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  • 21. Februar 2022
    82 Millionen EZB-Präsident*innen

    Wenn das Geld weniger wert ist Foto: pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein Lob der guten alten Ordnungspolitik

    Die Sorgen der Menschen über die steigenden Preise an der Tankstelle, im Supermarkt und anderswo nehmen zu. Im Euroraum stieg die Inflation im Januar auf 5,1 Prozent. Selbst das vorsichtige Ifo-Institut erwartet jetzt über das laufende Jahr gerechnet in Deutschland eine Teuerung von vier Prozent. Der Anstieg mag im historischen Vergleicht mit Phasen der Hyperinflation moderat sein, im Blick auf die vergangenen Jahrzehnte ist er extrem. Kein Wunder, dass die Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zunimmt: Schon bedeutend früher hätte sie ihre Anleihekäufe stoppen und die Zinsen erhöhen müssen, finden viele. Jetzt könnte es schon zu spät sein für eine »sanfte Landung«, also einer Rückkehr zu Preisstabilität ohne wirtschaftliche Verwerfungen.

    Die Inflation, ist sie einmal da, hat nämlich die unangenehme Eigenschaft, die Erwartung weiterer Inflation zu schüren. Die Bürger ziehen größere Anschaffungen vor, weil sie befürchten, sie würden später teurer. Die Gewerkschaften addieren die erwartete Teuerung auf ihre Lohnforderungen. Opfer und Profiteure der Inflation sind sehr ungleich verteilt.

    Der Inflationsdiskurs ist in vollem Gange und mit exponentiellem Tempo. Exakt 5947 Einträge des Wortes »Inflation« liefert die Datenbank des FAZ-Archivs für das Jahr 2021 Im Jahr zuvor waren es noch nicht einmal halb so viel. Rechnet man die Nennungen allein seit Anfang Januar hoch – es waren 2010 – käme man Ende 2022 auf über 24 000 Einträge.

    Darf man die EZB kritisieren?

    Die Leute reden über die Teuerung. Dürfen die das überhaupt? Mein derzeitiger ökonomischer Lieblings-Tweet stammt von Marcel Fratzscher. Unter der Überschrift »Fragen an die deutschen EZB-Kritiker« ließ sich der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kürzlich auf Twitter wie folgt vernehmen: »Wie wäre es, wenn wir einfach der EZB Vertrauen schenken und ihre Unabhängigkeit respektieren würden? Wie wäre es, wenn wir nicht mehr glauben wollten, es gäbe 82 Millionen Fußball-Bundestrainer und auch 82 Millionen Experten in der Geldpolitik?«

    Was will uns der DIW-Präsident – ein ehemaliger EZB-Angestellter – sagen? Die beiden »Fragen« sind Stoff für ein halbes Semester eines linguistischen Universitäts-Seminars. Es handelt sich um rhetorische Fragen, also das Gegenteil von wirklichen Fragen. Aus Fratzschers Sicht ist es eine Verletzung der Unabhängigkeit, die Politik der EZB auch nur zu kommentieren. Es läuft auf einen Maulkorb hinaus: Was immer die Zentralbank tut, steht über aller Kritik. Eine Begründung liefert Fratzscher nicht. Er appelliert lediglich an ein »Vertrauen«, das man deshalb wohl »blind« nennen sollte. Ganz wenige Ausnahmen des Kommentierungsverbots gibt es: Zu ihnen zählt Marcel Fratzscher selbst, der sich ununterbrochen zur EZB-Politik äußert – und selbstredend alles gut findet. Merke: Kommentare werden zugelassen, solange sie affirmativ sind.

    Nun ist die EZB in der Tradition der Deutschen Bundesbank tatsächlich unabhängig. Ratschläge, gar Weisungen der Exekutive laufen ins Leere. Die Bank ist unabhängig von der Politik der europäischen Regierungen und deren Fiskal- oder Arbeitsmarktpolitik. Und sie ist genauso unabhängig von der Tarifpolitik der Sozialpartner. Sie muss gerade nicht die Folgen ihrer Geldpolitik im Blick haben, selbst wenn dies – wie etwa die Nullzinspolitik des vergangenen Jahrzehnts – die Einkommensverteilung der Bürger tangieren und die Ungleichheit vergrößern sollte (was umstritten ist). Dass das deutsche Bundesverfassungsgericht der EZB eine geldpolitische Folgenabschätzung in einem prominenten Urteil aus dem Jahr 2020 aufgetragen hat, ist, vorsichtig gesprochen, ein Missverständnis.

    Die Unabhängigkeit der EZB ist indessen nicht grenzenlos. Sie wird begrenzt vom gesetzlich vorgegebenen Mandat der Bank, unterliegt somit Regeln. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat immer wieder betont, dass die Unabhängigkeit einer Institution in einer Demokratie eine besonders enge Auslegung ihres Mandats erfordert. Und was ist das Mandat der EZB? Sie ist zuständig für stabile Preise im Euroraum. So steht es in Paragraf 127 des »Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union«. Preisstabilität bedeutet – nicht nur für Laien – Null Prozent Inflation. Nach und nach haben die Banker sich mit ein paar semantischen Klimmzügen angewöhnt, unter stabilen Preisen ein Ziel »knapp unter zwei Prozent«, inzwischen sogar ein mittelfristiges Ziel »von zwei Prozent« (mal bisschen drunter, mal bisschen drüber) zu verstehen. Selbst wenn man dies nachvollzieht, eines ist gewiss: Längerfristig vier Prozent – so die Ifo-Prognose 2022 – sind nach Adam Riese mehr als zwei Prozent. Und also müsste die EZB aktiv werden. Das wird man wohl noch sagen dürfen, Herr Fratzscher. Die vielfältigen Tricks der Notenbanker, die Teuerung künstlich auf eine sogenannte Kerninflation (abzüglich der Energie- oder Immobilienpreise) herunterzurechnen, bis es passt, hat mich noch nie überzeugt.

    Wann gibt es wieder Geldwertstabilität?

    Die enge Begrenzung auf das stabilitätspolitische Mandat hat weitere Implikationen. Es könnte sein, dass eine straffere Geldpolitik Zins und Tilgung in hoch verschuldeten Staaten verteuert und deren Fiskalpolitik in Bedrängnis bringt. Das ist nicht schön, darf aber kein Motiv der Verzögerung geldpolitischer Maßnahmen sein. Es könnte auch sein, dass Zinserhöhungen sich dämpfend auf die Aktiendepots der Reichen auswirken: Rücksicht auf die Spekulanten darf erst recht kein Argument für Frau Lagarde, die EZB-Präsidentin, sein. Schließlich ist es denkbar, dass eine Straffung der Geldpolitik die Beschäftigung in den Euroländern gefährdet und Menschen arbeitslos werden. Auch wenn es hartherzig klingt: Der EZB hat die Arbeitslosigkeit egal zu sein.

    Jeder soll sich um das kümmern, wofür er zuständig ist. Das ist die etwas laxe Fassung des altmodisch klingenden Konzepts der »Ordnungspolitik«, mit welcher die soziale Marktwirtschaft hierzulande erfolgreich wurde. Sorgt die Zentralbank für stabiles Geld, können die Gewerkschaften und Unternehmen sich darum kümmern, Produktivitätsfortschritte in höhere Realeinkommen zu verwandeln. Und der Staat muss sich nicht interventionistisch um die finanzielle Kompensation der Inflationsverlierer (Arme, Pendler, Mieter) scheren. Stattdessen soll er sich um Wettbewerb auf offenen Märkten kümmern; das diszipliniert die Preissetzungsmacht der Unternehmen. Ordnungspolitik heißt: Die wirtschaftspolitischen Akteure sind Regeln unterworfen. Das ist nicht nur das Gegenteil von Planwirtschaft, sondern auch eine bessere Alternative zu Laissez-Faire oder interventionistischen Experimenten.

    Und wann ist die Geldwertstabilität erreicht? Meine Lieblingsantwort kommt von dem amerikanischen Ökonomen Alan Blinder: »Preisstabilität ist dann, wenn die Leute aufgehört haben, über Inflation zu reden.« Ich fürchte, das wird noch dauern.

    Rainer Hank