Rainer Hank als Illustration

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  • 05. August 2025
    Ein Lob des Stammtischs

    Nicht nur Skat wurde früher gespielt, es wurde auch gegaigelt. Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Trinken einen sozialen und ökonomischen Nutzen hat

    Als Student habe ich in einem Stuttgarter Weinlokal gearbeitet, anfangs für fünf Mark die Stunde. Beim »Stetter« – es gibt ihn heute noch – konnte man vespern und ein Viertele für 1 Mark 70 trinken. Mittags kamen auch gerne die Angestellten und Beamten aus der Nachbarschaft vorbei. Zum Beispiel die Richter des nahegelegenen Amtsgerichts. Die tranken ihre drei Viertele Trollinger – jeder drei, wohlgemerkt -, um anschließend wieder Recht zu sprechen.

    Wenn ich die Geschichte von den Amtsrichtern erzähle, ernte ich ungläubige Verwunderung. Aber so war es, kein Jäger-Latein; meine mitbedienenden Kommilitonen können es bezeugen. Zur Verteidigung der Herren muss man erwähnen, dass der einfache Wein in den Vorklimawandelzeiten der 60er und 70er Jahre 9,5 oder maximal 10 Prozent Alkohol enthielt, keine 14 Prozent wie heute üblich.

    Später dann, in meinen journalistischen Anfangsjahren, gehörte Alkohol zum Arbeitsalltag. Irgendjemand hatte immer etwas zu feiern, entweder nach Redaktionsschluss oder schon bei der Konferenz morgens um 11 Uhr 30. Wenn es nichts zu feiern gab, wurde ein Anlass gesucht. Ob der ritualisierte Satz »Früher wurde mehr gesoffen« damals stimmte oder einfach nur die Begründung lieferte, es müsse alsbald eine Flasche geöffnet werden, vermag ich nicht zu sagen. Trinken gehörte zum sozial guten Ton. Sich zu verweigern, verlangte eine große Ich-Stärke.

    Abstinenz der Generation Z

    Heute ist es (fast schon) umgekehrt. Da sitzen sie nun alle vor ihren Wassergläsern. »Still oder Medium?« ist die einzige Alternative. Statistiken gibt es zuhauf. In Deutschland ist der Prokopfverbrauch von reinem Alkohol – also nur statistisch, niemand trinkt reinen Alkohol – von 15,1 Litern im Jahr 1980 auf unter 10 Liter im Jahr 2021 zurückgegangen. Regelmäßiges Trinken (mindestens einmal in der Woche) unter 18– bis 25–jährigen ist stark rückläufig. Im Jahr 2023 gaben 38,8 Prozent der Männer und 18,2 Prozent der Frauen in der Gruppe der Millennials und Generation Z an, regelmäßig Alkohol zu trinken. Immer noch viel, könnte man sagen, aber deutlich weniger verglichen mit vor zwanzig Jahren: 59 beziehungsweise 27,7 Prozent waren es da.

    Selbst in England und in Japan, wo traditionell Saufen nach Dienstschluss zum üblichen Ritual zählt, geht der Alkoholkonsum zurück. Das »Sober Movement« in Großbritannien warnt vor den schädlichen Folgen des Trinkens. Die Pflicht, nach der Arbeit mit den Kollegen zu trinken (»Nomikai«) besteht in Japan schon lang nicht mehr. 2022 hat Japans Regierung sogar eine Kampagne gestartet (»Sake Viva«), um junge Leute dazu zu bringen, mehr Alkohol zu trinken – gesundheitsschädlich, aber fiskalisch nützlich, um rückläufige Steuereinnahmen zu stoppen.

    Trendsetter ist wie häufig Kalifornien. Der Gesundheitskult der Silicon-Valley-Milliardäre ist absolut. Elon Musk hat längst schon einen Bann über Alkohol ausgesandt. Von Sam Altman, Chef und Gründer von Open AI (»ChatGPT«), der auf einer Farm im Napa Valley, einer berühmten Weingegend, wohnt, gibt es zumindest das Gerücht, er gönne sich in Ausnahmesituationen ein Gläschen lokalen Wein; Belege dafür habe ich nicht gefunden.

    Seit Ernährungspapst Bas Kast (»Warum ich keinen Alkohol mehr trinke«) uns die letzten Hoffnungen auf die kardiologisch positive Wirkung eines Gläschens Rotwein am Abend genommen hat – selbstverständlich »auf Basis neuester Studien« – wagt niemand mehr, eine Lanze für das kontrollierte Trinken oder gar die bacchantische Ausschweifung zu brechen.

    Trinker subventionieren die Abstinenzler

    Ich auch nicht. Allenfalls die schüchterne Rückfrage darf erlaubt sein, ob ein 90jähriger Asket wirklich ein besseres Leben hatte als ein 85–jähriger Genusstrinker. Ob also die fünf Jahre zusätzlichen Lebens den Verzicht wert waren.

    Fragen lässt sich indessen mit dem britischen »Economist« nach den volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten der kollektiven Abstinenz – gemäß der utilitaristischen Devise »Wo es einen Nutzen gibt, da gibt es auch einen Schaden«. Beginnen wir mit den Restaurants. Sie verdienen am Ausschank von Bier, Wein, Negroni oder Aperol Spritz deutlich mehr als mit Schnitzel oder einer veganen Bowl. Für eine Halbe Bier vom Fass muss der Wirt der Brauerei zwischen 50 und 80 Cent zahlen. Auf seiner Getränkekarte findet sich das Bier zu einem Preis von 3 Euro 50 bis 5 Euro. Das ist eine Marge von 500 bis 800 Prozent. Finanziell noch dankbarer sind die harten Drinks (Vodka, Gin, Rum, Cocktails): da lässt sich rasch ein Multiplikator von 800 bis 1500 erzielen.

    Kurzum: Die Wasser- und Safttrinker in der Bar oder beim Burger-Brater werden von den Bier- und Weintrinkern quersubventioniert; sie sind ökonomisch gesehen Trittbrettfahrer und könnten sich dafür wenigstens bei ihren Süffelfreunden bedanken. Weniger Alkohol ist natürlich auch ein Problem für die Winzer, Brauereien und ihre Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Gut, die sollen dann halt woanders unterkommen, oder sie bleiben, sofern wie beim Fall Bionade aus einer ehemaligen Brauerei eine Saftbude wird. Konversion ist allenthalben angesagt!

    Auch das Mitleid mit dem Fiskus hält sich in Grenzen, dem gut zwei Milliarden Alkohol- und Steuereinnahmen entgehen, wenn nur noch Wasser und Sirup getrunken würde. Die Sektsteuer (gut einen Euro pro Flasche Schaumwein) war ohnehin nie als Buße für Trinker gedacht, sondern zur Finanzierung der Kriegsflotte im Ersten Weltkrieg erfunden. Das könnte bald wieder relevant werden.

    Gravierender als die fiskalischen und ökonomischen sind die sozialen Kosten der Abstinenz. Alkohol fördert nachweislich den sozialen Zusammenhalt – darin bestand über Jahrhunderte der Nutzen des Stammtisches in der Eckkneipe. Einschlägig ist eine Studie der Universität Oxford (Robert Dunbar & Kollegen) von 2024, wonach zwei »Boys Nächte« pro Woche der sozialen und individuellen Gesundheit der jungen Männer förderlich sind: Sozialer Zusammenhalt entstehe durch sportliche Aktivitäten, das Geplänkel unter Männern – »oder schlicht durch das ein oder andere Bierchen mit Freunden am Freitagabend«. Am Stammtisch würden glücksbringende Endorphine ausgeschüttet, die Resilienz fördern und Stress abbauen. Gut, bei notorischen Trinkern kam es am späteren Abend regelmäßig zu Schlägereien, was bestenfalls zu Aggressionsabbau beitrug, auf lange Sicht aber den sozialen Nutzen in gesellschaftlichen und gesundheitlichen Schaden wendete.

    Ich weiß schon: Das harte Kartell der Abstinenzler wird sich durch mein Verhältnismäßigkeitskalkül nicht drausbringen lassen. Güterabwägung ist nicht ihr Ding. Mir geht es lediglich darum, an Harald Juhnkes leichtsinnige Definition des vollkommenen irdischen Glücks zu erinnern: »Keine Termine und leicht einen sitzen.« Nun ja, er ist dann nur 75 Jahre alt geworden, genießt aber seither hoffentlich das vollkommene himmlische Glück.

    Rainer Hank