Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen13. Oktober 2020
Aus der Kirche austreten?Die Kapitalismuskritik von Papst Franziskus wäre ein Grund dafür
Damit hätte der Papst rechnen müssen: Schon kurz nachdem Franziskus am vergangenen Wochenende seine Enzyklika »Fratelli tutti« (»Über die Geschwisterlichkeit«) veröffentlicht hatte, fiel ihm ein zentraler Satz seines Lehrschreibens auf die Füße: Die Corona-Pandemie habe bewiesen, dass die »magische Theorie« (»magica teoria«) des Markt-Kapitalismus gescheitert sei, verkündet der fromme Mann aus Argentinien. Müsste der geistliche Führer einer großen Religionsgemeinschaft nicht etwas vorsichtiger damit umgehen, magische Theorien madig zu machen? Zumindest könnten Agnostiker, Atheisten und andere Böswillige den christlichen Glauben an einen Sohn Gottes, der von einer Jungfrau geboren wird, vom Tode aufersteht und anschließend wieder in den Himmel auffährt, ebenfalls für nicht ganz frei von magischen Elementen halten.
Für Humor ist freilich in der Enzyklika dieses Papstes kein Platz. Weshalb es hier jetzt ernst weiter gehen soll. Im Angesicht der Pandemie habe die Markt-Freiheit versagt, behauptet der Papst. Es gebe hohe Arbeitslosigkeit und der Staat müsse wieder ran. Das Argument ist krumm: Hat irgendjemand im Ernst behauptet, der Markt sei in der Lage, eine Pandemie abzuwehren? Dazu braucht es, wie wir jetzt wissen, Hygieneregeln und eine staatliche Verwaltung, die diese durchsetzt. Es braucht allerdings auch gute Ärzte, Krankenhäuser und hoffentlich bald Impfstoffe, Früchte unseres Wohlstands und unsere Marktwirtschaft. Gesundheit fällt nicht vom Himmel. Länder ohne Kapitalismus (Afrika, Venezuela) sind viel schlechter durch die Krise gekommen.
Doch die aggressive Wucht, mit welcher der Papst gegen die Marktwirtschaft anrennt, geht weit über die aktuelle Gegenwart der Pandemie hinaus. Einschlägig ist das fünfte Kapitel der Enzyklika unter der Überschrift »Populismus und Liberalismus«. Man muss zweimal hinschauen. Der Papst beschuldigt Populismus und Liberalismus gleichermaßen, »die Schwachen zu verachten«. Das ist immerhin originell. Üblicherweise werden Populismus und Liberalismus einander entgegengesetzt: das Volk rebelliert gegen die kosmopolitisch-liberalen Eliten. Für den Papst ist alles eins. Populisten und Liberale sind Demagogen, die egoistisch die Menschen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Fast scheint es sogar, als habe der Papst für den Populismus am Ende noch mehr Sympathien als für den Kapitalismus: Mit Respekt spricht er von »volksnahen Anführern«, die es verstünden, »das Volksempfinden« zu interpretieren und im Sinne des Gemeinwohls zu bündeln. Das Kollektiv (»Volk«) ist diesem Papst allemal näher als das Individuum, die Freiheit eines Christenmenschen ist ihm keine Kategorie. Die auf Freiheit setzende Marktwirtschaft gilt ihm als Teufelswerk: durchseucht von Egoismus, Antrieb zu ruinösem Wettbewerb und asozialem Lob des Privateigentums. Früher hätten wir so etwas »Vulgärmarxismus« genannt.
Franziskus und der Peronismus
Es gibt in der katholischen Kirche seit dem 19. Jahrhundert eine Tradition der sogenannten Soziallehre. Ihr Anliegen war es, die negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung (Ungleichheit, Armut) und die Risiken einer Marktgesellschaft (Einkommensverluste durch Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit) zu lindern. Die Katholische Soziallehre fällt mit der Herausbildung des Sozialstaats in Europa zusammen. Marktskepsis ist ein durchgängiger Zug dieser Lehre, doch zugleich behielt man stets die wohlstandsfördernden Effekte der Wirtschaft im Blick. Der radikale Antikapitalismus des heutigen Papstes ist insofern eine einseitige Zuspitzung, die sich freilich treu und konsequent durch seine bisherigen Verlautbarungen »Evangelium gaudii« (»Diese Wirtschaft tötet«) oder »Laudato Si« (»Gewinnmaximierung verhindert soziale Inklusion«) hindurchzieht. Schon als Erzbischof von Buenos Aires äußerte der Jesuitenpater Jorge Bergoglio die Überzeugung, die Predigten der frühen Kirchenväter über die Not der Armen hätten auch maoistische oder trotzkistische Autoren schreiben können.
So abenteuerlich dieser Antikapitalismus uns anmutet, erklären kann man ihn. Die Weltanschauung dieses Papstes ist der Freiheitstradition der europäischen Aufklärung samt deren christlichen Wurzeln denkbar fern. Sie speist sich aus drei ganz anderen Quellen: Dem rhetorischen Soupçon gegen die Reichen bei Autoren der christlichen Antike (Johannes Chrysostomus, Gregor der Große), dem Marxismus der sogenannten »Theologie der Befreiung« in Lateinamerika und dem Peronismus, einem bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftmodell Argentiniens, das seinerseits stark populistische Züge hat. Der italienische Peronismus-Forscher Loris Zanatta spricht von einem verbreiteten »Jesuiten-Peronismus«. So bezeichnet der Politologe die Idee, dass die Armen eine besondere Unschuld auszeichne. Sie sind »die Bewahrer einer nicht von Egoismus, ökonomischen Interessen, Geld und Individualismus korrumpierten Reinheit«. Der Peronismus lebe von den Armen, sagt Zanatta, was von ihm nicht zynisch, sondern analytisch gemeint ist. Die Armen werden sowohl politisch als Wähler wie theologisch als Kirchenvolk instrumentalisiert. Würden die Armen ihr Elend verlassen, verlöre diese peronistische Soziallehre ihre Basis und Legitimation. Ein Kapitalismus, der die Armen reich macht, stört. Man kommt nicht umhin, die Lehre dieses Papstes als zynisch zu bezeichnen.
Kein Wort über Venezuela
Clemens Fuest, der Chef des Münchner Ifo-Instituts und von seinem Naturell her kein Heißsporn, zeigte sich von der Enzyklika »Fratelli tutti« erschüttert: Er verstehe nicht, wie dieser Papst Marktwirtschaft und Globalisierung derart scharf verdammen könne, die doch dafür verantwortlich seien, dass Hunderte von Millionen Menschen den Weg aus der Armut gefunden hätten. Fuest rügt, dass im neuen Lehrschreiben kein einziges kritisches Wort falle über »Sozialisten« wie Hugo Chavez und Nicolás Maduro, die aus Venezuela ein Armenhaus gemacht haben. Das ist ein Skandal, der durch den Verweis auf die Peronistische Armenverehrung des Papstes erklärbar, aber nicht besser wird. Dabei braucht man noch nicht einmal an die Doppelmoral der römischen Kurie und die jüngst aufgedeckten Finanzskandale zu erinnern, die zeigen, dass die geistlichen Herren in der Praxis keine Skrupel haben, hochspekulative Finanzgeschäfte am Londoner Immobilienmarkt zu betreiben.
Wäre man gezwungen, sich zwischen der Soziallehre des heutigen Papstes und der Soziallehre der Marktwirtschaft von Adam Smith bis Ludwig Erhard zu entscheiden, müssten zumindest all jene die Kirche verlassen, denen aus Motiven der Barmherzigkeit am Wohlstand aller Menschen gelegen ist. Doch zum Glück ist die antikapitalistische Lehre des Jesuitenpapstes Bergoglio nicht unfehlbar und gibt es etwa in der spätscholastischen Tradition der Dominikaner-Patres von Salamanca auch eine deutlich marktfreundlichere Soziallehre der Kirche: Dort galt die Überzeugung, dass eine altruistische Ethik der Nächstenliebe dringend auf das egoistische Ethos des Gewinnstrebens angewiesen ist, eine Denkschule, auf die hinzuweisen der knorzige Kölner Kardinal Joseph Höffner (1906 bis 1987) nicht müde wurde.
Schließlich aber und zum Glück hat der christliche Glauben auch noch ein paar Botschaften, die wichtiger sind als die Soziallehre.Rainer Hank