Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 24. März 2021
    Volk oder Firma?

    Alfred Sauter, CSU, trat am 21. März aus der CSU-Fraktion aus. Foto: Alfred-Sauter.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über den ökonomischen Schaden des Maskenskandals

    Schadet Lobbyismus? Und wem schadet er? Diese Frage will ich anhand des sogenannten Maskenskandals erörtern. Nicht alle teilen die Voraussetzung, dass der Maskenskandal unter die Kategorie »Lobbyismus« fällt. Deshalb vorab eine Definition: Wenn Abgeordnete nicht nur im Auftrag ihres Gewissens, ihrer Wähler oder des ganzen Volkes handeln, sondern gleichzeitig auch im Interesse einer bestimmten Firma (einerlei, ob sie dafür Geld erhalten oder nicht), dann wollen wir dies Lobbyismus nennen. Korruption soll darüber hinaus der Missbrauch einer öffentlichen Position zur privaten Bereicherung heißen. Die Grenzen zwischen Lobbyismus und Korruption sind fließend; im Maskenskandal scheint beides vorzukommen.

    Der politische Schaden liegt auf der Hand. Mindestens vier Prozentpunkte hat der Skandal die Union bislang bundesweit gekostet; sie liegt jetzt wieder unter dreißig Prozent. Auch der moralische Schaden ist hoch: Die Glaubwürdigkeit von Parlamentariern – präzise: von Unionsabgeordneten – hat empfindlich gelitten, damit auch die Glaubwürdigkeit der ohnehin gefährdeten Demokratie.

    Aber wie steht es mit dem ökonomischen Schaden? Die Fälle sind durchaus verschieden. Beginnen wir mit der Schweizer Firma Emix Trading aus Zug. Im Frühjahr 2020 soll nach Spiegel-Recherchen die CSU-geführte Landesregierung in Bayern eine Million Masken des Unternehmens zum extrem hohen Preis von 10 Euro 50 je Stück angeschafft haben. Das Argument, so sei das eben in einer Marktwirtschaft in Zeiten hoher Nachfrage und knappen Angebots, zieht nicht: Es waren damals auch Masken in einer Preisspanne von drei bis sieben Euro zu bekommen. Warum dann aber Emix? Das ist inzwischen geklärt: Monika Hohlmeier, Europa-Abgeordnete der CSU und Tochter von Franz Josef Strauß, hat zugegeben, dass sie ihrer Freundin Andrea Tandler, Unternehmerin und Tochter des früheren CSU-Ministers Gerold Tandler, mit Kontakten bei der Vermittlung von Emix-Masken geholfen hat. Dass Emix eine Provision bezahlt habe, bestreitet Frau Hohlmeier energisch. Rational wäre es aus Sicht von Emix gleichwohl gewesen; die Marge hätte es hergegeben.

    Die Zeche zahlt der Bürger

    Bleibt die Frage, warum lässt sich der staatliche Auftraggeber auf solch ein überteuertes Geschäft ein? Unter dem Motto »Not kennt kein Gebot« scheint man offenbar in den ersten Pandemie-Monaten das öffentliche Vergaberecht suspendiert zu haben, welches gebietet, dem besten und günstigsten Angebot den Zuschlag zu geben. Hauptsache Masken! »Open-House-Verfahren« wurde dies genannt. Was unbürokratisch daherkommt, hat verheerende Konsequenzen: statt gut und billig lieferte Emix teure und lausig schlechte Ware. Wer den Preis zahlt, ist klar: Der Bürger und Steuerzahler. Als Steuerzahler muss er mehr zahlen als marktüblich. Und als vor Corona zu schützender Bürger ärgert er sich, dass die Masken am Ohr nicht halten und vom Mund fallen.

    Im Prinzip ähnlich, aber mutmaßlich dreister und mit mehr Krimi-Elementen, stellt sich der Fall des CSU-Politikers Georg Nüßlein dar. Auch er hat Millionengeschäfte mit Masken vermittelt, sich dafür eines Netzes von Konten und Zwischenhändler bedient und am Ende – angeblich am Fiskus vorbei – 660 000 Euro für Vermittlerdienste eingestrichen. Es fällt auf, dass die Abgeordneten sich für solche Transaktionen eigener Beraterfirmen oder Anwaltskanzleien (wie der CSU-Abgeordnete Alfred Sauter) bedienen. So lässt es sich im Übrigen behaupten, man habe kein Geld genommen – denn die Provisionen oder Anwaltshonorare flossen auf die Konten der eigenen Firmen und Kanzleien.

    Anders gelagert ist der Fall des Mannheimer CDU-Abgeordneten Nikolas Löbel. Hier geht es nicht um die Vermittlung von Ware privater Unternehmen an den Staat, sondern um Geschäfte zwischen privaten Firmen. Löbel hat an Unternehmen seines Wahlkreises in großem Stil Masken des Herstellers Bricon Technology aus dem schwäbischen Wurmlingen vermittelt. Dafür hat er pro Maske zwölf Cent erhalten, was sich auf 250 000 Euro geläppert haben soll. Nun müsste man daran nichts anstößig finden. So arbeiten Makler immer, wenn sie Nachfrager und Anbieter zusammenbringen und dafür eine Courtage kassieren. Der Düsseldorfer Wettbewerbsökonom Justus Haucap hat darauf hingewiesen, dass im April 2020, als das Geschäft zustande kam, Masken verdammt knapp waren und jeder, der Masken herstellte, diese auch ohne Makler auf der Stelle loswurde. Wenn der Käufer zwölf Cent pro Maske mehr zu zahlen bereit war, hätte Bricon problemlos zwölf Cent draufschlagen und als Gewinn selbst einstreichen, statt eine Provision an Löbel zu zahlen.

    Is it whom you know or what you know?

    Kurzum: An der Sache stimmt etwas nicht. Haucaps Vermutung geht so: Bricon sitzt zwar im Schwäbischen, gehört aber einem Abgeordneten des chinesischen Volkskongresses. Löbel wiederum ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Wenn die Firma eines Abgeordneten des Chinesischen Volkskongresses einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages 250 000 Euro für eine Leistung zahlt, die offensichtlich völlig überflüssig ist, dann liegt für einen Ökonomen der Verdacht nahe, dass das Unternehmen des chinesischen Politikers eine andere Gegenleistung erwartet haben könnte als die Vermittlungsleistung, die nicht nötig war. Welche? Man macht sich halt so seine Gedanken.

    Nun hört man immer, Lobbyismus sei nicht generell böse, sondern erfülle auch positive Aufgaben. Eine Regierung brauche Fachleute aus der Wirtschaft, wenn sie Gesetze plane. Und ein Unternehmen müsse das Ohr an der Politik haben, um zu erfahren, wie sich die politischen Rahmenbedingungen gestalten. Das hört sich gut an. Doch wie ist das Verhältnis von positiven zu negativen Effekten des Lobbyismus? Dazu gibt es eine hübsche Untersuchung der amerikanischen Ökonominnen Marianne Bertrand und Matilde Bombardini (»Is it whom you know or what you know«) aus der American Economic Review (2014). Die Wissenschaftler teilen die Lobbyisten ein in »Spezialisten« und »Netzwerker«. Spezialisten sind die »Guten«, Fachleute, deren Expertise der Politik und dem Unternehmen nützt. Netzwerker sind die »Bösen«, sie haben privilegierten Zugang zu politischen Entscheidern, zum Beispiel weil sie in der gleichen Partei sind. Grob kann man sagen, dass alle Fälle des Maskenskandals in die Kategorie Netzwerker gehören.

    Die ernüchternde Botschaft der Ökonominnen lautet: Mehr als Dreiviertel der Lobbyisten sind keine Spezialisten. Über die Hälfte von ihnen fällt klar in die Kategorie Netzwerker. Lediglich einer von sieben ließ sich eindeutig als Spezialist einordnen, ohne zugleich auch als Netzwerker zu gelten. Fairerweise muss man sagen, dass die Untersuchung sich auf die Vereinigten Staaten bezieht, wo das Lobbytum noch ausgeprägter ist als hierzulande. Doch der Maskenskandal ist ein Indiz dafür, dass es auch in Berlin oder München strukturell ähnlich zuzugehen scheint wie in Washington.

    Fazit: Lobbyismus schadet politisch und moralisch. Und erst recht ökonomisch: Der Verbraucher zahlt höhere Preise für schlechtere Ware. Der Bürger zahlt höhere Steuern. Zudem festigt der Lobbyismus die Macht von Unternehmen, ohne dass diese auf Überlegenheit im Wettbewerb beruht. Lobbyismus schädigt die Wettbewerbsordnung und ist vom Übel. Wir werden ihn gleichwohl nie los.

    Rainer Hank

  • 16. März 2021
    Auf der Corona-Piste

    Diavolezza, Berninam Mit Thomas

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wegsperren oder freilassen – das ist die Corona-Frage

    Vergangene Woche war ich Skifahren im Engadin. Die Schweiz ist bekanntlich das einzige Land in erreichbarer Nähe mit Bergen und Schnee, wo Wintersport auch für Ausländer erlaubt ist: Die Lifte sind offen, die Hotels sind es auch.

    Es war großartig. Sechs Tage (fast) Normalität zeigen, was uns in all den langen, dumpfen, öden Monate gefehlt hat. Zuvörderst sind es die Menschen, so trivial es klingen mag. Und alle ihre zivilisatorischen Errungenschaften. Wie herrlich ist es, im Hotelrestaurant Platz zu nehmen und von der Suppe bis zum Nachtisch bedient zu werden. Ja, es gab wirklich eine Zeit, da musste man nicht jede Nudel vorher selbst kochen, wenn man sie essen wollte. Oder sein Takeaway in kleinen Plastikbeuteln drei Minuten im Wasserbad erhitzen, um es anschließend mit dem im Backofen bei 180 Grad vier Minuten zu Ende gegarten Hühnchen zu vereinen.

    Und der Skibetrieb? Er funktioniert. Erwachsene Menschen halten Abstand und nehmen aufeinander Rücksicht, ohne vorher auf der Laschet-Liste nachzulesen, ob die aktuellen Inzidenzwerte vier oder sechs Quadratmeter Fläche für ein Click-and-Meet-Treffen zulassen. Thomas, mein Freund aus dem Fex-Tal, meinte, die Politiker hätten Freude gefunden an ihrer Macht, Vorschriften zu verschärfen oder zu lockern. Ich mochte ihm nicht widersprechen.

    Auf den Schweizer Bergen gelten einfache Regeln: Beim Einsteigen und Aussteigen aus dem Sessellift muss Maske getragen werden (die Brille beschlägt leider komplett). Die Leute achten darauf, dass nur zwei oder drei einander vertraute Skiläufer Platz im Lift nehmen, der normalerweise für acht Menschen ausgelegt ist. Keiner drängelt. Bloß in der Kabine wurde es mir zuweilen angesichts dicht gedrängter, wenn auch maskierter Wintertouristen etwas mulmig.

    Picknick in den Schneebergen

    Nicht alles ist perfekt. In den Hütten darf man sich seinen Sandwich und seine heiße Ovomaltine holen. Doch seit einem Ukas der Berner Zentralregierung im sogenannten Schweizer Terrassenstreit dürfen die Speisen nicht mehr auf den weit auseinander gerückten Tischen und Bänken unter der Sonne der Südalpen vor der Hütte verzehrt werden. Angeblich aus Gerechtigkeitsgründen, weil das vor den Beizen im Tal auch nicht geht. Was passiert? Die Leute stehen stattdessen eng in kleinen Trauben neben der Terrasse, was mutmaßlich das Ansteckungsrisiko deutlich vergrößert. Das Terrassenverbot wird übrigens kontrolliert: Auf dem Corvatsch habe ich zum ersten Mal in meinem Leben fesch uniformierte Ordnungshüter auf Skiern zu Gesicht bekommen; bisher kannte ich Polizisten allenfalls beritten.

    Wir jedenfalls haben uns den Menschen-Trauben vor den Terrassen ferngehalten und die schöne Tradition des Picknicks aus dem Rucksack wiederbelebt: Mehr oder weniger gemütlich auf Felsen sitzend oder die umgedrehten Skier als eine Art Bank zweckentfremdend.
    Vor dem Ischgl-Effekt muss im Engadin ohnehin keiner Angst haben; da wird nicht über die Stränge geschlagen. Ich wusste, dass die Ansteckungsgefahr größer ist als im Homeoffice im Frankfurter Nordend. Das habe ich ganz alleine zu verantworten. Ich wurde niemandem anderen zur Gefahr. Nach der Rückkehr habe ich mich pflichtgemäß zunächst in ein Testzentrum und anschließend in Quarantäne begeben.
    Für seinen liberalen Kurs ist die Schweiz von den Deutschen gescholten worden. »Warum die Schweiz in der Corona-Krise so versagt hat«, war ein Artikel im Spiegel überschrieben. Andere Zeitungen urteilten, etwas sei bei den Eidgenossen »gewaltig schiefgelaufen«. Schwingt da Neid mit? Um das Urteil zu überprüfen, muss man sich die Zahlen anschauen. Das geht mittlerweile sehr verlässlich, wenn man etwa die Oxford-Seite »Ourworldindata« des Ökonomen Max Roser aufruft. Aber auch andere Vergleichsportale bieten Fakten. Beginnen wir mit den Inzidenzahlen (sieben Tage). Am 11. März verzeichnet Deutschland 69, die Schweiz 90. Da schneidet die Schweiz also schlechter ab. »Besser«, falls das nicht zynisch klingt, sieht es bei der Letal-Rate aus. Das sind die mit oder an Corona gestorbenen Menschen bezogen auf die Infizierten. In der Schweiz sind es 1,79 Prozent, in Deutschland sind es 2,87 Prozent. Fast erwartbar ist die Schweiz wirtschaftlich besser durch die Pandemie gekommen. Das Bruttoinlandsprodukt brach im vergangenen Jahr lediglich um drei Prozent ein, in Deutschland waren es – internationales Mittelfeld – fünf Prozent.

    Deutschland und Schweiz schlagen sich gleich schlecht

    Und schließlich noch die Bilanz der derzeitigen Heilsbringer, Testen und Impfen. Da nehmen sich die beiden Länder nichts. Die Testquote beträgt in Deutschland 53, in der Schweiz 51 Prozent. Geimpft werden in Deutschland unter hundert Bürgern statistisch gesehen täglich 0,25 Menschen. In der Schweiz sind es 0,24. Zum Vergleich: Israel impft täglich 1,06 Bürger, mithin vier Mal so viel. Beide Länder haben gewaltig Nachholbedarf.

    Worauf ich hinaus will: Deutschland und die Schweiz schlagen sich in der Pandemie grosso modo gleich schlecht. Während die Schweiz vor der Freiheit der Bürger oder Touristen großen Respekt hat, hat sich Deutschland für die harte Linie entschieden. Menschen werden in Angst gehalten und weggesperrt, wie die Neue Zürcher Zeitung dieser Tage in einem Artikel schrieb, der die freche Überschrift trägt: »Zu Tode geschützt ist auch gestorben.« Die harte Linie der Deutschen zahlt sich im Vergleich zur Schweiz offenkundig nicht aus.

    In der Krise zeigt sich nicht nur, was der Staat kann, sondern vor allem auch, was der Staat soll. Die Lösung der Schweiz: Der Staat soll faire Rahmenbedingungen für gutes und sicheres Zusammenleben freier Menschen herstellen. Freiheit und Sicherheit sind in Balance. Die Menschen haben Spielraum, nach ihrer Risikoneigung ihr Leben zu leben. Deutschland traut seinen Bürgern weniger zu. Das korreliert auf der anderen Seite mit der Gestaltungslust seiner Politiker, die für kaum jemand mehr verständliche Öffnungspläne schreiben, in denen konditioniert von Inzidenzahlen Öffnungsquadratmeter definiert werden. Keiner kommt mehr hinterher: Wenn durch höhere Testraten die Inzidenzen steigen, dann ist das doch eigentlich ein gutes und kein schlechtes Zeichen, was zu einer Korrektur der Schwellenwerte nach oben führen müsste.

    Täuscht der Eindruck, dass die paternalistische Regulierungswut der regierenden Pandemisten in Deutschland und der Maskenskandal in der Union zwei Seiten derselben Medaille sind? Beides sind Verfallsformen der Staatlichkeit. Dass eine Gesellschaft, in welcher der Staat die Beschaffung wichtiger Güter (Masken, Tests) übernimmt, die Korruption blüht, überrascht nicht. Das ist immer so in einer Staatswirtschaft. Lokale Politiker übernehmen die Verteilung und halten die Hand auf. Der Maskenskandal ist systemisch, nicht moralisch zu analysieren. Unser latent autoritärer Charakter, der uns wie Kinder auf Lockerung, kostenlose Masken oder Schnelltests schielen lässt, wird von der Politik souverän bespielt. Die Profiteure sind die politischen Schieber der Zuteilungswirtschaft, die daraus ihren privaten Profit ziehen. Die Freiheit der Bürger geht verloren.

    Rainer Hank

  • 08. März 2021
    Der Fluch des Lobbyismus

    Die Lobbyisten warten schon Foto Tobias Golla/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum es ohne Kreative Zerstörung keinen Wohlstand gibt

    Was ist der Unterschied zwischen Steve Jobs und Carlos Slim? In beiden Fällen handelt es sich um steinreiche Männer. Der Mexikaner Slim gilt mit einem auf knapp 70 Milliarden Dollar geschätzten Vermögen sogar als der reichste Mann der Welt. Der entscheidende Deal seines Lebens gelang ihm im Jahr 1990 bei der Privatisierung der mexikanischen Telefongesellschaft Teléfonos de Méxiko (Telmex): Geschickt verstand er es, aus dem ehemals staatlichen ein privates Monopol zu machen. Slims Glück war es, dass der Telekommunikationssektor des Landes wenig reguliert war und insbesondere nicht der dortigen Wettbewerbsbehörde unterstand.

    Wer Steve Jobs ist, weiß jedes Kind. 1976 gründete er mit Freunden den Computerhersteller Apple. iPhone, iPad oder Mac setzen heute die technischen und ästhetischen Standards für unsere digital mobile Welt. Im Jahr 2011, dem Jahr seines Todes, wurde Jobs Vermögen auf gut acht Milliarden Dollar geschätzt.

    Doch worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Milliardären? Längst hat auch Apple eine marktbeherrschende Stellung. Im Unterschied zu Slim bezieht Apple indes seine Macht aus eigener kreativer Leistung: Der Konzern erfüllt Bedürfnisse vieler Menschen, die vor iPhone & Co. noch gar nicht wussten, dass sie dieses Bedürfnis haben. Slims Erfolg beruht dagegen auf erfolgreichem Lobbying, mit dem er die Wettbewerber um das Riesenschnäppchen ausgestochen hat.

    Lobbyismus zementiert Monopole

    Das ist ein Grund, warum wir Steve Jobs als Unternehmer mehr bewundern als Carlos Slim. Das ist aber auch der Grund, warum Jobs viel mehr Innovatives zur Entwicklung des Kapitalismus beigetragen hat als Carlos Slim. Man kann noch einen Schritt weitergehen: Lobbyismus schadet dem Fortschritt. Ökonomen haben errechnet, dass auf Lobbyismus fußende Firmen weniger produktiv sind und zugleich höhere Gewinnmargen einstreichen als andere Firmen. Sie nehmen Wettbewerbern die Chance auf einen erfolgreichen Markteintritt. Lobbyismus ist ein Instrument, sich politisch abgesicherte Monopolstellungen zu erkaufen. Dass es lediglich um Informationsaustausch zwischen Staat und Wirtschaft gehe, ist Propaganda ohne empirisches Fundament. Kein Wunder, dass allein in den Vereinigten Staaten für Lobbyarbeit jährlich geschätzt drei Milliarden Dollar ausgegeben werden. Dagegen helfen auch keine noch so ausgefeilte Lobbyregister. Lobbyismus sichert nicht nur trägen Unternehmen das Überleben, sondern füttert auch die Privatkassen der Fabrikanten. Fortschritt und Wohlstand haben das Nachsehen.

    Die Unterscheidung zwischen schöpferischen und trägen Unternehmen geht auf den österreichischen Ökonomen Josef Schumpeter (1883 bis 1950) zurück. Er prägte die Formel von der »kreativen Zerstörung«. Neues kann nur entstehen, wenn Altes verschwindet. Jeder Startup-Unternehmer will – wenn nicht intentional, so als Konsequenz seiner Erfindung – den Platzhirsch der Branche überflügeln. Jeder Platzhirsch will mit allen Mitteln verhindern, dass Newcomer ihn entmachten. Seit wir mit dem iPhone alles fotografieren, was uns vor das Handy kommt, sehen wir kaum mehr Fotoapparate, brauchen wir keine Filme und gibt es keine Fotogeschäfte mehr. Seit wir online unsere Bahn- oder Flugtickets kaufen, müssen wir nicht mehr an zugigen Bahnhöfen Schlange stehen. Das zerstört Jobs; niemand braucht heute noch Ticketverkäufer oder Schalterbeamten in einer Bankfiliale. Die Commerzbank schließt derzeit eine Zweigstelle nach der anderen: Zerstörung zum Zugucken. Banking findet heute vor dem PC statt.

    Schöpferische Zerstörung und Innovation sind die zentralen Treiber von Wachstum und Wohlstand. Der Ökonom Philippe Aghion baut auf diese Grundüberzeugung eine Theorie der Legitimation des Kapitalismus. Aghion, 1956 in Paris geboren, ist ein Wanderer zwischen den Welten, er kennt den angelsächsischen und den europäischen Kapitalismus. Derzeit ist er Professor am Collège de France in Paris und unterrichtet an der London School of Economics (LSE). Zuvor war er Professor für Ökonomie an der renommierten Harvard Universität. Die Summe seines Denkens hat er jetzt (zusammen mit Co-Autoren) in einem lesenwerten Buch niedergelegt. Es trägt den Titel: »Die Macht der kreativen Destruktion«. Im vergangenen Jahr auf Französisch erschienen, kommt es in ein paar Wochen auf Englisch bei Harvard University Press heraus. Wer es leid ist, sich mit Inzidenzwerten und Impfgegnern herumzuschlagen und mal was anderes braucht, dem sei Aghions Buch wärmstens empfohlen. Nicht wenige Kollegen des französischen Gelehrten sind der Meinung, er habe dringend den Nobelpreis verdient.

    Kuschelkapitalismus oder gnadenloser Kapitalismus

    Was trägt die These der schöpferischen Zerstörung aus? Dass erst vom Jahr 1820 an der Wohlstand der Massen in England und Frankreich sich entwickelte – bis dahin herrschte Stagnation – liegt nicht nur an den technischen Erfindungen der industriellen Revolution, sondern auch an der Gründung entsprechender Institutionen, die Zerstörung zulassen und deren Folgen abfedern: Wettbewerb, die Achtung vor geistigem Eigentum, aber auch die Kompensation der Verlierer durch einen Wohlfahrtstaat. Der Sozialstaat ist so gesehen keine Bremse des kapitalistischen Fortschritts, sondern einer seiner Treiber.

    Was Aghion schreibt ist den Freunden des deutschen Neoliberalismus Freiburger Provenienz (»soziale Marktwirtschaft«) vertraut. Hierzulande heißt das, etwas angestaubt, Ordnungsökonomik. Was Aghions Buch Schlagkraft verleiht ist indes, dass er für alle normativen Annahmen empirische Belege beibringt (siehe Lobbyismus). Wenn man etwa die Zahl neuer und verschwundener Unternehmen in einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum addiert und in Beziehung zum Wachstum setzt, so zeigt sich: Je volatiler die kreative Zerstörung, um so größer die Innovationskraft, umso höher das Wachstum.

    Der Staat muss vor allem für eine funktionierende Wettbewerbsordnung sorgen. Er soll sich aber auch darum kümmern, dass potenzielle Innovatoren ihr Potential ausspielen können. Bedauerlicherweise ist die Wahrscheinlichkeit, kreativer Erfinder oder Unternehmensgründer zu werden, bei gleichem Intelligenzquotienten viel größer, wenn die Eltern gebildete und reiche Leute sind. Das ist ungerecht und lässt innovative Ideen brach liegen. Daraus folgt der pädagogische Auftrag an die Schulen, noch mehr als bisher für gleiche Chancen zu sorgen – im Sinne der Kinder und des Kapitalismus.

    Aghion unterscheidet zwischen dem gnadenlosen Kapitalismus (»cutthroat«) in den Vereinigten Staaten und dem Kuschelkapitalismus (»cuddly«) in Schweden oder Deutschland. Welcher ist besser? Auf den ersten Blick macht die angelsächsische Variante das Rennen: Denn nur hier entsteht über Innovation Wachstum (man denke an das Silicon Valley), das auch dem Rest der Welt in den Kuschelländern zugutekommt. Andererseits haben die Europäer weniger Ungleichheit, resilientere Gesundheitssysteme (in Zeiten von Corona nicht unwichtig) und sind besser gegen makroökonomische Schocks gewappnet (Kurzarbeitergeld zum Beispiel). Aghion träumt von einer Versöhnung beider Kapitalismen: Die Europäer reformieren marktwirtschaftlich (Agenda 2010), die Amerikaner reformieren sozialstaatlich (Obama-Care). So hätte dann auch der Wettbewerb der Kapitalismen am Ende sein Gutes.

    Rainer Hank

  • 17. Februar 2021
    Neoliberalismus ist des Teufels

    Gottseibeiuns

    Am besten geht es mit Pappkameraden

    Es ist kalt geworden in unserer Welt; die Menschen sind unglücklich und einsam. Nein, ich spreche nicht von den Erfahrungen des Zweiten Lockdown. Sondern wissenschaftliche Ergebnisse von einer aktuellen Untersuchung von Sozialpsychologen der Universität Osnabrück, die herausfinden wollten, was der Neoliberalismus den Menschen antut. Und nach Lektüre ihres Papers muss man sagen: Ziemlich viel Schreckliches.

    Der Neoliberalismus. Seit ich Wirtschaftsjournalist bin, und das bin ich schon ziemlich lange, ist der Neoliberalismus der Gottseibeiuns, wird auf der Liste der üblichen Verdächtigen immer an erster Stelle genannt, wenn für irgendein Unglück oder eine Ungerechtigkeit ein Bösewicht gesucht wird. Im Mittelalter war das eben Gottseibeiuns, ein Synonym für den Teufel, dessen Namen auszusprechen verboten war, es sei denn, man wollte sich gleich der Hölle ausliefern. Heute würden junge Satirikerinnen wie Ella Carina Werner (»Der Untergang des Abendkleides«) die Neoliberalen am liebsten »verbal massakrieren«. Klingt auf jeden Fall schlimmer als Skalpieren im Indianerspiel meiner Kindheit. Ähnlich wie beim Teufel ist unklar, ob es die Neoliberalen überhaupt gibt. Die Existenz-Frage freilich ist unerheblich für ihre Funktion als Bösewichte vom Dienst. Fast hat man den Eindruck, dass sich einem nicht existenten Neoliberalismus noch mehr anhängen lässt als einem real existierenden Wirtschaftssystem.

    Das alles lässt sich idealtypisch an der Osnabrücker Einsamkeits-Studie zeigen. Die Autoren wollten wissen, wann Menschen sich unglücklich und einsam fühlen. Und ob das etwas mit der wirtschaftlichen Verfassung einer Gesellschaft zu tun hat. Dazu legten sie ihren Probanden Aussagen darüber vor, wie eine »neoliberalen« Welt »empfunden« werde: die Märke entfalten sich ungezügelt, der Staat kontrolliert die Unternehmen kaum, der Einzelne ist seines Glückes Schmied und soziale Ungleichheit ist ein positiver Wert,

    Anschließend wurden die Versuchspersonen gefragt, wie sie sich in einer solchen neoliberalen Welt fühlen. Ziemlich elend, so die Antwort. Der Wettbewerbsdruck bereitet ihnen Stress, lässt das gute Gefühl sozialer Zusammengehörigkeit vermissen und verstärkt das Gefühl der Einsamkeit. Kurzum: Neoliberalismus ist eine »Gefahr für die Gesundheit der Menschen«. Sein Versprechen, die Menschen frei und selbständig zu machen, könne dieser Neoliberalismus nicht einlösen. Selbst Menschen, die von ihrem sozialen Status her profitieren, wollten nach eigenem Bekunden in einer solchen kalten Welt nicht leben. Denn Leistungsdruck führt, klar doch, zu Burnout.

    Es kommt raus, was man reingegeben hat

    Das alles findet sich wohlgemerkt nicht in einer antikapitalistisch-esoterischen Nischenpublikation, sondern im »British Journal of Social Psychology« (2021), der wissenschaftlichen Zeitschrift der Britischen Psychologischen Gesellschaft. Und es ist auch nur das letzte Beispiel einer Reihe ähnlicher Untersuchungen, die nachzuweisen suchen, dass der Neoliberalismus krank macht, Ungleichheit unglücklich macht und am Ende auch die Leistungsbereitschaft der Menschen bremse und das wirtschaftliche Wachstum drossele.

    Untersuchungen solcher Art funktionieren stets nach dem Motto: Man kriegt hinten raus, was man vorne rein gibt. Neoliberalismus wird als »Ideologie« präsentiert, destilliert aus der anti-liberalen Literatur. Damit steht das Ergebnis am Anfang schon fest. Einsamkeit und Wohlbefinden sind abhängig vom Gesellschaftssystem. Der Neoliberalismus kann keine sozial gerechte Gesellschaft bieten. Dafür gibt es Brief und Siegel akademischer Psychologen, die gar nicht mitbekommen haben, dass man sich über den Neoliberalismus auch aus den Original-Quellen schlau machen kann, nicht nur bei Gegnern wie Piketty & Mirowski.

    Mit Empirie, nebenbei bemerkt, hat diese sich selbst erfüllende Wissenschaft nichts zu tun. Ein bisschen Empirie brächte schon ein Blick in die einschlägigen seriösen Rankings zu Ungleichheit, Glücksempfinden und wirtschaftlicher Freiheit. Auf den ersten Plätzen freier Gesellschaften (also im herrschenden Sprachgebrauch »neoliberal«) finden sich Neuseeland, die Schweiz und Dänemark. Genau diese Länder rangieren auch auf den vorderen Plätzen von Ländern, in denen die Bürger zufrieden und glücklich sind. In Deutschland (wirtschaftliche Freiheit Platz 27, also nicht besonders »neoliberal«) sind die Menschen auch nicht übermäßig glücklich (Platz 17).
    Würde, wie die Psychologen meinen, das Glück der Menschen in Ländern großer sozialer Gleichheit besonders positiv blühen, müsste dies sich in den Rankings spiegeln. Egalitäre Länder (gemessen am sogenannten Gini-Koeffizienten) sind zum Beispiel die Ukraine oder Slowenien. Dort, aber auch in Usbekistan, lebt es sich deutlich egalitärer als in Deutschland. Gleichwohl würden die Probanden der Psychologen (sie stammen aus Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten) wohl ungern nach Usbekistan emigrieren in der Hoffnung, dort weniger einsam und krank zu werden.

    Hayek und Eucken lesen hilft

    Dass man kritisch und fair mit dem Neoliberalismus umgehen kann, zeigt eine gerade bei Suhrkamp unter dem Titel »Die politische Theorie des Neoliberalismus« erschienene Studie des Politikwissenschaftlers Thomas Biebricher. Die Instrumentalisierung des Neoliberalismus als »polemisches Instrument politischer Diffamierungskampagnen« findet Biebricher wenig anschlussfähig. Kein Wunder, dass fast nur die Gegner sich des Begriffs bedienen. Wer heute von sich selbst sagt, er sei ein Neoliberaler, hat sich aus dem Diskurs herausgeschossen und dem Shitstorm preisgegeben.

    Biebricher, wie gesagt kein neoliberaler Apologet, zeigt anhand der Quellen (Hayek, Eucken, Röpke, Buchanan) welche Klischees über den Neoliberalismus in Umlauf sind. Seit seiner Gründung in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts vertrat der Neoliberalismus die Auffassung, der Glaube an sich selbst regulierende Märkte (»Laissez-Faire«) sei ein Irrweg, von dem man sich verabschieden müsse. Also das exakte Gegenteil dessen, was ihm heute notorisch unterstellt wird. Man war stets gegen und nicht für einen Marktfundamentalismus, wollte keinen schwachen, sondern einen starken Staat, der wirtschaftliche Macht kontrolliert und Wettbewerb autoritär durchsetzt. Biebricher im O-Ton: »In gewisser Weise ist es gerade der Markt, der zum Problem für die Neoliberalen wird. Denn angesichts von Niedergang und Krise des Liberalismus ist es schlicht keine haltbare Position mehr, den ehernen Gesetzen des Ökonomischen dabei zuzusehen, wie sie die Dinge automatisch und ganz von selbst regeln.«

    Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Gegner des Neoliberalismus künftig nicht ihre selbst geschaffenen ideologischen Zerrbilder zur Grundlage von Kritik nähmen. Es lohnt sich allemal mehr, eine Position an ihrem Selbstverständnis und bei ihren stärksten Seiten zu packen, als sich Pappkameraden zu basteln. Aber natürlich ist es lustvoller und zugleich weniger anstrengend, Pappkameraden abzuschießen. Zumal die Mehrheit der Kritiker dasselbe Pappkameraden-Spiel spielt – so fühlt man sich dann in der besten, die antikapitalistische Seele wärmenden Gesellschaft weniger einsam und weniger unglücklich.

    Rainer Hank

  • 10. Februar 2021
    Und vergib uns unsere Schulden

    Nichts als Schulden Foto Rilsonav auf pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Mit Corona lässt sich viel Schindluder treiben

    Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, im Dezember 1944, erschien in der angesehenen Zeitschrift »The American Economic Review« ein Aufsatz des Wirtschaftswissenschaftlers Evsey D. Domar. Der Artikel trug den Titel »Die Last der Schulden«. Im Krieg waren Staatsschulden Amerikas auf über hundert Prozent des Bruttosozialprodukts gestiegen; kurz vorher lagen sie noch bei knapp zwanzig Prozent. Grund genug zu fragen, wie solche Lasten je wieder abgetragen werden können.

    Domar war damals dreißig Jahre alt und Mitarbeiter der amerikanischen Notenbank Fed. Mit seinem Aufsatz fand er mit einem Schlag öffentliche Bekanntheit. Domar konnte eine typische Immigrantenbiografie des 20. Jahrhunderts erzählen. Geboren im Jahr 1914 im polnischen Lodsch hatte er seine Jugend in der Äußeren Mandschurei in Russland verbracht. 1936 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus, studierte an der Universität von Kalifornien in Los Angeles Ökonomie, bevor er 1947 an der Harvard Universität promoviert wurde. Als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) profilierte er sich als einer der ersten Keynesianer und als Wirtschaftsexperte für die Sowjetunion.

    Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, so die Prognose Domars, sei noch das geringste Problem für die Staatsverschuldung. Der Wiederaufbau würde Amerika einen Wachstumsboom und den Menschen Vollbeschäftigung bescheren. In dieser Zeit könnten öffentliche Defizite rasch durch Überschüsse der privaten Wirtschaft finanziert werden. Doch das halte nicht dauerhaft: Dann aber stellt sich die Frage, wann und unter welchen Bedingungen Staatsschulden »tragfähig« sind.

    Das Zauberwort: Schuldentragfähigkeit

    »Schuldentragfähigkeit« heißt bis heute das Zauberwort der Finanzwissenschaft, das man umgangssprachlich mit »können wir uns leisten« übersetzen könnte. Das ist nicht ganz trivial, setzt es doch voraus, dass Staatsschulden per se nicht schlecht sind, solange sie einem langfristig nicht über den Kopf wachsen.

    Interessant sind Domars Annahmen darüber, wie sich wohl die Verschuldung der Vereinigten Staaten mittelfristig entwickeln werde. Realistisch sei ein eher dunkles Bild, schreibt er. Danach würden sich jeweils 25 Jahren Frieden mit fünf Jahren Krieg abwechseln. Damit lag der Wissenschaftler natürlich komplett daneben (so viel zur Prognosekraft der Wirtschaftswissenschaft). Doch man sieht sofort, wie Domar zu seiner Annahme kommt: Genau fünfundzwanzig Jahre liegen zwischen dem Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs; beide Kriege dauerten etwa fünf Jahre. Domar befürchtete offenbar, das Muster werde sich wiederholen.

    Weltkriege gab es seither zum Glück keine mehr. Doch niemand hat verraten, dass hundert Jahre nach der Spanischen Grippe uns abermals eine weltumspannende Pandemie ereilt. Für die Friedenszeiten beziffert Domar die staatlichen Defizite auf jährlich sechs Prozent, während die Kriegswirtschaft einen Verschuldungsbedarf von 50 Prozent habe. Unter diesen Annahmen würden sich die Schulden bald so rasch vermehren wie das Wirtschaftswachstum: Grund zur Sorge.

    Domar nennt für die Schuldentragfähigkeit vier Bestimmungsgrößen: (1) die Defizitquote, welche neue Schulden in Bezug zur Wirtschaftsleistung eines Landes setzt, (2) die gesamte Schuldenquote, (3) die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und schließlich (4) den Zinssatz. Das hat bis heute Bestand. Wichtig zu sehen ist dabei, dass die einzelnen Bestimmungsgrößen nicht unabhängig voneinander sind: Steigende Schulden können zu höheren Zinsen führen, was negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und auf die Staatsausgaben hat, die vom Schuldendienst aufgefressen werden.

    Hätte man Domars Sorgen ernst genommen, hätte es nahegelegen, schon früher eine Schuldenbremse in die Verfassungen zu schreiben. Seit der Nachkriegszeit sind die Schulden nahezu aller Länder gestiegen, in Deutschland von knapp zwanzig Prozent in den fünfziger Jahren auf über achtzig Prozent nach der Jahrtausendwende. Mit Einführung der Schuldenbremse wurde der Bann gebrochen. Die »Last der Schulden« verringerte sich bis zum Jahr 2019, also vor Corona, auf knapp sechzig Prozent der Wirtschaftsleistung, womit sie wieder im Einklang waren mit den Anforderungen des Maastricht-Vertrags.

    Corona verdirbt die Sitten

    Der Clou der Schuldenbremse besteht darin, dass sie der Politik die willkürliche Verfügungsmacht über die Staatsverschuldung entzieht und sie an Regeln bindet, die, da in der Verfassung verankert, von jeder Regierung befolgt werden müssen. Das Prinzip ist wichtiger als die konkrete Ausgestaltung. Derzeit ist ein jährliches Defizit erlaubt von 0,35 Prozent des BIP. Etwas raffinierter wäre es, die Begrenzung der Neuverschuldung an steigende Zinsen zu binden, wie es der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker vorschlägt: Je höher der Zins, umso geringer die erlaubte Neuverschuldung. Denn sonst ist es um die Tragfähigkeit der Schulden rasch geschehen; Staatspleiten drohen. Gottgegeben sind niedrige Zins-Wachstums-Verhältnisse nämlich nicht: Historisch folgten auf Phasen negativer Zins-Wachstums-Differenzen Zeiträume, in denen die Zinsen deutlich über dem realen BIP-Wachstum lagen.

    Das alles klingt plausibel und war auch bis vor kurzem vielfach Konsens. Doch richtig gepasst hat der Politik die Schuldenfessel noch nie. Mit Schulden können sie, anders als mit höheren Steuern, den Bürgern Wohltaten bescheren, ohne dass es weh tut. Blumig sprechen sie von einer »Entlastung« für die Zukunft. »Wir dürfen die Erde nicht tot sparen«, heißt eine meiner Lieblingsformulierungen von Umweltministerin Svenja Schulze. Auch viele Ökonomen plädieren inzwischen für ein Zurück zur sogenannten »Goldenen Regel«, die qua Verfassung früher einzuhalten war: Erlaubt war das Schuldenmachen für Investitionen, die einen Nutzen für künftige Generationen haben. Ein ziemlicher Gummiparagraf: Was Investitionen sind, ist nebulös: Der Bau von Straßen gilt als Investition (auch wenn es die Brücke ins Niemandsland ist). Die Finanzierung von Schulunterricht dagegen fällt unter die Kategorie »Konsum«.

    Zwar will immer noch die Mehrheit der deutschen Finanzwissenschaftler an der Schuldenbremse festhalten, wie die Sonntagszeitung vergangene Woche erfragt hat. Doch die Gegner finden immer mehr Gehör bei der Politik. Jetzt bietet es sich an, mit der Keule Corona die Schuldenbremse aus der Verfassung zu verbannen. Dass diese Meinung inzwischen auch im Kanzleramt vertreten wird, quasi als Morgengabe für die Koalition der Union mit den Grünen, ist beunruhigend. Übersehen wird dabei der Umstand, dass es gerade ein Erfolg der Schuldenbremse war, dass Deutschland fiskalisch während Corona so stark dasteht.

    Corona verdirbt die Sitten. Wenn es ernst wird, ändert man die Regeln, die doch gerade für den Ernstfall gedacht waren. Und wenn es noch standhafte Ökonomen gibt, wie Lars Feld, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, der die Schuldenbremse mannhaft verteidigt, dann droht man solch unabhängigen Beratern mit seiner Entlassung, betrieben von der SPD und schein-unschuldig von der Union beobachtet. Dass die Partei Ludwig Erhards bereit ist, einen Ökonomen wie Lars Feld, weil »zu liberal«, in die Wüste zu schicken, kann man einfach nur schäbig nennen.

    Rainer Hank