetze verabschiedet werden, die in jeder zu verhandelnder Sachfrage den Präferenzen der »mittleren« Partei entsprechen – und also auch denen des (Median)wählers. So kommt es dazu, dass sich von der Politik einer Minderheitsregierung mehr Wähler vertreten fühlen als von einer Mehrheitsregierung. Und dass die Extreme geschwächt und gerade nicht gestärkt werden.
Die Dänen machen so etwas ziemlich effizient, sagt der Mannheimer Politikwissenschaftler Thomas König. Ob das in Deutschland – bislang ohne Erfahrung auf diesem Gebiet – auch funktionieren würde? Der Rechtswissenschaftler Florian Meinel ist skeptisch: Man solle das parlamentarische System nicht zu einer Spielwiese für Doktrinäre oder Romantiker machen. Aber was wäre die Alternative? Weiterwursteln und zuschauen, wie die extremen Parteien noch stärker würden, die Wirtschaft des Landes dagegen weiter abschmiert?
Eine Minderheitsregierung wäre nach Jahren von Grokos und Ampeln einen Versuch wert. Von der Verpflichtung zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Macht kann solch ein Versuch die Politiker nicht dispensieren.
Rainer Hank