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  • 29. Juni 2021
    Kapitalismus und Sklaverei

    Foto orythys auf pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie sehr beruht unser Wohlstand auf der Ausbeutung Afrikas?

    Sklaverei, Kolonialismus und Genozid sind die tragenden Fundamente, auf denen der Wohlstand des Westens beruht. Die europäische Aufklärung war in Wirklichkeit zutiefst imperialistisch. So steht es in einer gerade erschienenen Studie des Sozialwissenschaftlers Kehinde Andrews, er ist Professor für »Black Studies« an der Birmingham City University. Sein Buch trägt den Untertitel »Wie Rassismus und Kolonialismus bis heute die Welt regieren«.

    Die postkoloniale Dekonstruktion der Aufklärung folgt einem modischen Trend. Das muss nicht bedeuten, dass sie falsch ist. Zumal die Frage eines Zusammenhangs zwischen dem Erfolg des Kapitalismus und dem rassistischen Kolonialismus zwar immer schon zum Standardrepertoire marxistischer Analysen gehörte, in den aktuellen identitätspolitischen Debatten, soweit ich sehe, aber eher am Rande traktiert wird. Der Kapitalismus hat in liberalen Kreisen einen guten Leumund, solange man darunter Arbeitsteilung, Freihandel und den Wohlstand der Nationen versteht. Wie kann es sein, dass die freiheitsliebenden Europäer über Jahrhunderte kein Problem hatten mit freiheitsunterdrückender Sklaverei? In Jane Austins Roman »Mansfield Park«, kurz nach dem britischen Verbot des Sklavenhandels 1807 erschienen, erkundigt Fanny Price, die Heldin, sich nach Sir Thomas Bertrams Zuckerplantagen in der Karibik, wo Schwarze Sklavenarbeit leisten mussten. Totenstille (»dead silence«) sei die Antwort gewesen, heißt es im Roman.

    Könnte es sein, dass diese Totenstille bis heute ein blinder Fleck der Wirtschaftsgeschichte ist? Bei schwarzen Sklaven denken wir an die USA und vergessen gerne, in welchem Maße England, Frankreich und Holland vom 16. bis in das 19. Jahrhundert vom Sklavenhandel lebten – und auch die Deutschen davon zumindest indirekt profitierten. Allein in den westindischen Kolonien Britanniens in der Karibik – dazu zählten unter anderem die Bahamas, Barbados, Trinidad und Tobago – arbeiteten Ende des 18. Jahrhunderts 520000 in Afrika gekaufte Sklaven unter menschenunwürdigen Bedingungen, vorwiegend auf Zuckerplantagen, aber auch in Tabak- und Baumwollplantagen. Der Reichtum Englands beruhte in dieser Zeit fraglos zu großen Stücken auf der Ausbeutung seiner mittelamerikanischen Kolonien. Der Zucker versüßte den vornehmen Gesellschaften Englands den Tee. Und Rauchen galt als Medizin. Monopolistisch organisierte Handelsgesellschaften organisierten alles aus einer Hand: Sie hatten Zugriff auf die Plantagen, den Import der Sklaven und den Export von Tee, Tabak, Kaffee und Baumwolle nach England.

    Rassismus ist die Folge der Sklaverei, nicht ihre Voraussetzung

    War also der Kapitalismus auf Sklavenhandel und -haltung zwingend angewiesen? Adam Smith, der Vater der modernen Ökonomie, bestreitet dies in seinem berühmten Hauptwerk über den »Wohlstand der Nationen« von 1776 – und zwar mit ökonomischen, nicht mit moralischen Argumenten. Obwohl Sklavenarbeit die billigste Arbeit zu sein scheine, weil sie lediglich die Aufrechterhaltung der physischen Existenz des Sklaven koste, sei sie in Wirklichkeit doch die teuerste Produktionsweise, schreibt der Ökonom: Denn der Sklave müsse zwingend daran interessiert sein, so viel wie möglich zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten. Freie Arbeiter, denen ein Lohn gezahlt werde, seien in Wirklichkeit viel produktiver als Sklaven.

    Das Wort des liberalen Ökonomen hören wir gerne. Allein, die Wirklichkeit sah anders aus. Warum? Dazu sollte man das Standardwerk des Historikers Eric Williams »Capitalism & Slavery« befragen. Williams entstammte der kreolischen Elite aus Trinidad, promovierte in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts in Harvard und war später Premierminister der unabhängigen Republik Trinidad und Tobago. Dort gilt er heute als »Vater der Nation«.

    Williams› Buch enthält zwei Thesen. (1) Sklaverei ist nicht die Folge von Rassismus, sondern umgekehrt: Rassismus ist die Folge der Sklaverei. Denn Rassismus rationalisiert das unmenschliche Verhalten der Sklavenhalter. Minderwertige, infantile Menschen brauchte man nicht menschenwürdig behandeln, es reicht sie zu missionieren. Die ersten Sklaven auf den Zuckerplantagen waren keine Schwarzen, sondern zunächst Indigene – Williams nennt sie »Indianer« – und anschließend Weiße. Die strukturelle Knappheit an Arbeitern setzte einen Anreiz für die Landbesitzer, Menschen zur Arbeit zu zwingen. Wichtiger als das Land zu kontrollieren war es für die Landeigentümer, die Leute zu kontrollieren. Rechtlose Leibeigene, konnte man besonders gut kontrollieren. In den Plantagen beruhte der wirtschafte Erfolg auf ökonomischen Skaleneffekten, mithin dem Einsatz von Tausenden Sklaven.

    Der Segen des Freihandels

    Daraus folgt die These (2): Nicht nur die Einführung der Sklaverei, sondern auch ihre Abschaffung erfolgte aus ökonomischen, nicht aus moralischen Gründen. Unersetzbar im 17. und 18. Jahrhundert zur Schaffung des Wohlstands in Europa, begann das westindische Monopol auf Sklavenhandel und -haltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus ökonomischen Gründen zu stören. Der Idee des Freihandels und des Wettbewerbs waren Monopole zuwider. Seit Beginn der industriellen Revolution waren die Zuckerplantagen in der Karibik nicht mehr die Quelle des Wohlstands. Technische Erfindungen führten zu ungeahnten Produktivitätsgewinnen in den Fabriken Englands, deren Arbeiter lausig bezahlt wurden und miserabel leben mussten, aber eben keine Sklaven, sondern Lohnarbeiter waren. Für die modernen Industriekapitalismus hat Adam Smith somit Recht: er konnte aus ökonomischem Eigeninteresse die Abschaffung der Sklaverei betreiben.
    Antisklaverei ist somit das Erbe jenes Kapitalismus, der die Sklaverei zuvor nötig hatte. Eric Williams hat – wenig überraschend – viel Widerspruch provoziert unter jenen Historikern, welche nicht die Ökonomen, sondern die Moralisten und christlichen Evangelikalen des frühen 19. Jahrhunderts dafür verantwortlich machen, dass England 1807 den Sklavenhandel und 1831 die Sklavenhaltung verboten hatte (und die Sklavenhalter im Übrigen fürstlich entschädigte). Industrielle Revolution und Abolition verlaufen in der Tat zeitlich synchron, so dass es nicht ganz einfach ist, Kausalitäten nachzuweisen. Womöglich war es auch eine Mischung von Moral und ökonomischem Gesetz, welche der Sklaverei den Garaus gemacht haben. Doch als Held der Forschung ist Eric Williams inzwischen voll rehabilitiert, wie der Soziologie Krishan Kumar in einem Literaturbericht im Times Literary Supplement vom 21. Mai gezeigt hat.

    Zurück zu meiner Ausgangsfrage. Der Kapitalismus war aus ökonomischen Gründen auf Sklavenarbeit angewiesen. Rassismus war die Folge davon. Und: Der Kapitalismus hat sich aus ökonomischen Gründen von der Sklaverei getrennt, doch der Rassismus ist in der Welt geblieben. Man kann den Kapitalismus für die Abschaffung der Sklaverei dann und nur dann feiern, wenn man ihm an der Erfindung der modernen Sklaverei zuvor die Mitschuld gibt. Langfristig hat sich nicht der ausbeutend-extraktive, sondern der partizipativ-inklusive Kapitalismus durchgesetzt. Auch das ist kein moralisches, allenfalls ein ökonomisches Verdienst – indes mit der von den Kapitalisten unintendierten Folge, dass die Arbeitswelt heute moralisch besser geworden ist.

    Rainer Hank