Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
02. Januar 2025Das Evangelium nach Peter Thiel
02. Januar 2025Wer die Wahl hat
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. Dezember 2020
Kein BetriebsunfallWas der Brexit mit uns Deutschen zu tun hat
Was geschah am 16. September 1992 in London? Hilft die Information, dass der Tag als »Schwarzer Mittwoch« in die Geschichte eingegangen ist? Bei mir fällt kein Groschen. Ich fürchte, in Deutschland geht das heute vielen Zeitgenossen so. Dabei gilt dieser Tag für die Briten als »die schwerste Demütigung seit Suez«. Die Suez-Krise 1956/57, dies erinnern wir aus der Serie »The Crown«, ist ein zentrales Datum des Niedergangs des britischen Empires.
Und der »Schwarze Mittwoch«? Am »Schwarzen Mittwoch« wurde England von der europäischen Gemeinschaft gezwungen, aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus auszuscheiden, ein Vorfall, der technisch klingt, dem Land aber eine Abwertung seiner Währung und Verluste von rund 3,3 Milliarden Pfund bescherte. Die Zustimmung zur Regierung der Konservativen und zu Premierminister John Mayor schrumpfte von 42 auf 29 Prozent. Die Schuld für diese Demütigung gab man der Deutschen Bundesbank, die nicht bereit war, den Briten mit einer Zinssenkung zu Hilfe zu kommen und der Bundesregierung, die sich seit der Wiedervereinigung als verantwortungsloser Hegemon in Europa aufspielte. Der Spekulant George Soros hatte früh den richtigen Riecher und erfolgreich gegen das Pfund gewettet.
Aus der Geschichte des »Schwarzen Mittwochs« lässt sich einiges lernen. Zunächst dies, dass Traumata länger im kollektiven Gedächtnis haften bleiben als Siege. Damit könnte auch zusammenhängen, dass wir Deutschen große Schwierigkeiten haben, Verständnis für den Austritt der Briten aus der Europäischen Union aufzubringen. Vorwurfsvoll tönt es bis heute, wie man so töricht sein könne, aus falsch verstandenem Nationalstolz auf all die Segnungen der Europäischen Gemeinschaft zu verzichten. Konsequenterweise stößt die beleidigt-unnachgiebige Position Brüssels bei den Brexit-Verhandlungen bei uns auf große Zustimmung: Nachahmer Großbritanniens seien gewarnt!
Begleitlektüre zum Abschied der Briten
Der »Schwarze Mittwoch« war eine Wende; seither haben die Euroskeptiker in England Oberwasser. So lese ich es bei dem Politikwissenschaftler Vernon Bogdanor, einem Professor am King’s College in London. Dabei war es in den Jahren vor 1992 der britischen Regierung mühsam und nach zwei Referenden gelungen, für den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1972 im Volk Rückhalt zu bekommen. Vernon Bogdanors gerade erschienenes Buch »Britannien und Europa in einer unruhigen Welt« (Yale University Press) empfiehlt sich als Begleitlektüre zum derzeit ablaufenden letzten Akt des Brexit. Für mich ist es eines der besten Europa-Bücher seit langem. Am Ende bringt der Leser viel Verständnis für den Brexit auf, obwohl oder gerade weil der Autor kein Brexiteer ist, sondern findet, sein Land hätte besser daran getan, in der EU zu bleiben.
Die These des Buches: Der Brexit ist kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern Ergebnis eines gespannten Verhältnisses der Briten zum Kontinent, welches immer schon ambivalent war und ambivalent geblieben ist. Großbritannien hat sich dem Gemeinsamen Markt, der Europäischen Gemeinschaft und zuletzt der EU stets nur zögerlich beigesellt, den Euro gemieden und in den Jahrzehnten der EU-Mitgliedschaft sich nie vorbehaltlos nach Europa orientiert. Das hat viele Gründe und hängt zusammen mit der jahrhundertelangen Dominanz einer Seemacht über ein globales Imperium. Wer wollte sich da plötzlich von Frankreich oder Deutschland reinreden lassen? Sichtbar wird diese gefühlte Distanz in einer Radioansprache von Neville Chamberlain zum Münchner Abkommen 1938: Der Premier fand, es sei »unglaublich«, dass England gezwungen werde, sich um einen Konflikt, »in einem weit entfernten Land zwischen Völkern, von denen wir nichts wissen«, zu kümmern. Von London nach München sind es gut tausend Kilometer. Chamberlain hätte nicht so verständnislos geredet, wäre es um einen Konflikt in Sydney gegangen, eine Stadt, die von London über 10 000 Kilometer entfernt ist.
Trojanische Pferde aus der Büchse der Pandora
Es fehlte denn auch bei Labour wie bei Torys nie an gewichtigen Stimmen, die mahnten, sich der Vergemeinschaftung Europas zu widersetzen. Vernon Bogdanor zitiert den hübschen Ausspruch eines Labour-Politikers aus den späten vierziger Jahren: »Wer die Büchse der Pandora öffnet, kann nie wissen, welche trojanischen Pferde herausfliegen.« Es waren vor allem sehr konträre ökonomische Konzepte, die Festlandeuropäer und Briten mit der Gemeinschaft verbanden. Das begann mit der Landwirtschaft: Großbritannien profitierte von den günstigen Importen aus dem Commonwealth. Die eigene Landwirtschaft, nie wirklich systemrelevant, unterstützte man mit Steuermitteln. Frankreich und Deutschland hingegen garantierte ihrer Landwirtschaft feste Abnahmepreise. Der Unterschied ist erheblich: Einmal zahlen die Steuerzahler für die Landwirtschaft, das andere Mal die Verbraucher – zum Schaden der Importeure aus außereuropäischen Ländern. Das zeigt, dass die Europäische Gemeinschaft seit ihren Anfängen selbst ein ambivalentes Konstrukt ist – nach innen liberal, nach außen eine illiberale Festung.
Niemand hat diesen illiberalen Charakter der EU besser gesehen als Margaret Thatcher, die je älter umso europaskeptischer wurde. Habe am Ursprung der Gemeinschaft ein Programm wirtschaftlicher Freiheit für alle Mitglieder gestanden, so werde dies immer mehr unterlaufen von Vergemeinschaftungs-Aktonen der Geld- und Sozialpolitik, die den Marktmechanismus aushebeln. »Wir haben nicht bei uns erfolgreich den Staat geschrumpft, um uns am Ende einem von Brüssel dominierten europäischen Super-Staat zu unterwerfen«, sagte die Eiserne Lady in einer berühmten Europa-Vorlesung in Brügge 1988. Paradoxerweise trieben die Sozialisten im Königreich völlig entgegengesetzte Sorgen um: Während Thatcher Europa als marktfeindlich schalt, wähnte Labour die EU als marktliberales Projekt kalter Deregulierung und Privatisierung, welches ihrem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft zuwiderlief. Die Vorbehalte könnten konträrer nicht sein, das Ergebnis ist identisch: Lasst uns auf der Insel mit der Europäischen Gemeinschaft in Ruhe. Ob nach dem Brexit das Königreich isolationistisch-protektionistisch oder womöglich doch wirtschaftlich offener dasteht als die EU (»Singapur an der Themse«), ist im Übrigen noch nicht entschieden.
Es war nicht erst die Finanz- und Flüchtlingskrise nach der Jahrtausendwende und erst recht nicht lediglich das Aufkommen eines irrationalen Populismus, welches die Brexit-Mehrheit des Referendums von 2016 erklärt. Die Briten hatten immer schon Gründe, sich in der EU unwohl zu fühlen. Vernon Bogdanor gibt den Völkern der EU den guten Rat, auch ihrerseits diese Sorgen ernst zu nehmen. Lernen ist besser als sich entrüsten. Was das heißt? Abschied nehmen vom Pathos einer »ever closer union« mit entsprechendem immer größerem Souveränitätsverlust für die Nationalstaaten unter einem supranationalen Brüsseler Regime. Besser wäre es, die EU als engen Verbund nationaler souveräner Regierungen weiterzuentwickeln. Es ist jedenfalls nicht alternativlos, die Sicherung des Völkerfriedens ausschließlich von den Vereinigten Staaten von Europa erzwingen zu wollen. Dass auch Vielvölkerstaaten am Ende kriegerisch scheitern können ist die Lehre von 1914 und die Botschaft aus dem Zerfall Jugoslawiens 1992.
Rainer Hank
21. Dezember 2020
Wozu Milliardäre gut sindSie halten in Corona-Zeiten den Laden am Laufen
Die Älteren werden sich noch an Friedrich von Bohlen und Halbach erinnern. Gut zwanzig Jahre ist das jetzt her. Bohlen, Spross der Krupp-Dynastie, war ein Star der sogenannten New Economy. »Lion Bioscience« hieß sein Unternehmen, das die moderne Informations- und Biotechnologie zusammenzubringen versprach. Wie das funktionieren sollte, hatten wir damals nicht so genau verstanden. Aber es waren aufregende Zeiten: Gerade hatte der amerikanische Forscher Craig Venter mit viel Bohei das menschliche Genom entschlüsselt, eine Erkenntnis mit mutmaßlich großem Potential für die medizinische und biotechnologische Forschung. Und Bohlen war sozusagen der Botschafter Venters in Deutschland.
Dass das alles ziemlich avantgardistisch war, hatte sich damals nicht nur in Berliner Intellektuellenkreisen, sondern bis in die Lehrerzimmer der Hinterpfalz herumgesprochen: Aktien des Neuen Marktes galten als schick und die Lion Bioscience-Aktie war der Renner bei jungen Leuten im eigentlich kapitalismusfeindlichen Deutschland. Dass Unternehmen Verluste machten, hielt die Leute nicht davon ab, Aktien zu kaufen, deren Kurs aufgrund hoher Nachfrage immer weiter nach oben kletterte. Man nannte das die Cash-Burn-Ratio: Je schneller ein Unternehmen Geld zu verbrennen verstand, als umso größer galt sein künftiges Gewinnpotential. Aus solchen schrägen Versprechen speiste sich die Hoffnung, mit der New Economy reich werden zu können und zugleich als Kleinaktionär ganz vorne auf der Lokomotive des gesellschaftlichen Fortschritts zu sitzen.
Die Sache ist dann, wie wir wissen, nicht gut gegangen. Nach der Jahrtausendwende brach der Neue Markt zusammen, was dazu beitrug, dass fortan Großeltern und Eltern ihre Kinder warnten, Aktien zu kaufen. Auch der Börsenkurs der Lion Bioscience AG stürzte vom Höchststand 106,50 Euro im September 2000 auf 2,95 Euro Ende 2002 ab. Ein Jahr später demissionierte Friedrich von Bohlen und Halbach. So hymnisch er zuvor gefeiert wurde, so laut war alsbald die Häme – Ausdruck des Leidens gebeutelter Aktionäre.
Das Team: Friedrich von Bohlen und Dietmar Hopp
Jetzt ist der Star von damals plötzlich wieder aufgetaucht: Vor kurzem hat er sich als Proband der Tübinger Firma Curevac zur Verfügung gestellt und sich gegen Corona impfen lassen. »Ein kleiner Piks, nicht schlimmer als bei einer Grippeimpfung«, erzählt Bohlen. Curevac, richtig, das ist neben der Mainzer Firma Biontech das zweite Unternehmen aus Deutschland, auf dem jetzt alle Hoffnungen einer raschen Beendigung der scheußlichen Pandemie ruhen.
Bohlen ist eng mit Curevac verbandelt, war nach der Niederlage mit Lion Bioscience nicht untätig. Einmal Unternehmer, immer Unternehmer. 2005 gründete er zusammen mit dem SAP-Erfinder und Fußball-Unternehmer Dietmar Hopp die Beteiligungsfirma Dievini, über die Hopp sein Engagement in Biotechnologie und Live Science steuert. Hopp machte Bohlen zum Geschäftsführer, schließlich hat er in Biochemie promoviert. Bis heute hat Hopp 1,4 Milliarden Euro aus seinem Privatvermögen in die Unternehmen gesteckt. Während eine ganze Reihe von Beteiligungen floppten, scheint sich Curevac zum neuen Star zu entwickeln: das Unternehmen ist inzwischen an der Börse knapp 18 Milliarden Euro wert.
Trifft man Bohlen heute, so erlebt man einen Mann, der mit deutlich weniger Anglizismen auskommt als früher, stolz ist auf seinen langen Atem – und das Engagement bei Curevac als eine Art nationale Mission versteht. Dievini, der Name bedeutet »Schutzgötter des Hauses« in der baltischen Mythologie, investiert strikt nur in deutsche Unternehmen. Wie Biontech hat auch Curevac früh das therapeutische Potential sogenannter Boten-RNA erkannt, mit welcher die menschlichen Zellen Informationen erhalten, wie sie im Körper Medikamente selbst herstellen können, die etwa zur Krebs- oder der Virusbekämpfung eingesetzt werden. Wenn Bohlen darüber redet, greift er zu Superlativen: Die Molekularbiologie spiele heutzutage für die Medizin dieselbe Rolle wie die Mathematik für die Physik. Endlich gebe es ein wissenschaftlich basiertes Verständnis von Krankheiten und deren Heilung.
Die Helden der Krise
Warum ich die Geschichte Friedrich von Bohlens erzähle? Weil man ihn – und erst recht Männer wie Dietmar Hopp oder die Strüngmann-Brüder, die Biontech finanzieren, – unbedingt mitaufnehmen muss in die Liste der Helden dieses Corona-Jahres. Man soll sie nicht gegeneinander ausspielen: Die Pflegekräfte, Rewe-Verkäuferinnen oder Müllmänner, die im Lockdown den Laden am Laufen halten. Aber man soll die pfiffigen Unternehmer und finanzierenden Milliardäre auch nicht vergessen. Hätte Deutschland erst im Sommer 2020 angefangen, über Corona-Impfstoffe zu forschen, hätten wir gleich einpacken können. Aber Curevac hat eben schon vor fünfzehn Jahren begonnen, die mRNA zu erkunden. Im Nachhinein sieht es wie eine konsequente Erfolgsgeschichte aus. Doch während der Mühen der Ebene weiß niemand, wie es ausgeht. Allzu viele Leute gibt es in Deutschland nicht, die in der Lage sind, mit 1,4 Milliarden Euro ins Risiko zu gehen und dabei in Kauf nehmen, alles in den Sand zu setzen, ohne am Ende auf Hartz IV angewiesen zu sein. Mutig sein ist leichter, wenn man früher irgendwo anders schon ein paar Milliarden verdient hat.
Bohlen insistiert mit Blick auf die eigene Geschichte darauf, dass Scheitern eine Bedingung des Erfolgs ist »Wenn Du nicht scheiterst, hast Du nicht genug gewagt.« Außerdem ist Bohlen der Meinung, dass seine dynastische Abkunft aus der berühmten Krupp-Familie ihm zugutekomme: »Ich denke schon, dass ich eine unternehmerische Veranlagung in mir trage«, sagte er jüngst in einem Gespräch mit dem Magazin Business Insider. Dazu gab es noch einen kleinen wirtschaftshistorischen Exkurs zur eigenen Familiengeschichte: Weiß man zu Beginn eines Investments, ob es klappt? Nein. »Wir haben bei Dievini auch einige Investments abschreiben müssen.« Es läuft ungefähr wie damals beim Stahl der Krupps, soll das heißen. »1790 hätte Stahl keine Chance gehabt. 1840 war Stahl das zentrale Thema, weil die Eisenbahn so viel Nachfrage generierte. »Wer 1830 keinen Stahl beherrschte, kam zu spät.« Das ist die wirtschaftshistorische Analogie zur heutigen Impfstoff-Kompetenz bei Biontech, Moderna oder eben Curevac. Ach ja, dass Berthold Beitz Thyssen-Krupp schändlich heruntergewirtschaftet habe, muss Bohlen beiläufig natürlich auch noch erwähnen.
Es ist eine lange Geschichte vom Aufstieg und Fall von Lion Bioscience bis zum Triumph von Curevac, wo – nur zur Erinnerung – wir Steuerzahler über ein 300–Millionen-Investment von Minister Altmaier Miteigentümer sind – bislang übrigens, anders als bei der Commerzbank, nicht zu unserem Schaden.
Aber was ist eigentlich aus Lion Bioscience geworden? Google liefert hier keine Auskunft. Aber die Archivrecherche der F.A.Z. ergibt: Das Unternehmen lebt noch, inzwischen unter dem Namen »4basebio AG«. Geschäftstätigkeit: Erforschung und Entwicklung von innovativen Therapien zur Behandlung von Erkrankungen des Zentralen Nervensystems. Hauptgesellschafter: Professor von Bohlen und Halbach, Friedrich, mit vier Prozent. Dievini Hopp Biotech AG mit 54,5 Prozent. BASF mit elf Prozent. Bayer: drei Prozent. Na dann: Viel Erfolg!
Rainer Hank
15. Dezember 2020
Corona verdirbt die SittenSchleichend gewöhnen wir uns alle ans Staatsgeld
Je länger die Pandemie dauert, umso größer werden auch die von ihr angerichteten Kollateralschäden. Dass sich Bürger in der Not kollektiv solidarisch verhielten, hat sich als Illusion erwiesen, womit die vielen positiven Beispiele individuell karitativer Zuwendung nicht geschmälert werden sollen. Nachdem aber dem »Lockdown light« eine Logik der Verhältnismäßigkeit fehlt – die einen dürfen, die anderen dürfen nicht -, wurde ein Kompensationswettlauf diverser Opfergruppen um fiskalische Entschädigung für die ungerechtfertigten Freiheitsbeschränkungen losgetreten. Anstelle des Lohns gibt es Kurzarbeitergeld. Anstelle am Markt erwirtschafteter Einkommen gibt es November- und Dezembergeld. Das wird im kommenden Jahr so weitergehen, auch wenn die Berechnungsgrundlagen sind ändern. Die Kanzlerin sagt, man könne nicht bis zum Ultimo zahlen – sie meint, nicht bis zum jüngsten Tag. Das heißt umgekehrt: Staatsgeld wird es noch eine ganze Weile geben.
Ich will gar nicht bestreiten, dass staatliche Kompensationen für Corona-Schäden in dieser vermaledeiten Krise gerechtfertigt sind. Ich will auf die unbeabsichtigten Konsequenzen hinweisen, die verheerend sind: Corona verdirbt die Sitten. Und zwar schleichend. Wir alle bekommen mehr und mehr das Gefühl, in einer Gratiswelt zu leben. Kommt das Geld nicht von der Firma, dann kommt es halt vom Staat. Wer sich übergangen fühlt, muss nur laut genug schreien, dann kommt Frau Grütters oder Herr Altmaier alimentierend und strukturkonservierend vorbei. Die Corona-Opfer (ob Restaurantbesitzer oder Singer-Songwriter) machen jetzt häufig geltend, sie hätten doch in guten Zeiten viele Steuern bezahlt, woraus sich ein Anrecht begründe, in der Not etwas zurück zu bekommen. Es nistet sich das Missverständnis ein, Steuern zahle man als eine Art Sozialversicherung für kollektive Schicksalsschläge. Dabei gibt es bei Steuern gerade kein Äquivalenzprinzip. Steuern sind dazu da, öffentliche Leistungen zu finanzieren und Geld von den Reichen zu den Bedürftigen umzuverteilen.
Dass gerade jetzt die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens viele neue Freunde findet, verwundert nicht. Das wäre die Verstetigung der Corona-Hilfen in künftig seuchenfreie Friedenszeiten. Beunruhigend ist, dass das von einem parteiübergreifenden Bündnis kommt. Bei den Grünen, demnächst Koalitionspartner einer Bundesregierung, steht das Grundeinkommen sogar im Parteiprogramm. Die FDP liebäugelt schon lange damit, auch die AfD hegt große Sympathien. Dass Union und SPD nennenswerten Widerstand leisten werden, ist kaum zu erwarten: Wer will schon den Bürgern Gratiszahlungen vorenthalten? Auch die Eliten – von Richard David Precht bis Elon Musk – schwärmen vom bedingungslosen Grundeinkommen. Gemeinsam vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und dem Verein »Mein Grundeinkommen« gestartete Feldversuche sollen beweisen, dass erst so das Sicherheitsversprechen des Rechtsstaats (nachhaltig, gerecht, sozial ausgeglichen) eingelöst werde. Psychologen und Mediziner sekundieren: Das Grundeinkommen mache die Menschen gesünder, glücklicher und kreativer. Na dann!
Wenn Staatsverschuldung sich selbst finanziert
Einziger Haken einer dauerhaften und bedingungslosen Staatsalimentierung ist bislang seine Finanzierbarkeit. Irgendjemand muss schließlich den Bürgern ihr Gratiseinkommen verdienen: dafür bieten sich die Leistungseliten an, die hohe Einkommen und hohe Vermögen besitzen, wovon sie hohe Steuern zahlen können, die anschließendS an die Allgemeinheit bedingungslos umverteilt würden. Doch ob selbst nach drastischen Steuererhöhungen genügend Geld da wäre, ist fraglich: Gute Idee, aber schwer zu finanzieren, so lautete in der Regel der Zwischenstand zur Grundeinkommensidee.
Doch das könnte sich jetzt ändern. Das Zauberwort heißt Staatsverschuldung. Da setzt sich mehr und mehr selbst bei klugen Ökonomen der Glaube durch, ein Leben auf Pump sei unproblematisch, Schulden müssten nicht wie ein normaler Baukredit irgendwann zurückgezahlt werden, sondern verschwänden eines Tages ganz von selbst. So stellt man sich das Schlaraffenland vor: Von nun an bekommt jedermann ohne Bedürftigkeitsprüfung sein Lebtag lang ein garantiertes Monatseinkommen (1000 bis 1200 Euro sind im Gespräch), ohne dass dies irgendjemandem weh tut.
Über die Idee der sich selbst tilgenden Schulden habe ich am vergangenen Sonntag in dieser Kolumne geschrieben. Kurz gesagt, funktioniert es so: Die Realzinsen sind schon seit geraumer Zeit leicht negativ. Demgegenüber ist das Wachstum entwickelter Volkswirtschaften moderat positiv. Sofern der Zins, den die Staaten für ihre Schulden zahlen, auch auf längere Sicht niedriger bleibt als das jährliche Wachstum, verschwinden die Staatschulden von selbst: Die Schuldenquote schmilzt dahin; wir wachsen aus den Schulden raus. Ein Wunder, dass die Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens diese Selbstfinanzierungschancen bislang nicht als ihren stärksten Trumpf entdeckt haben.
Das Schlaraffenland als Verhängnis
Ob die Rechnung aufgeht? Man weiß leider so wenig über die Zukunft (siehe Corona). Ginge sie aber auf, wäre das aus meiner Sicht verheerend (siehe Sittenverderbnis). Warum die Rechnung riskant ist, hat der Harvard-Ökonom Gregory Mankiw vor ein paar Tagen in der New York Times gezeigt. Dass die Zinsen seit geraumer Zeit so niedrig sind, könnte nämlich daran liegen, dass den Unternehmen nichts mehr einfällt, wie und wo sie investieren könnten. Niedrigzinsen spiegeln niedrige Wachstumserwartungen, so Mankiw: Hätte er Recht, hätten wir die Differenz zwischen Zins und Wachstum als Enschuldungsvehikel zu positiv interpretiert. Es wäre keine frohe Verheißung des Schlaraffenlands, sondern gefährliches Signal ausbleibenden Wachstums, womit exakt jene Idee der wundersamen Schuldentilgung gefährdet wäre, die ja gerade auf stetiges Wachstum setzen muss. Wie schnell die Weltwirtschaft sich nach Corona erholen wird und ob die Gläubiger der Staatsschulden gelassen immer bleiben, kann niemand sagen. Und wo dann schon wieder die nächste Krise lauert, wissen wir auch nicht; der Krisenzyklus ist seit der Finanzkrise immer kürzer.
Dabei ist es ein besonderer Witz, dass viele Freunde des Grundeinkommens zugleich auch Freunde der modischen Schrumpfungs-Theorien (»Degrowth«) sind. Sie schwärmen vom einfachen Leben jenseits der Logik von Wachstum und Konsums und verteufeln damit genau jene Bedingungen (Wachstum!), die sie zur automatischen Finanzierung ihres Grundeinkommens dringend bräuchten.
Doch nehmen wir an, die Rechnung geht auf wir leben nach Corona alle im sich selbst finanzierenden Schlaraffenland? Dann sollten wir uns zweimal überlegen, ob wir das wollen. Guy Kirsch, ein Ökonom aus Luxemburg, hat vor einigen Jahren in der F.A.S. in einer brillanten Bildinterpretation von Pieter Brueghels »Schlaraffenland« gezeigt: Glück gibt es für uns Menschen nur als Lohn für Fleiß und Entbehrung. Im gratis gereichten Überfluss verlieren die Menschen den Sinn für Genuss. Schnell stellt sich Überdruss am Überfluss ein. Das Schlaraffenland der Staatsalimentierung bis zum Ultimo – es wäre ein von Corona bewirktes Verhängnis.
Rainer Hank
07. Dezember 2020
Ab ins SchlaraffenlandGibt es die Corona-Milliarden für umsonst?
Milton Friedman (1912 bis 2006) war einer der großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Sein vermutlich berühmtester Satz lautet: »There ain’t no such thing as a free lunch.«. Feinschmecker benutzen dafür gerne das Akronym »TANSTAAFL«. Friedman hat das Diktum nicht erfunden, aber nachhaltig popularisiert: Demnach gibt es nichts umsonst auf dieser Welt, irgendeiner muss die Zeche am Ende zahlen.
Das Diktum Friedmans versteht sich als Kritik an Regierungen, die ihren Bürgern vorgaukeln, sie mit Wohltaten zu beglücken, ohne dass es etwas kostet. Die Umsonst-Verheißung lautet: Wir besteuern lediglich die großen Konzerne oder wir lassen die Notenbanken das Geld drucken. Friedman zertrümmert beides. Wenn der Staat Steuern von den Unternehmen nimmt, kommt dieses Geld in Wirklichkeit von realen Menschen: entweder von den Kunden oder den Mitarbeitern oder den Aktionären dieser Firma. Und wenn die Notenbank mehr Geld druckt, konsumieren die Leute mehr, die Unternehmen erhöhen die Preise – und am Ende gibt es Inflation, nichts anderes als eine Art von Steuer, die alle Bürger entrichten müssen.Friedmans Lehre galt lange Jahre als Dogma. Auch Staatschulden gibt es nicht umsonst, die Rechnung kommt nur später getreu der Devise: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Staatsschulden wären demnach ein besonders perfider und ungerechter Anwendungsfall von TANSTAAFL: Das Geld beglückt die Bürger von heute und bringt den aktuellen Regierungen zum Dank dafür Wählerstimmen. Die Kosten übernehmen die Kinder und Enkelkinder, die gar nichts bestellt hatten.
Nimmt man Friedman beim Wort, muss man sich über die Ausgaben-Orgien in Zeiten der Pandemie Sorgen machen, selbst wenn man der Meinung wäre, zu den »größten Rettungspaketen der Geschichte« gäbe es keine Alternative. Die deutschen Staatschulden liegen mit über zwei Billionen Euro so hoch wie noch nie. Im kommenden Jahr will der Finanzminister noch einmal 180 Milliarden Euro am Kapitalmarkt aufnehmen. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes, nach der der Bund konjunkturbereinigt einen ausgeglichenen Haushalt ausweisen sollte, ist angesichts unserer »außergewöhnlichen Notsituation« außer Kraft gesetzt. Ende des Jahres wird die Verschuldung des Staates in Relation zum Bruttoinlandsprodukt von unter 60 auf 75 Prozent anwachsen – und das ist erst der Anfang. Zum Vergleich: 1950, am Beginn des deutschen Wirtschaftswunders, lag die Schuldenquote noch unter 20 Prozent.
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Indessen ist eine wachsende Zahl heutiger Ökonomen der Meinung, Friedman sei überholt. Sie berufen sich dabei schlicht auf Arithmetik. Die Realzinsen vieler Länder sind schon seit geraumer Zeit leicht negativ, mithin so niedrig wie noch nie. Demgegenüber ist das Wachstum entwickelter Volkswirtschaften moderat positiv, sieht man einmal von dem Corona-Jahr 2020 ab. Sofern der Zins, den die Staaten für ihre Schulden zahlen müssen, auch auf längere Sicht niedriger bleibt als das jährliche Wachstum, verschwinden die Staatschulden mit der Zeit wie durch Zauberhand, ohne dass dafür die Steuern erhöht, die Ausgaben gekürzt und Kinder oder Enkel zur Kasse gebeten werden müssten. Denn der Schuldenstand im Zähler wächst langsamer als das BIP im Nenner. Bei Negativzinsen macht der Staat dabei sogar noch ein Geschäft: Mit 180 Milliarden Euro Neuverschuldung »erwirtschaftet« er etwa eine zusätzliche Milliarde an Einnahmen.
»Wir sind heute ziemlich nah an einem Free Lunch«: Mit diesem Satz attackiert Moritz Schularick das Friedman-Dogma. Schularick, ein in Bonn und New York lehrender Ökonom der jüngeren Generation, hat Ende November in einem aufregenden Vortrag am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung vorgeschlagen, das Refinanzierungsrisiko des Staates durch lange Laufzeiten der Anleihen zu entschärfen. Dann erledigt sich die Tilgung quasi von alleine: »Je länger die Laufzeiten, umso mehr Lunch kriegen wir.«
Neben der Arithmetik hat das neue Free-Lunch-Theorem die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen zehn Jahre auf seiner Seite. Tatsächlich lag die Staatschuldenquote nach der großen Finanzkrise des Jahres 2008 hierzulande schon einmal bei 82,4 Prozent (2010). Ganz ohne Austeritätsprogramme und ohne Steuererhöhungen ging die Quote bis 2019, also vor Corona, auf knapp 60 Prozent zurück: Deutschland konnte plötzlich die Maastricht-Kriterien erfüllen, und niemandem wurden Opfer abverlangt.
Eine Welt ohne Knappheit
So wird es auch weitergehen, glaubt man Moritz Schularick. Das wäre dann eine frohe Botschaft für die fiskalpolitische Unbedenklichkeit der Corona-Milliarden. Bund und Länder könnten sich ihren aktuellen Streit über die Aufteilung der Kosten sparen. Mehr noch: Der free lunch eröffnete langfristig Spielraum für gesellschaftspolitisch wünschenswertes Staatshandeln – gegen den Klimawandel, für die Bildung, für die Digitalisierung und/oder für mehr Waffen und Soldaten. Schularick gibt zu, dass es eine »Herausforderung« für die politischen Akteure ist, »verantwortlich« den Free Lunch zu verteilen. Er kann sich »Positivlisten« prioritärer Ziele vorstellen oder mit Experten besetzte »Fiskalräte«, die quasi die Essensausgabe überwachen. Und übrigens: Während Schularick bei der Fiskalpolitik Freibier spendiert, bleibt er gegenüber der expansiven Geldpolitik der EZB Friedman-Anhänger. Dass die Notenbanken ihre Bilanzen mit Staatsanleihen aufblähen wie sonst nur zu Kriegszeiten, um die Wirtschaft zu stabilisieren, könnte paradoxerweise langfristig zu einer gefährlichen Destabilisierung der Märkte führen.
Kommt jetzt das Schlaraffenland? Alles hängt an den Annahmen. Bleiben die Zinsen wirklich niedrig? Wer wie der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker auf das viele Geld der Sparer blickt, das noch lange in Staatsanleihen fließt, wird die Niedrigzinsen für einen langfristig wirksamen Trend halten. Ein großes Geldangebot drückt den Zins, den Preis für das Geld. Die Schuldenbremse braucht dann keiner mehr oder erst wieder, wenn die Zinsen anziehen.
Schaut man auf die Geschichte, ist Skepsis angebracht. Ludger Schuknecht, ehemals Chefökonom unter Wolfgang Schäuble im Berliner Finanzministerium, hat gerade bei der Cambridge University Press eine Geschichte der Staatschulden veröffentlicht. Er warnt eindrücklich: Überhöhte Staatsschulden haben sich häufig als Auslöser von Krisen und Pleiten erwiesen. Die Parameter können sich unvorhergesehen ändern. Zinsen steigen, wenn die Inflation anzieht oder das Risikoverhalten der Unternehmen zunimmt. Ob das Wachstum wirklich auf Jahre positiv bleibt – wer weiß das schon? Joachim Scheide, langjähriger Konjunkturchef am Kieler Institut für Weltwirtschaft, ist der Meinung, eine Welt des Free Lunch, in der die Knappheit abgeschafft und alle Wünsche erfüllbar würden, habe mit Marktwirtschaft nichts mehr zu tun, treibe den Staat in den Taumel sinnloser Ausgaben und sei deshalb nicht wünschenswert: »Alles umsonst. Geld drucken reicht. In so einem Paradies möchte ich nicht leben«, lässt Scheide den Freunden des Freelunch ausrichten.
Wie es kommen wird, wir wissen es nicht. Ich weiß nur, dass man vorsichtig bleiben sollte, wenn Ökonomen zu viel über die Zukunft zu wissen vorgeben. Das ist schon ein paar Mal schief gegangen.
Rainer Hank
01. Dezember 2020
Alternative für DeutschlandKann man die Grünen heute (noch) wählen?
Es sieht ganz danach aus, als ob es im Herbst 2021 zu einer schwarz-grünen Mehrheit in Deutschland kommen würde. Gewiss, bis zur Wahl im nächsten September fließt noch viel Wasser die Spree und den Neckar hinab. Doch so langsam muss man sich als Bürger ein Urteil bilden. Wer im nächsten Jahr die Konservativen anführen wird, wissen wir nicht. Das Spitzenpersonal der Grünen ist bekannt. Seit dem vergangenen Wochenende gibt es auch ein neues Grundsatzprogramm. Da sind beste Voraussetzungen zu prüfen, was von einer grünen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu erhoffen oder zu befürchten ist. Und ob man die Partei am Ende selbst wählen könnte oder gar sollte.
Politische Grundsatzprogramme haben einen schlechten Ruf. Papier ist geduldig, heißt es. Das mag sein. Aber Grundsatzprogramme spiegeln auch den Geist einer Zeit, lassen erkennen, aus welcher normativen Grundgestimmtheit heraus die Akteure politisch handeln. Grundsatzprogramme seien »unsere verschriftlichten grünen Wurzeln«, meint Michael Kellner, der politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, in einem hübsch verunglückten Bild.
Drei Programme haben die Grünen in ihrer vierzigjährigen Parteigeschichte geschrieben (hinzu kommt ein Vereinigungstext mit Bündnis90 aus dem Jahr 1993). Das erste Programm von 1980, kurze 47 Seiten lang, beginnt mit einem Paukenschlag: »Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien« lautet der erste Satz, mit dem man sich als eine Art damaliger AfD präsentierte, die nicht nur die drei »Altparteien« herausfordern wollte, sondern auch als radikale Alternative zum Parlamentarismus sich verstand, dessen Repräsentationsprinzip durch eine von der Basis organisierte Direktdemokratie ersetzt werden sollte.
Das radikal-liberale Manifest von 2002
Von 1980 war es ein weiter Weg zum nächsten Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2002. Dieser Text, verfasst mitten in den rot-grünen Aufbruchsjahren, ist, heute gelesen, große Klasse und unbedingt zur Lektüre empfohlen, mit 181 Seiten allerdings etwas zu episch: ein radikal-liberales Manifest, das sich affirmativ zu (Direkt)-Demokratie und Marktwirtschaft bekennt. »Wir wollen die Einzelnen stärken und die Gesellschaft, in der sie ihre Freiheit und Verantwortung verwirklichen«, heißt es gleich zu Beginn, ein Satz, der jegliche Trivialität verliert, wenn man sieht, woher die Grünen kommen. Der Text lobt Globalisierung (mit Einschränkungen), Subsidiarität (statt Zentralstaat) und plädiert für sparsamen Ressourcenverbrauch kombiniert mit technischer Innovation und einer marktwirtschaftlichen Effizienzrevolution, um die ökologischen Herausforderungen zu meistern. Klimasorge und Fortschrittsglaube ergänzen sich, Wachstum und Bruttosozialprodukt werden nicht verteufelt. Im Gegenteil: Es findet sich sogar ein Kapitel mit der Überschrift »Marktwirtschaft und Ordnungspolitik«, das die FDP heute Eins zu Eins übernehmen könnte, wenn sie den Grünen nicht gleich das ganze damalige Programm abkaufen will. Selbst die Idee einer »sozialen Grundsicherung« könnten die Liberalen teilen, weil diese nicht »bedingungslos« an alle gezahlt werden sollte, sondern abhängig von Bedürftigkeit, die individuell geprüft wird.
Dieses Programm von 2002 ist quasi der Agenda-Text der Grünen. Anders als bei der SPD führte er nicht zur Abspaltung der Links-Fundis. Es spielgelt sich darin der damalige Zeitgeist des dritten Weges zwischen Turbo-Kapitalismus und Sozialismus, eben das, was man in Deutschland »soziale Marktwirtschaft« nennt, ein Wirtschaftsverständnis, das der SPD-Finanzminister Karl Schiller in den späten sechziger Jahren auf die Formel »So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig« gebracht hatte. Die Grünen seien jetzt die »Partei des aufgeschlossenen Bürgertums«, kommentierte die den Grünen nahestehende taz damals. Die Kollegin Heike Göbel schrieb in der F.A.Z., die Grünen seien »wirtschaftspolitisch in der Mitte« angekommen.
Antikapitalismus und Umsonst-Kultur
Und heute? Heute segelt die Partei gewiss eng am biederen Zeitgeist, aber weit weg vom liberalen Geist. So viel Staat wie möglich und Markt nur dann, wenn unbedingt nötig, so ließe sich das Schiller-Zitat heute abwandeln. Fast wäre es so weit gekommen, dass die Basis den Begriff »Marktwirtschaft« gänzlich aus dem Programm getilgt hätte, ersetzt durch »Gemeinwohlwirtschaft« oder ähnliche Lyrismen. Das wirtschaftliche Wachstum hat es heute wieder ausgesprochen schwer, von einem neuen »Wohlstandmaß« jenseits des BIP schwadroniert der Text. Nicht wenige an der Parteibasis liebäugeln mit den populären Degrowth-Theorien, getreu der asketischen Anfangstradition der Partei. Wohneigentümer will man enteignen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank gilt als überholt. Keinen Verzicht soll es lediglich beim Grundeinkommen geben, das »bedingungslos« allen zur Verfügung steht. Auch hier begegnet einem der frühe grüne Illusionismus wieder. Während traditionelle Linke der Auffassung sind, Geld müsse erst erarbeitet werden, bevor es üppig umverteilt wird, regnet es die Euroscheine bei den Grünen direkt von oben herab. Für »Arbeiterkind« Cem Özdemir, der noch weiß, das Leistung und Bildung zusammengehören, blieb angesichts solcher Träume einer Umsonstkultur nur ein enttäuschter Stoßseufzer auf Twitter übrig.
Wie soll man das grüne Rollback deuten? Ich habe Ralf Fücks, einen altgedienten Fahrensmann der Öko-Partei, um seine Einschätzung gebeten. An der grünen Basis gebe es ein hohes Maß an Unverständnis, was Marktwirtschaft bedeute. Das spiegele einen generellen Trend: »Antikapitalismus is back«, vor allem unter Schülern und Studierenden infolge der Radikalisierung der Klimadebatte. Die schreiende ökonomische Unbildung an Schulen und Universitäten werde durch antikapitalistische Phrasen kompensiert, so Fücks: Das stehe in auffälligem Kontrast zu den Bemühungen der grünen Funktionselite, mit Unternehmensvorständen ins Gespräch zu kommen und Vertrauensbildung zu betreiben. Im »grünen Wirtschaftsforum« drängeln sich inzwischen die Dax-Vorstände.
Man muss am Ende nicht völlig pessimistisch werden. An der Spitze der Partei ist man offen für Ökonomen wie Jens Südekum, der dringend dazu rät, sich vom Wachstumsglauben nicht zu verabschieden und stattdessen auf die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch in einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zu setzen.
Taktisch und strategisch ist es für eine Partei sicher klug, sich so gut es geht an den Fridaysforfuture-Geist anzuschmiegen. Das Volk selbst will man indessen, anders als früher, lieber nicht abstimmen lassen. Hinzu kommt: Dem neuen grünen Staatspaternalismus wurde von den Merkel-geführten Koalitionen der letzten fünfzehn Jahre ein breiter Weg geebnet. Dass ausgerechnet die Grünen davon abweichen, wäre zu viel verlangt. Anders als früher stehen sich heute auch nicht mehr Fundis und Realos schroff gegenüber. Die Fronten haben sich verschoben: Machwillige Realo-Eliten mit einem charismatischen Führungspaar halten eine links-fundamentale Basis in Schach. Sie wissen, dass sie ihre Regierungschancen verschlechtern, wenn sie der Basis zu weit entgegenkommen.
Das ändert alles nichts an meinem Fazit: Die Grünen waren zwischendrin einmal eine liberale Partei. Heute sind sie das nicht mehr.
Rainer Hank