Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 11. August 2020
    Sind Seuchen sozial?

    New York, 939 Lexington Avenue Foto Tabitha Turner/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Nein. Die Welt wird nach Corona ungleicher sein.

    Sind Seuchen die »sozialsten aller Krankheiten«? Solche Behauptungen hört man derzeit öfter: Seuchen treffen nie nur den Einzelnen, sondern immer die Gesellschaft als Ganzes. Daraus lässt sich dann ableiten, dass auch alle Menschen gleichermaßen Anspruch haben auf Hilfe, eben weil eine Pandemie wie Covid 19 weder Arme noch Reiche verschont. Ob man diese Nichtdiskriminierung »sozial« nennen sollten, scheint mir eher unangemessen zu sein, zumindest dann, wenn bei »sozial« die Assoziation »solidarisch« oder gar »gemeinnützig« mitschwingt.

    Auch wenn das Virus nicht diskriminiert, der ökonomische Schock, den die Pandemie auf die Welt gebracht hat, tut es durchaus – und zwar in erheblichem Maße. Die Frage ist bloß wie: Wird die Welt nach Corona gleicher oder ungleicher? Folgt man Walter Scheidel, einem an der Universität Stanford lehrenden Althistoriker, müsste Corona die Welt egalisieren. In seinem Buch »Nach dem Krieg sind alle gleich« (englisch: »The Great Leveller«) zeigt er, dass in normalen Zeiten die soziale Ungleichheit zwischen den Menschen stets größer wird, während hingegen schlimme Zeiten wenigstens ein Gutes haben: Sie nivellieren Einkommensabstände. »Schlimme Zeiten«, das sind große Kriege, Revolutionen, dramatische Staatspleiten und eben Pandemien. Sie eint, dass die Vermögen der Reichen vernichtet werden und zugleich ärmere Schichten mehr Geld haben, weil – so zynisch es klingt – nach der Katastrophe weniger Menschen übrig sind, die um Arbeitsplätze konkurrieren. Das Arbeitsangebot ist knapper geworden, die Nachfrage aber wächst in Zeiten des Wiederaufbaus. Der Befund trifft besonders für die Zeit vor hundert Jahren zu, weil damals das Ende des Ersten Weltkrieg und die schreckliche Spanische Grippe in ihrer Wirkung sich überlagerten.

    Die Wahrheit der Kreditkarten

    Gilt also auch: Nach Corona sind alle gleich? Vermutlich nicht. Eher ist zu befürchten, dass Covid19 die Welt ungleicher machen wird und dass vor allem die Ärmeren leiden werden. Die Aktienbesitzer konnten sich nach einem kurzen Schock wieder freuen; ihr Depot erreicht bald wieder die Vor-Corona-Höchststände. Dass die hohe Staatsverschuldung einen Schuldenschnitt für Millionäre mit sich bringt, ist kaum zu befürchten; eher trifft eine Inflation alle, vor allem die Ärmeren. Jetzt schon steigt weltweit die Arbeitslosigkeit, insbesondere bei gering Qualifizierten. Mehr noch: Corona wurde nicht selten aus den reichen Städten der Welt in die armen Länder verschleppt. In den reichen Ölstaaten des vorderen Orients bedeutete der Lockdown, dass Hundertausende Wanderarbeiter aus Indien, Bangladesch oder Indonesien nachhause geschickt wurden mit der Folge, dass sie das Virus in ihre Heimat importierten. Sozial kann man das nicht nennen.
    Doch welche Verteilungswirkung das das Virus in reichen Ländern? Aggregierte Zahlen – Rückgang des Bruttosozialprodukts, steigende Arbeitslosigkeit – bleiben ziemlich abstrakt. Wie soll man sich einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent konkret vorstellen, den die Statistiker für das zweite Quartal in Deutschland errechnet haben?

    Einen faszinierenden Versuch, Verteilungswirkungen konkret zu machen, hat jetzt der Harvard-Ökonom Raj Chetti zusammen mit seinem »Opportunity Insight Team« unternommen. Er greift auf Big Data zurück, um das wirkliche Verhalten von Unternehmen und Menschen in der Krise zu untersuchen. Dazu wertet das Team Daten zum echten Konsumverhalten der Menschen aus, die von Kredit- und Debit-Kartenunternehmen zur Verfügung gestellt werden. Für sensible deutsche Datenschützer muss man sogleich hinzufügen, dass es sich zwar um eine Fülle von Echtzeitdaten handelt, die man am Markt kaufen kann, die aber selbstverständlich alle anonymisiert sind.
    Was kommt dabei heraus? Zunächst: Der größte Anteil der ausbleibenden Wirtschaftsaktivitäten lässt sich auf den zusammengebrochenen Konsum zurückführen. Das wiederum liegt weniger an schwindender Kaufkraft, sondern am coronabedingt verriegelten Angebot insbesondere bei allen personenbezogen Dienstleistungen: Hotels, Restaurants, Reisen, Einkäufe in der Boutique – all das kam zum Erliegen in den Zeiten des harten Lockdowns, was man daran sehen konnten, dass Kreditkarten viel weniger belastet wurden. Es gibt aber einen gravierenden Unterschied: der Konsum der Reichen ging in Amerika im zweiten Quartal 2020 viel stärker zurück als die Geldausgaben der Ärmeren, und zwar proportional wie absolut. Die Reichen reduzierten ihre Konsumausgaben um 3,1 Milliarden Dollar (31 Prozent), die Armen lediglich um eine Milliarde (23 Prozent).

    Nichts gegen die Trickle-Down-Theorie

    Was hat das mit der Ungleichheit zu tun? Viel. Denn dort, wo die Reichen üblicherweise viel Geld lassen – in Restaurants, in teuren Boutiquen oder Hotels, auf Kreuzfahrten – stieg die Arbeitslosigkeit signifikant an. So ist das in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, wo die einen auf die anderen angewiesen sind. Wanderarbeiter werden in ihre arme Heimat zurückgeschickt. Bedienungspersonal in Hotels und Gaststätten der Upper East- oder Westside Manhattans wird in die Arbeitslosigkeit geschickt. 70 Prozent der Arbeiter im Niedriglohnbereich, die in reichen Stadtteilen Manhattans ihre Jobs hatten, verloren ihre Arbeit. Die Arbeitslosigkeit der Bronx nahm hingegen viel weniger zu. Man könnte sagen: Hier hat sich die geschmähte Trickledown-Theorie bewahrheitet. Ärmere sind auf Reichere angewiesen. Wenn die Reichen kein Geld ausgeben können, leiden darunter vor allem die Armen.

    Ein weiteres Indiz dafür, dass die Ungleichheit durch Corona größer wird, zeigen Chettis Daten über die Inanspruchnahme von Bildung, die der Ökonom von Daten verbreiteter Mathematik-Apps bezieht. Während des harten Lockdowns haben sich Collegestudenten allüberall wenig mit Mathematik beschäftigt. Als sich die Lage entspannte, fingen Studenten aus bildungsbürgerlichen Schichten sogleich wieder an, Matheaufgaben zu lösen, während Kommilitonen aus ärmeren Milieus deutlich länger säumig blieben. Das korrespondiert mit einem Befund des deutschen Ifo-Instituts: Nicht-Akademikerkinder und leistungsschwache Schüler fanden in der Krise besonders selten Hilfe zum Lernen.

    Die entscheidende Frage ist jetzt, ob sich die Kluft zwischen Arm und Reiche wieder schließen wird, wenn Corona vorbei ist. Auch hier ist Skepsis angebracht. Unterschiede im Lernverhalten werden ohnehin längerfristige negative Wirkungen haben. Aber auch die Veränderung der Arbeitswelt könnte sich negativ auswirken: Wenn viele gut bezahlte Banker oder Anwälte in Frankfurt künftig häufiger zuhause irgendwo in der Wetterau arbeiten, werden sie nicht mehr in den teuren Restaurants des Frankfurter Westends essen. Und wenn Migranten und Wanderarbeiter als virologisch gefährlich gelten (Tönnies), könnte es sein, dass Schlachtbetriebe aus Kostengründen künftig stärker automatisieren und Roboter die Schweine zerlegen. Ein steigender Mindestlohn – wie hierzulande beschlossen – bei gebremster Globalisierung und reduziertem Arbeitsangebot, würde diesen Trend verstärken.

    Soweit sich die Lage Anfang August 2020 überblicken lässt, sieht es so aus, als ob diese blöde Pandemie noch nicht einmal als Egalisierungsmaschine taugt.

    Rainer Hank

  • 06. August 2020
    Brüsseler Milliarden

    Klio – die Muse der Geschichtsschreibung und des Storytellings Quelle: Wiktionary

    Dieser Artikel in der FAZ

    Hauptsache, man erzählt schöne Geschichten

    Mit 750 Milliarden Euro will die Europäische Union den sogenannten Wiederaufbau Europas nach der Corona-Pandemie fördern. 390 Milliarden davon werden an notleidende Staaten (vor allem Italien und Spanien) verschenkt, während die EU Kredite aufnehmen und Zinsen bezahlen muss, um das Hilfspaket zu finanzieren.

    »Die Investition der EU rechnet sich«, so tönt es jetzt vielfach. Das Geld sei nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch gut angelegt. Die Argumentation geht ungefähr so: Wenn Italien Geld geschenkt bekommt, wird es davon seine Wirtschaft fit machen. Die Firmen dort bekommen wieder Aufträge und stellen Arbeiter ein. Und was machen die mit dem Geld? Die Firmen kaufen deutsche Maschinen und die Arbeiter kaufen einen Mercedes oder einen unserer Volkswagen. Wer bezahlt, bekommt für sein Geld also eine Gegenleistung, so lautet die Botschaft. Die Gegenleistung bestehe darin, dass in Deutschland Arbeitsplätze gesichert werden, weil die Italiener dank der Aufbauhilfe ihre Märkte offenhalten: Deutschland lebe schließlich vor allem vom Absatz seiner Produkte innerhalb der EU.

    Ein Freund aus der deutschen Hochfinanz, mit dem ich diese Brüsseler Hilfslogik jüngst debattierte, schüttelte verdrießlich den Kopf und meinte, das klinge so, als ob mir die Marktfrau erst das Geld in die Hand drücken müsse, mit dem ich ihr anschließend ihre frischen Pfirsiche kaufen könne – eine irgendwie verkehrte Welt, die auf ein wirtschaftliches Perpetuum Mobile setzt. Nun weiß auch mein Freund, dass die Hilfseuropäer nicht ganz so simpel ticken, wie es das Marktfrau-Beispiel unterstellt. Das magische Zauberwort in all solchen Fällen heißt »Hebel«, was in etwa bedeutet: Das nach Italien und Spanien verschenkte Geld zahlt sich vielfältig und mit einer positiven Rendite für uns aus, ist also eine Art Anschubfinanzierung, mit der am Ende der Saldo für Daimler, seine Arbeiter und den indirekt profitierenden deutschen Steuerstaat positiv ist. Man hört es freilich schon mit, das »Hätte, hätte Fahrradkette«: Die Behauptung, das rechne sich, ist sehr stark konditioniert. Wenn Italien es nicht schafft, seine Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen und seine Unternehmen aus dem Geflecht von Vorschriften – vor allem Arbeitsmarktregulierungen – zu befreien, werden die Milliarden aus Brüssel am Ende verpuffen. Und Deutschland kann seine Geldspende abschreiben.

    Narrative reduzieren Komplexität

    Was bleibt dann am Ende von der Aussage, das »rechnet sich«? Leider nur ein »Narrativ«. Das Wort wird seit geraumer Zeit ein bisschen inflationär gebraucht, weshalb man sagen muss, was damit gemeint sein soll. Narrative erzählen Geschichten, damit wir die Welt, in der wir leben, besser verstehen. In diesem Fall also die Geschichte von Italien, das unterstützt werden müsse, damit wir (und nicht nur Italien) bald wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen. Narrative konstruieren Wirklichkeit – nicht, indem sie etwas komplett frei erfinden, sondern indem vieles ausgelassen wird, was auch zur Wahrheit gehört, zum Beispiel das Risiko, das Geld könnte verpuffen.
    Alles im Leben hat mindestens seine zwei Seiten. Ein Narrativ begnügt sich mit einer Seite. Denn es verfolgt weniger die Absicht, die Wahrheit zu erzählen, als es vielmehr mit Worten oder Sätzen etwas bewirken will. Im Falle der Brüsseler Milliarden geht darum, Akzeptanz bei den Deutschen für das viele Geld zu schaffen, mithin für den finanzpolitischen Paradigmenwechsel Europas von einer Haftungs- zu einer Transferunion. Altruismus – Ursula von der Leyen: »we are all Italian« – genügt offensichtlich nicht zur Legitimation der Hilfsaktion. Unser Narrativ befriedigt darüber hinaus den deutschen Egoismus, wenn es behauptet, das Geld rechne sich »für uns«.
    Henry James, ein amerikanischer Schriftsteller (1843 bis 1916), hat gesagt, dass man jede Geschichte auf fünf Millionen Arten erzählen kann. Das Narrativ wählt eine davon aus, unterschlägt die anderen. Denn, wie gezeigt, es verfolgt eine wirtschaftspolitische Absicht: Die Deutschen sollen beruhigt werden. Blickt man auf die öffentliche Debatte hierzulande seit dem Brüsseler Mammutgipfel am vorvergangenen Wochenende, dann scheint die Rechnung aufzugehen. Die Erregung hielt sich – jenseits der üblichen Verdächtigen – sehr in Grenzen. Das mag auch an der Wirkung eines zweiten, unterstützenden Narrativs liegen: Wer schuldlos in Not gerät, dem zu helfen ist der Barmherzige Samariter verpflichtet. Auch dieses Narrativ unterschlägt etwas: Dass zwar alle Staaten von der Pandemie geschlagen sind, einige von ihnen aber besser gerüstet waren und angemessener zu reagieren vermochten als andere.

    Die Wirtschaftswissenschaft hat sich lange Zeit um Narrative – Formen des wirtschaftspolitischen Erzählens – wenig geschert. Ihr Element sind die mathematischen Modelle. Seit letztere in der Finanzkrise des Jahres 2008 an Renommee verloren haben, haben auch Ökonomen angefangen, in Nachbardisziplinen auszuschwärmen. Sehr erfolgreich ist hier Robert Shiller unterwegs, ein an der Universität Yale lehrender Ökonom, der im Jahr 2013 den Nobelpreis erhielt. Im Dialog mit Psychologen interessiert Shiller sich dafür, warum der Homo Oeconomicus sich häufig irrational verhält, wenn er zum Beispiel glaubt, die Immobilien- oder Aktienpreise müssten immer weiter steigen, obwohl sie aller Erfahrung nach immer wieder gewaltig einbrechen. Jetzt hat Shiller sich den Nachbarn der Literatur- und Geschichtswissenschaft zugewandt. Sein Buch »Narrative Economics« aus dem vergangenen Jahr gibt es seit ein paar Monaten auf Deutsch, leider unter dem missverständlichen Titel »Narrative Wirtschaft«: Es geht aber um narrative Ökonomik, also darum, wie man mit Geschichten über die Wirtschaft Menschen beeinflusst.

    Wettbewerb im Storytelling

    In einer erfrischenden Naivität, die man sich nur vor Ausbruch von Corona leisten konnte, spricht Shiller von »viralen« Prozessen, mit denen solche Narrative andere »anstecken« und einer »Epidemie« gleich sich ausbreiten. Narrative, so Shiller, sind populäre Geschichten, die absichtsvoll eine moralische Lektion im Gepäck haben, welche die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der Menschen nachhaltig prägen sollen.

    Shillers Buch sprudelt vor Beispielen solcher die Realität beeinflussender Narrative. Ein Klassiker ist die sogenannte Laffer-Kurve, welche erzählt, dass Einkommensteuersätze von einer bestimmten Höhe an das Steueraufkommen nicht vermehren, sondern schrumpfen. Darauf hat Ronald Reagan in den achtziger Jahren seine gesamte Steuerpolitik gestützt. Hartnäckig hält sich auch seit bald zweihundert Jahren das Narrativ, Automaten und Roboter würden den Menschen dauerhaft die Arbeit wegnehmen. Noch nicht einmal das nachweisliche empirische Dementi (bis Corona gab es hierzulande annährend Vollbeschäftigung) kann solchen Narrativen etwas anhaben.
    Es würde das Leben ärmer machen und wäre fürchterlich naiv, sich eine Welt ohne Narrative zu wünschen. Aber es wäre schon einiges gewonnen, Narrative kritisch lesen zu lernen. Dabei könnten wir die Fähigkeit ausbilden, Gegennarrative zu konstruieren, die das zur Sprache bringen, was die Narrative unterschlagen. Wettbewerb hilft noch immer: Das bessere Narrativ ist der Feind jeder simplen Erzählung.

    Rainer Hank

  • 27. Juli 2020
    Schweinekotelett in Kräutermarinade

    Billiges Schweinefleisch Foto Morgens Petersen/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Billiges Essen macht arme Menschen satt und reich

    Nahrungsmittel sind zu billig. Das hört man jetzt ständig. Die Corona-Masseninfektionen auf den Schlachthöfen gelten als Beweis. Die Begründung geht ungefähr so: Schlecht bezahlte Arbeiter aus Osteuropa verarbeiten unter unwürdigen Arbeitsbedingungen in Massentierfarmen gezüchtete Tiere, bloß damit wir hinterher beim Discounter vier Nackensteaks in Kräutermarinade zum Preis von 2 Euro 89 (alle viere, wohlgemerkt) kaufen können.

    Selbst wenn die Voraussetzungen der Argumentationskette zuträfen, ist dann die Schlussfolgerung korrekt? Wären die Arbeitsbedingungen für Menschen und die Wohlfühlbedingungen für Tiere besser, wenn unsere vier Nackensteaks für den doppelten Preis von 5,78 Euro verkauft würden? Böse Kapitalisten (wie es die Fleischfabrikanten nun einmal sind!) würden doch die höhere Marge sogleich ihren fetten Gewinn aufaddieren, anstatt das Geld an Öko-Bauern und Werkevertrags-Arbeiter weiterzugeben. Allein dieses Gedankenexperiment macht deutlich, dass es ein riskantes Unterfangen ist, die Welt über höhere Preise verbessern zu wollen. In der Wirtschaftsgeschichte war es bislang jedenfalls eher üblich, dass die Welt sich über einen niedrigeren Preis gewandelt hat – zumal dies stets mit einem verteilungspolitischen Fortschritt verbunden war: Teure Dinge können sich nur die Reichen leisten. Billige Waren können Arme und Reiche kaufen.

    »Gute Lebensmittel muss sich in Deutschland jeder Bundesbürger leisten können«, verkündeten deshalb kürzlich Lidl & Co. Der Aufschrei war groß – vor allem von der mächtigen Wohlfahrtsindustrie, die durch die Einmischung der Discounter ihr Geschäftsmodell angegriffen sahen. Wer behaupte, billige Lebensmittel nützten den Armen, verhalte sich zynisch und missbrauche die Sozialhilfeempfänger, konterte der paritätische Wohlfahrtsverband, der kein Problem damit hat, dass Lebensmittel teurer werden: Wenn zugleich die Hartz-Sätze erhöht werden, müssen die Armen sich keine Sorgen machen. Eher schon die reicheren Bürger, die dann nicht nur beim Aldi, sondern auch beim Fiskus mehr Geld auf den Tisch legen müssen, um die Hartz-Sätze zu finanzieren.

    Niedrige Preise sind Treiber des Fortschritts

    In historischer Perspektive haben nicht die Barmherzigkeitsverbände, sondern die Discounter Recht: Niedrige Preise für Lebensmittel sind kein Skandal, sondern der Treiber des verteilungsgerechten Fortschritts. Während im Jahr 1850 hierzulande noch 61 Prozent der Konsumausgaben für Essen und Trinken (und Rauchen) aufgewendet werden mussten, waren es im Jahr 2018 nur noch knapp 18 Prozent. Das gesparte Geld kann für alternative Wünsche ausgegeben werden – Reisen an die Nordsee oder die Miete einer größeren Wohnung. Noch nie hat die Menschheit sich so gut ernährt wie heute. Noch nie mussten so wenige Menschen hungerleiden – trotz der Vermehrung der Weltbevölkerung.

    Es waren vor allem vier große Innovationen, die zur Verbilligung von Lebensmitteln beitrugen. (1) Chemie (vor allem die Erfindung von Nitratdünger) hat die Erträge der Landwirtschaft verbessert. (2) Kapitaleinsatz – die Erfindung von Landmaschinen – hat die Arbeit auf den Höfen und Feldern erleichtert. (3) Massentierhaltung und Lebensmittelindustrie profitierten von Skaleneffekten. (4) Globalisierung vergrößerte das Lebensmittelangebot auf den Märkten und verbilligte die Waren aus aller Welt.

    Dass die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert zu großen Teilen auch auf der Verbilligung von Lebensmitteln beruht, kann man einer spannenden Arbeit von Sébastian Rioux entnehmen: »The Social Cost of Cheap Food«. Rioux lehrt politische Ökonomie an der Universität von Montreal in Kanada. Er hat die Veränderung der Preise und der Versorgung mit Lebensmitteln im England des Viktorianismus zwischen 1830 und 1914 untersucht. Es waren Straßenhändler in London (genannt »Costermonger«), die zur enormen Verbilligung des Angebots von Fisch, Gemüse und Obst beitrugen. Sie waren zumeist im Verbund einer Kleinfamilie organisiert, wo auch die Kinder arbeiten mussten. Im Jahr 1851, so berichtet Rioux, wurden auf den Märkten Londons Aufzeichnungen zufolge 145 000 Rebhühner, 107 000 Schnepfen, 40 000 Bachstelzen, 313 000 Lerchen, 102 000 Feldhasen, 860 000 Kaninchen und rund eine Million Gänse angeboten. Nebenbei erfährt man hier, welche Vögel der Brite damals als Delikatesse ansah, die es heute nicht mehr in unsere Feinkostgeschäfte schaffen würden. Nach dem Fall der protektionistischen Korn-Gesetze 1847 konnte sich die Globalisierung in England mit preissenkender Macht Raum schaffen: Es gab Butter aus Dänemark, Orangen aus Spanien, Käse und Schinken aus Amerika und Fleisch aus Neuseeland. Fast wie heute, möchte man sagen. Schiffe mit moderner Kühltechnik und ein ständig wachsendes Eisenbahnnetz sorgten für die Verteilung frischer Waren.
    Die armseligsten Gestalten dieser Fortschrittsgeschichte aber sind die erwähnten Straßenhändler, deren Geschichte wie ein Roman von Charles Dickens klingt. Sie mussten die sozialen Kosten des Fortschritts schultern. Schätzungen zufolge gab es Mitte des 19. Jahrhunderts 35 000 dieser Kleinhändler in London. Sie hatten morgens zwischen vier und fünf Uhr an Farringdon Market ihre Waren abzuholen: Das war der Beginn eines langen Arbeitstages, der erst am späteren Abend und mit insgesamt 90 Wochenstunden endete. Der große Traum dieser Lebensmittelhändler bestand darin, sich einen Eselkarren leisten zu können, der ihnen die Arbeit erleichterte. Doch die wenigsten haben es dahin gebracht: ihr Durchschnittseinkommen lag bei zehn Schilling die Woche; ein Wagen kostete zwischen 24 und 40 Schilling.

    Die Massen profitieren, die Straßenhändler darben

    Die Händler mussten sich mit einer geringen Profitmage zufriedengeben, weil der harte Wettbewerb ihnen nicht erlaubte, höhere Preise zu nehmen. Und genau das war die Voraussetzung für den Aufstieg der Massen, folgt man Sébastian Rioux, dem Wissenschaftler aus Kanada. Denn das steigende Nominaleinkommen der Arbeiter im Zuge der Industrialisierung wandelte sich durch die gleichzeitige Verbilligung der Lebensmittel in einen zusätzlichen realen Einkommensvorteil. Die Arbeiter konnten sich diese Lebensmittel leisten und mussten weniger Hunger leiden, weil die Straßenhändler sie ihnen zu Preisen anboten, die deren eigene Lebenslage verschlechterte. Die dialektische Lehre lautet: Der ökonomische und physiologische Fortschritt der Armen seit dem 19. Jahrhundert beruht auf der Ausbeutung einer Teilgruppe der Ärmsten, der Lebensmittelproduzenten und -händler, deren Lage sich nicht verbesserte.

    Ganz offensichtlich hat sich an diesem Muster bis heute nichts geändert, was man nun wirklich nicht feiern muss. Die Löhne in der Lebensmittelindustrie liegen im Vergleich mit anderen Branchen am unteren Ende der Tarifskala. Der Wohlstand der breiten Massen beruht immer noch auf der finanziellen Schlechterstellung der Arbeiter in der Fleischindustrie. Wer daran etwas ändern will, sollte nicht auf Mindestpreise setzen, sondern auf eine humane und strikte Regulierung der Arbeitsbedingungen – und auf eine bessere Integration der osteuropäischen Arbeiter in unsere Gesellschaft, die ihnen den sozialen Aufstieg ermöglicht. So hat es auch bei den Gastarbeitern der sechziger Jahre funktioniert!

    Rainer Hank

  • 21. Juli 2020
    Schuster bleib bei Deinen Leisten!

    Muss ein Krimi heute auch nachhaltig sein? Foto privat

    Dieser Artikel in der FAZ

    Firmen müssen Gewinne machen, was denn sonst

    Ich wohne in einem Turm aus dem Mittelalter. Mit diesem Satz beginnt der spannende Lago-Maggiore-Krimi »Tutto Bene« von Andrea Di Stefano, den ich vergangene Woche in meine Ferien am Bodensee mitgenommen habe. Pinienduft, Espresso und ein paar zünftige Leichen: Was braucht der Urlauber zwischen Konstanz und Überlingen mehr!
    Der Krimi ist erschienen im Scherz-Verlag und der wiederum gehört zum S. Fischer-Verlag, einem Haus mit großer Tradition, denkt man an Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal. Auf der ersten Seite des Buches, noch bevor der Krimi losgeht, teilt der Verlag mir mit, man habe sich aus Verantwortung für die Umwelt zu einer »nachhaltigen Buchproduktion« verpflichtet: »Der bewusste Umgang mit unseren Ressourcen, der Schutz unseres Klimas und der Natur gehören zu unseren obersten Unternehmenszielen«, heißt es da. Bislang habe ich angenommen, das oberste Ziel eines Verlages sei es, gute Bücher herzustellen. Muss man sich um S. Fischer Sorgen machen? Glauben die Verlagsleute nicht mehr an das Geschäftsmodell Buch und suchen deshalb nach neuen »obersten« Unternehmenszielen?

    Der Fischer-Scherz-Verlag ist kein Einzelfall, eher ein Nachzügler. Es gibt eine Mode, die seit ein paar Jahren um sich greift und immer mehr Nachahmer findet: Ein Unternehmen braucht einen »Purpose«, also einen Zweck, der seine Existenz rechtfertigt. Natürlich musste eine Firma immer schon einen Zweck haben. Dem genialen Tüftler Robert Bosch reichte es im Jahr 1901 noch, eine Zündkerze – den »Bosch-Zünder« – als Patent anzumelden, um sein Unternehmensziel zu erfüllen. Das würde heute nicht mehr durchgehen, während es bei Bosch damals zur Initialzündung eines nachhaltigen Weltkonzerns gereicht hat.

    Sinnmaximierung statt Gewinnmaximierung

    Heute ist der »Purpose« etwas, das gerade nichts mit den Produkten zu tun hat, die die Firma herstellt. Es geht um einen »höheren Zweck«, wie Professor Bernd Thomsen schreibt, einer der vielen Managementberater, die im Purpose-Business Geld verdienen. »Sinnmaximierung« statt »Gewinnmaximierung«, so laute die Devise. Firmen dürften nicht mehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein, lese ich bei Professor Thomsen: »Das Anforderungsset an Unternehmen reicht künftig über einwandfreies kaufmännisches Verhalten weit hinaus.« Denn laut Harvard Business Review, eine der ersten Adressen der angesagten Management-Empfehlungen, ist es die wichtigste Aufgabe des Chefs, sich um den Purpose zu kümmern. Wer kümmert sich dann aber um die Fertigung von Laserschneidemaschinen oder Migräne-Medikamenten, wenn der Chef mit dem Purpose beschäftigt ist?

    Meistens reicht die Bestimmung des Purpose dann doch nicht viel weiter als zu einem Abklatsch von Fridays for Future-Rhetorik und gängigem Öko-Klima-Mainstream. Firmen, die früher ihre Freude daran hatten, sich im Wettbewerb voneinander zu unterscheiden, wollen plötzlich alle das Gleiche: nachhaltig sein, das Klima schützen und ein bisschen gut sein. Ob sie es schaffen, die Marktführer in diesem Business – vom Nabu über Greta Thunberg bis zum Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung – in den Schatten zu stellen, darf bezweifelt werden.

    Man kann sich den Spaß machen, die Seite der Pleite- und Betrugsfirma Wirecard zu besuchen. Auch dort hat man sich einem nachhaltigen Purpose verpflichtet: Man wolle nämlich der »leading innovative driver« werden und lege zudem größten Wert auf Transparenz. Dann das sei nötig, um Vertrauen zu schaffen. Das ist, wie man inzwischen weiß, bei Wirecard bislang gründlich schief gegangen: Milliarden Euro verschwanden auf intransparenten Konten in Asien, während sich ein führendes Vorstandsmitglied mit zwielichtigen Leuten des russischen Geheimdienstes herumtrieb, um dadurch seine Geschäftspartner zu beeindrucken. Eine etwas andere Art von Purpose, wenn man so will.
    Nun soll keinesfalls behauptet werden, dass sich hinter all den »höheren Zielen«, denen sich die Firmen verschreiben, in Wahrheit Lug und Trug verbergen. Der Verweis auf Wirecard macht lediglich deutlich, dass solche Purpose-Bekenntnisse wertlos sind, weil sie der Bürger nicht überprüfen kann. Ob ein Sportschuh von Adidas gut sitzt, nicht drückt, und lange hält, also nachhaltig ist, kann ich als Wanderer überprüfen. Ob Adidas aber vermag, »durch Sport das Leben der Menschen zu verändern«, lässt sich schwerlich überprüfen und klingt arg großmäulig. Erst recht lässt sich die Behauptung der Purpose-Verkäufer nicht überprüfen, Firmen mit »höheren Zielen« verzeichneten einen höheren Aktienkurs als die kleinen Krauter, die die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt haben.

    Der »Markt für Tugend« wächst

    Aber natürlich gibt es eine verführerische Logik hinter der Purpose-Mode, die sie unter wechselnden Etiketten (»Sozialverantwortung«, »Stakeholder-Wirtschaft«) noch lange am Leben halten wird: Es existiert neben dem Markt für Dübel, Autos oder Lago-Maggiore-Krimis auch ein »Markt für Tugend«, der in Zeiten eines aufgeheizten Moralismus-Klimas ständig wächst. Das ist ein weitgehend symbolischer Markt »imaginierter Zukunft« (Jens Beckert), der suggeriert, wir könnten durch gute Gesinnung die Welt besser machen. Wenn es freilich ernst wird, wie bei dem ominösen Lieferketten-Gesetz, das deutsche Firmen dazu verpflichten will, die finanzielle Verantwortung für Moral und Öko-Korrektheit bis tief nach Bangladesch zu übernehmen, dann ist den meisten Unternehmen ihr Hemd dann doch näher als der Purpose.

    Höchste Zeit, die Luft aus dem rhetorischen Tugend-Markt herauszulassen. Gegen das Purpose-Geschwurbel hilft der alte Chicago-Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman (1912 bis 2006). In seinem Buch »Kapitalismus und Freiheit« hatte er eine einfache Antwort auf die Frage nach dem Unternehmenszweck – den Gewinn. »Es gibt nur eine einzige soziale Verantwortlichkeit von Unternehmen – ihre Ressourcen zu nutzen und sich in solchen Aktivitäten zu engagieren, die den Gewinn steigern«, heißt es bei Friedman. Zugespitzt lautet sein Imperativ: »The social responsibility of business is doing business. « Oder auf gut deutsch: Schuster bleib bei Deinen Leisten!

    Liest man Friedman lediglich als kalten Turbo-Kapitalisten, hätte man ihn grob missverstanden. In Wirklichkeit geht es ihm um eine Polemik gegen den Manager-Kapitalismus und um ein Plädoyer für den Steuerstaat und die Zivilgesellschaft. Manager, die das Geld der Firma (»other people’s money«) für »höhere Zwecke« (mit entsprechend höheren Personal- und Beraterkosten) ausgeben, wollen sich damit in ein moralisch gutes Licht stellen. Sie stabilisieren ihre Macht mit Geld, das entweder ihren Aktionären oder ihren Arbeitern oder ihren Kunden fehlt – zum Ausbau des eigenen Manager-Ruhms. Friedman interpretiert diesen »Raub« als eine Art von privater Steuer, welche die Manager für sogenannte gesellschaftliche Aufgaben für sich abzweigen. Traue keinem Manager, wenn er sagt, er widme sich dem Gemeinwohl! Das ist nicht sein Business. Wenn die Unternehmen gute Gewinne machen, dann befähigt das den Staat (mit Steuern) oder die Wirtschaftsbürger (mit Einkommen), Gutes, Klima-Nachhaltiges oder sozial Sinnvolles zu tun. Eine bessere Welt ist durchaus möglich; »höhere Zwecke« für Unternehmen braucht es dafür nicht.

    Rainer Hank

  • 15. Juli 2020
    Zusammenhalt auf Bestellung

    Bildungsministerin Anja Karliczek verteilt 40 Millionen Euro mit der Gießkanne Foto BMBF

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum macht sich die Wissenschaft zum Handlanger der Politik?

    Was kann man mit 40 Millionen Euro machen? Nicht viel, verglichen jedenfalls mit den Wumms-Milliarden, die derzeit zur Rettung der Nach-Corona-Konjunktur öffentlich verteilt werden. Immerhin: Man kann mit 40 Millionen etwas für die Wissenschaft tun, dachte sich Forschungsministerin Anja Karliczek. Seit Anfang Juni gibt es deshalb in Deutschland ein »Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt«, das besagte 40 Millionen über einen Zeitraum von vier Jahren ausgeben darf. Für Geistes- und Sozialwissenschaften sind 40 Millionen ein ganzer Batzen, zumal »Verstetigung« versprochen wurde: Wer jetzt bedacht wird, erhält mutmaßlich auch später Geld.
    Die Geschichte dieses Instituts, verschlungen und vermurkst, lässt tief blicken in die Logik politischer Instrumentalisierung wissenschaftlicher Forschung – und warum die Wissenschaft das alles gerne mitmacht.

    Um meine freche These zu verstehen, muss man sich in die Mitte des vergangenen Jahrzehnts zurückversetzen. Damals wurde Pegida immer stärker, eine Bewegung von ostdeutschen Wutbürgern, die Angst haben, wir würden in Deutschland islamistisch überfremdet. Im Schlepptau von Pegida erstarkte die rechte AfD, auch sie ausgerechnet im Osten. Spät hatte der Populismus Deutschland ergriffen: Ins Rutschen gerieten die klaren Unterschiede zwischen Wahrheit und Fake, Hass war in der der sozialen Netzwelt, ohne dass so richtig klar wurde, woher die ganze Wut plötzlich kam. Denn äußerlich war alles gut: Kein Krieg, keine Arbeitslosigkeit, keine Pandemie. Die Politik der Mitte musste mitansehen, wie ihre Zustimmungswerte von Umfrage zu Umfrage schwer ins Rutschen gerieten.

    Nacht- und Nebelaktion im Haushaltsausschuss

    Damals, präzise im Mai 2016, bot der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, einer CDU-nahen Denkfabrik, der Politik seine Dienste an: Ein »Zentrum für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Integration« sollte den Auftrag bekommen zu untersuchen, wie aus gesellschaftlicher Spaltung Versöhnung werden könnte. Doch Patzelt, der Ideengeber, hat selbst den Ruf, mit den Rechten zu sympathisieren, was nicht nur bei der Opposition den Verdacht nährte, hier solle eine konservative Institution geschaffen werden, sondern erst recht bei der sensiblen Konkurrenz von Patzelts Kollegen in der Wissenschaft.

    Im November 2017 wurde dann in einer von Beobachtern als Nacht- und Nebelaktion bezeichneten Aktion im Haushaltsausschuss des Bundestags das am Jahresende noch übrige Geld verteilt. Die SPD erhielt zwölf Millionen Euro für Forschungen zur Integration und Migration (»Dezim« nennt sich das Institut). Außerdem musste ein »Institut für die vernetzte Gesellschaft« her. Und dann waren eben noch jene 40 Millionen Euro übrig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – Forschungen, von denen ausgerechnet der Spiritus Rector Werner Patzelt ausgeschlossen werden sollte. Was immer man von Patzelt hält, leugnen lässt sich nicht, dass den Forschungen über gesellschaftliche Inklusion ein Akt der Exklusion vorausging. Der Vorgang lieferte der AfD denn auch gute Munition für den Vorwurf, es gehe in Wahrheit nicht um die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern um Unterstützung eines politischen Kampfes gegen rechts.

    Überspringen wir die Zwischenschritte: Es dauerte weitere dreieinhalb Jahre, bis die Bildungsministerin am 1. Juni 2020 den offiziellen Startschuss des Instituts gab. Die Meldung dazu hat gute Aussichten auf einen Ehrenrang im Lexikon der Gemeinplätze. Kostprobe gefällig? »Um zu verstehen, was uns als Gesellschaft zusammenhält, brauchen wir noch tiefere Erkenntnisse.« Das ist trivial und rätselhaft zugleich: Wer ist »uns«, wer ist »wir«? Das deutsche Volk? Die Weltgesellschaft? Gerade in Zeiten der Krise dürften »wir« das Feld nicht »denen« überlassen, die die Gesellschaft spalten, heißt es in der Meldung, womit freilich ein Wink verbunden ist, dass die Ministerin von den Forschern nicht nur Erkenntnis, sondern auch politische Handreichung verlangt: »Wir« (die Wissenschaft) sollen »denen« (aber wer sind die?) ihr Handwerk legen und sie heim holen in die Gemeinschaft.

    Ein Spiegelbild der Hilflosigkeit

    Dabei darf man sich das Institut nicht wie ein normales Institut vorstellen: Zusammengewürfelt wurden elf Forschungseinrichtungen von Bremen bis Konstanz, die in einem Verbund 83 Forschungsprojekte zu beackern versprechen. Die Art und Weise, wie die Institute ausgewählt wurden, kann nach Einschätzung vieler Beteiligter einen Zusatzpreis in Intransparenz erhalten. Soziologen, Politologen, Geisteswissenschaftler und Juristen sind unter den Gewinnern, Ökonomen konnte man offenbar nicht gebrauchen. Böse Zungen sprechen von einer mit der Gießkanne verteilten ABM-Maßnahme.

    Das Ministerium hält das Verfahren selbstredend für transparent und fair: Man habe nicht nur die wissenschaftliche Qualität geprüft, sondern auch »fachliche und thematische Ausgewogenheit« sichergestellt und »regionale Verteilung« der Standorte berücksichtigt, schreibt mir das Ministerium auf Anfrage. Mainstream und Verteilungsgerechtigkeit – sind das wissenschaftlichen Kriterien? Man kann es auch so beschreiben wie der Dresdener Politikwissenschaftler Hans Vorländer: »Das Institut ist ein Spiegelbild der Ratlosigkeit der Politik, die nicht weiß, wie sie mit den aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen umgehen soll.«

    Schon die Vorgabe des Ministeriums ist fraglich: Der Zusammenhalt in rechten Gruppen – in feministischen oder antifaschistischen Gruppen übrigens genauso – ist ziemlich stark. Starke soziale Bindungen sind keinesfalls immer gut. Sie sind womöglich nicht die Lösung, sondern viel eher das Problem. Wer weiß, vielleicht wäre es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zielführender, flüchtige Bindungen aufzuwerten und starke Bindungen zu lösen?

    Doch um solche Quisquilien schert sich die Ministerin nicht. Ihr geht es um Legitimationsbeschaffung durch Wissenschaft. Die vergangenen Monate der Corona-Krise hätten gezeigt, wie wichtig es sei, »auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu diskutieren und zu handeln«, sagt Frau Karliczek. Das kommt gut an. In Krisenzeiten müsse »die Politik auf den Rat von Wissenschaftlern hören und umsetzen, was diese für nötig halten«, finden die Bürger laut der jüngsten Deutschlandumfrage der Demoskopen aus Allensbach (F.A.Z. vom 18. Juni). Doch der Vergleich wird am Ende nicht aufgehen: Wenn Virologen eine Pandemie diagnostizieren, empfehlen sie den Politikern einen Shutdown. Wenn Sozialwissenschaftler eine Krise des sozialen Zusammenhalts konstatieren, was sollen sie dann der Politik empfehlen? Den Stuttgarter Schlossplatz oder den Dresdener Neumarkt schließen?

    Das Ansehen der Wissenschaft in der Bevölkerung steigt, weil sie sich als nützlich erwiesen hat, gerade deswegen wird die Wissenschaft jetzt immer mehr von ihrer Nützlichkeit her interpretiert. Bei den Bürgern herrsche die Vorstellung, Wissenschaft sei ein Dienstleistungsbetrieb, bei dem man bestimmte Ergebnisse bestellen könne, konstatieren die Allensbacher Demoskopen. Doch Wissenschaftler sind keine Maurer, die den Kitt der sozialen Kohäsion zusammenmischen. Dafür sollten sie sich nicht hergeben.

    Rainer Hank